Dämonen der Jugend
Bovenmeer ist ein kleines Dorf in Flandern. Von außen betrachtet, erscheint es wie eine schutzbedürftige und schützenswerte Idylle, ein Mikrokosmos aus Kühen, Katholizismus, nachbarschaftlicher Nähe. Wer dort lebt, wird jedoch beklagen, dass Ödnis und Langeweile die Tage beherrschen und die wechselseitige Kontrolle der wenigen Einwohner unangenehm werden kann.
Leider entgeht den Dörflern mehr, als wünschenswert wäre. Sonst wäre Eva de Wolf vielleicht das entsetzliche Schicksal erspart geblieben, das die 1988 in Flandern geborene Autorin Lize Spit in ihrem Debütroman »Het Smelt« erzählt. Der hat nach seinem Erscheinen 2016 in Belgien Furore gemacht und Preise eingeheimst. Dessen ungeachtet handelt es sich dabei um eine außerordentlich nervzehrende, aufwühlende und diskussionswürdige Lektüre (übersetzt von Helga van Beuningen). Wegen der Drastik seiner Handlung (nicht so sehr der Formulierungen) muss man sich auf starken Tobak einstellen.
Gleich die ominöse Anfangsszene stimmt den Leser auf Skurriles, Makabres und Morbides ein. Der Schauplatz ist die Werkstatt von Evas Vater. Seit Jahren hortet er hier Werbegeschenke, Sonderangebote, Nutzloses, Müll. In dieses Messie-Chaos nimmt er eines Tages seine vierzehnjährige Tochter mit und zeigt ihr eine Schlinge, die am obersten Dachbalken baumelt. Er erklärt ihr genau, wie und warum so etwas richtig zu knüpfen sei, fragt dann unvermittelt: »Du denkst genau wie deine Mutter, dass dieser alte Trottel nie ernst meint, was er sagt, ... nicht den Mut dazu hat?«, steigt die Leiter empor, legt die Schlinge um seinen Hals, rät der Tochter beiläufig, sie müsse »mal was mit [ihrer] Frisur machen«, klettert dann wieder herunter und verkündet: »Du bist die Einzige, die jetzt im Bilde ist. Selbst deine Mutter weiß hiervon nichts. Das soll auch so bleiben.« Derweil hat die Tochter brav mitgedacht, die Leiter gesichert und über dies und das sinniert. Schockiert ist niemand.
Denn Eva ist allerhand gewöhnt. Über Möglichkeiten, sich umzubringen, grübeln die Eltern permanent, sofern sie nicht gerade vom Alkohol umnachtet sind.
In dieser eiskalten Welt, aus der Trost und Anteilnahme längst geflohen sind, wachsen drei Kinder auf. 1985 wurden Zwillinge als Frühchen geboren, doch nur Jolan überlebte die Geburt. Als er drei Jahre später den Brutkasten verlassen durfte, kam Eva auf die Welt. 1991 folgte die zarte Tesje, von allen »Scheißerle« gerufen, seit ihre Mutter der Zweijährigen diesen taktlos-demütigenden Kosenamen verlieh.
In der emotionalen Vernachlässigung ihres Elternhauses pflegen die Kinder seltsame Verhaltensweisen. Jolan beschäftigt sich tagelang mit toten Insekten. Tesje magert bis an die Grenze zum Hungertod ab und entwickelt Zwangsneurosen wie exakt einzuhaltende Schrittabfolgen beim Treppensteigen und Reinigungsrituale.
Eva fällt es schwer, sich mit ihrem burschikosen Aussehen im Kreis der Grundschülerinnen zu integrieren. Lieber sucht sie Anschluss bei den einzigen Jungen im Dorf, dem Metzgersohn Laurens und dem Bauernsohn Pim, aber auch diese Beziehung steht immer unter Vorbehalten. Eva dient sich an, indem sie den beiden zum Beispiel verrät, dass ihre Lehrerin eine Lesbe ist. Wenn die drei auf ihren Rädern durch Feld, Wald und Flur stromern, sind sie frei und aller Restriktionen enthoben. Welch ekligen Schabernack die Jungen dann treiben, beobachtet Eva mit Abscheu, doch sie davon abzuhalten würde ihre Rolle überfordern.
Bald wendet sich das Interesse nach innen. An die Stelle der Dumme-Jungen-Streiche tritt »Wahrheit oder Pflicht«, die Kinder entdecken ihre Sexualität. Während sich Eva beschämt zurückhält, treiben Laurens und Pim das anfangs harmlose Spiel forsch voran, bis daraus ein perfider, erpresserischer Plan entsteht. Nach und nach laden die drei ihre Klassenkameradinnen in ein geheimes Versteck ein, wo sie durch kluges Fragen ein Rätsel lösen müssen. Doch Evas Aufgaben kann niemand lösen. Nach jeder falschen Frage muss ein Kleidungsstück fallen, so dass die Mädchen am Ende unweigerlich nackt und schutzlos den gierigen, kalt taxierenden Blicken der Jungen ausgesetzt sind, bis sie entnervt ihre Kleiderbündel packen und die Flucht ergreifen. Als sich eines der Opfer zu wehren weiß, eskaliert die Situation zu einer unsäglich grausamen, niederträchtigen und entwürdigenden Schändung.
Dass Verrohung und Gewalt zunehmen, Hemmungen fallen, Grenzen überschritten werden, spüren wir von Beginn an. Doch nach den befremdlichen Anfangsszenen tauchen wir für eine Weile in die abgeschottete Bauernidylle ein, die nur durch den in immer schrecklicheren Variationen weitergereichten Tratsch Belebung findet. Erst nach etwa zweihundert Seiten beginnt das grauenvoll Böse in die Handlung hineinzutröpfeln. Eher am Rande erfahren wir, dass auch der Tod nicht Halt macht vor Bovenmeer.
Die Romanhandlung beginnt im Jahr 2015. Eva ist 27 Jahre alt, lebt schon ebenso lang in Brüssel, wie sie in ihrem Heimatdorf zugebracht hatte, und nichts und niemand konnte sie seitdem dorthin zurücklocken. Da erreicht sie eine merkwürdige Einladung. Pim, Wegbegleiter aus Kinder- und Jugendtagen, lädt zu einer Silvesterparty ein, die auch dem dreißigsten Geburtstag seines genau vierzehn Jahre zuvor verstorbenen Bruders Jan gelten soll. Eva findet, dass die Zeit reif sei und die Feier einen passenden Anlass biete, um alte Rechnungen zu begleichen.
Evas Autofahrt von Brüssel nach Bovenmeer gibt dem Roman die Grobstruktur. Sie erinnert sich an ihre Jahre im Dorf, an das unerträgliche Familienleben, an den Sommer 2002, dessen erbarmungslose, grauenerregende Ereignisse ein schier unbeschreibliches Ende nahmen. Während sie fährt und resümiert, sammelt der Leser immer neue Schrecken, türmen sich haarsträubende Textpassagen, lässt die Nervenanspannung gar nicht mehr nach, strebt alles auf den Kulminationspunkt zu. Parallel zu dieser Steigerung schmilzt der große Eisblock, den Eva in einer Kühlbox auf dem Rücksitz ihres Autos mitführt.
Was und wie Lize Spit erzählt, wird die Schamgrenzen vieler Leser überschreiten. Nach meinen persönlichen Präferenzen habe ich mir oft gewünscht, die Autorin hätte allein über Andeutungen mein Kopfkino in Aufruhr gebracht. Ich muss aber einräumen, dass ich die Beschreibungen der drastischen sexuellen Handlungen nicht als pornografisch empfunden habe. Betrachtet man die Initiationsgeschichte als Ganzes, bekommen diese Passagen eine vertretbare Funktion. Im Übrigen beweist die Autorin außergewöhnliches sprachliches und gestalterisches Geschick. Wie sie zwischen den Zeitebenen hin- und herspringt, lang ersehnte Informationen tröpfchenweise bereitstellt, die Spannung kontinuierlich hoch hält, nie gelesene Überlegungen einflicht, das ist gekonnt: »Jedes Leben ist lediglich eine Summe aus Zahlen, doch nur wenige schaffen es, Buch zu führen, rechtzeitig mit Zählen anzufangen. Diejenigen, die es versuchen, werden krank oder verrückt ... Ihr Leben ist keine Summe, sondern eine Differenz, sie bringen sich selbst auf null.«