In Flammen
von Megha Majumdar
Eine junge Inderin aus der Unterschicht kann sich mühsam einen bescheidenen Aufstieg erarbeiten, bis ein Staatssystem, das nicht einmal die einfachsten Regeln für Gerechtigkeit und Ordnung aufrecht hält, ihr gesamtes Leben zunichte zu machen droht.
Ein falscher Schritt zur falschen Zeit am falschen Ort
Jivan und ihre Eltern sind strebsam und fleißig, aber trotzdem bitterarm und kommen auf keinen grünen Zweig. Sie haben auf den Kohleminenfeldern gearbeitet, bis sie durch einen brutalen Polizeieinsatz vertrieben wurden. Im berüchtigten »Kolabagan-Slum« hinter einer riesigen Müllkippe finden sie eine neue Bleibe, eine Einraum-Hütte mit zwei Ziegelmauern und zwei Wänden aus Blech und Planen. Hier will Jivan nicht enden. Unermüdlich rackert sie sich ab und nutzt jede Chance, die sich ihr bietet.
Mit zwanzig hat sie eine leitende Stelle in einem Kaufhaus errungen. Sie ist stolz auf ihre Karriere »vom Kohlfresser … zum Hühnchenfresser« und genießt die Anerkennung, die ihr jetzt als »arbeitende Frau« von allen entgegengebracht wird. Freude bereitet ihr ein auf Raten gekauftes Smartphone – Statussymbol und Verbindung mit der großen weiten Welt. Besonders fasziniert ist sie von der Facebook-Plattform, wo Menschen persönliche Videos veröffentlichen, damit wildfremde Betrachter sie »liken«, und alle furchtlos niederschreiben können, was immer sie bewegt. »Sie hatten keine Angst davor, Witze zu machen. Ob auf Kosten der Polizei oder der Politiker, sie gönnten sich ihren Spaß, und war nicht genau das Freiheit?«
Genau diese naiv-oberflächliche Auffassung führt Jivan ins Verderben. Als sie sich eines dunklen Abends zufällig in Bahnhofsnähe befindet, verüben Terroristen einen Anschlag auf einen Zug. Im Chaos der lodernden Flammen und dichten Rauchschwaden kann Jivan kaum eine Person ausmachen, weder Opfer noch Täter. Über hundert Menschen sterben. Zu Hause verfolgt sie interessiert, wie auf Facebook die Posts zum Terroranschlag hereinprasseln, darunter auch viel Kritik an der Regierung, die viel verspricht, doch im Endeffekt kaum etwas unternimmt. Mitgerissen von ihrer Begeisterung über die vermeintliche Meinungsfreiheit und die Vielzahl zustimmender »Likes« veröffentlicht sie einen eigenen Text: »Wenn die Polizei einfachen Leuten wie euch und mir nicht geholfen hat, wenn die Polizei zugesehen hat, wie diese Menschen starben, heißt das dann nicht, dass die Regierung ebenfalls ein Terrorist ist?«
Umgehend und unbarmherzig schlägt nun die Staatsmaschinerie zu. Jivan wird verhaftet. Zeugen behaupten, sie in der Nähe des Tatorts mit einem Bündel in der Hand gesehen zu haben. Die Polizei findet in ihrem Smartphone einen Facebook-Chatverlauf, »in dem Sie sich mit dem Anwerber der Terroristen schreiben«. Bald sieht sich diese vollständig unbescholtene junge Frau des schlimmsten Verbrechens »gegen die Nation« und der Volksverhetzung angeklagt. Ihr droht nicht weniger als die Todesstrafe.
In klarem, einprägsamem Sprachstil erzählt die junge indische Autorin Megha Majumdar die tristen Vorgänge um die Muslima Jivan, die wegen eines lächerlichen Statements in den sogenannten Social Media in das Räderwerk einer willkürlich agierenden Gerichtsbarkeit gerät und zermahlen zu werden droht. Die Erzählstimme der inhaftierten Protagonistin wechselt mit denen der zwei Entlastungszeugen Lovely und Sir. Doch kann sie sich wirklich darauf verlassen, dass sich diese beiden bei der Gerichtsverhandlung zu ihren Gunsten engagieren werden?
Sir ist Sportlehrer und schätzt seine begabte ehemalige Schülerin, die ihre Schulzeit vorzeitig beendete, als fleißig und intelligent. Mittlerweile hat er freilich den Schuldienst verlassen, um in einer muslimfeindlichen Hindu-Partei Karriere zu machen.
Lovely führt selbst ein bemitleidenswertes Dasein. Als transsexuelle Muslima (»Hijra«) ist sie gesellschaftlich ausgestoßen. Wie ihre Schicksalsgenossinnen hält sie sich mit den Almosen am Leben, die sie zugesteckt bekommen, wenn sie als Glücksbringer bei Hochzeiten, Geburten oder Hauseinweihungen bis zur Erschöpfung tanzen und Eheleute, das Neugeborene oder das Haus segnen. Aber Lovely spart besonders eisern, denn sie möchte unbedingt ein Filmstar werden. Dazu muss sie Schauspielunterricht nehmen, vor allem aber die Grundvoraussetzung erfüllen, gutes Englisch zu erlernen. Ab und zu erteilt ihr Jivan unentgeltlich ein wenig Sprachunterricht. Wenn die Presse nun darüber berichtet, dass Lovely Kontakt zu einer Terroristin hat, kann sie ihren Traum vergessen, und ihr Lebensweg wird noch steiniger werden.
Immerhin wird Jivan ein Verteidiger zur Seite gestellt, und sie setzt auch ein Fünkchen Hoffnung auf ihn. Doch mehr Engagement als seiner Mandantin gelegentlich einen Besuch abzustatten bringt er nicht auf. Kann man es ihm verdenken, wenn er Präferenzen setzt? Mehr als arbeiten kann der Anwalt nicht, und seine begrenzte Arbeitszeit ist zu kostbar, um sie in einen aussichtslosen Fall wie den einer bereits vorverurteilten armen Muslima zu investieren.
Neue Hoffnung fasst Jivan, als sich ein Journalist für die Lebensgeschichte der Inhaftierten interessiert. Wenn eine große Tageszeitung die wahre Geschichte über den ehrbaren Lebenslauf, über Vertreibung, Armut und Krankheit ihrer Familie unter die Leute bringt, werden sich gewiss Initiativen für ihre Freilassung stark machen. Denn wer kann unbeeindruckt davon bleiben, dass das intelligente Mädchen Jivan die Schule aufgibt, um mit ihrem kleinen Verdienst Vater, Mutter und sich selbst über Wasser zu halten, und schwer arbeitet, um den Eltern teure Medikamente und Arztbesuche zu ermöglichen?
Wie zu befürchten, platzt die Illusion wie eine Seifenblase. Die Story geht, angefangen mit einer reißerischen Schlagzeile (»Eine Terroristin erzählt ihre Lebensgeschichte. Ich habe Bomben auf die Polizei geworfen«), in die entgegengesetzte Richtung ab. »Die Öffentlichkeit will Blut. Die Medien wollen ihren Tod«. Die Zeitung will Auflage und Einnahmen. Niemand will die traurige Wahrheit.
Zwar ist der Handlungsgang von Megha Majumdars Gerichts- und Politthriller vorhersehbar, aber der Roman schildert eindringlich die kaum vorstellbaren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der komplexen, traditionell segmentierten Gesellschaft Indiens. Die Existenz des Einzelnen ist starr determiniert durch seine Religionszugehörigkeit und das hierarchische Kastensystem, und unter beidem leiden die Muslime besonders. Einige drastische Szenen bereiten uns Lesern geradezu brennende Schmerzen. Wie es in einem indischen Gefängnis zugeht, können wir durch Jivans Berichte hautnah nachvollziehen, und was die »Hijras« an Demütigung, Diskriminierung und Missbrauch ertragen müssen, schildert uns Lovely. »Ganz ohne Grund … kippt dir jemand Säure ins Gesicht«, doch so eine Grausamkeit bei der Polizei anzuzeigen, wird als »Belästigung« empfunden und mit Arrest geahndet – Arrest für das Opfer wohlgemerkt.
Wie tief der Hass sitzt und die Menschen verroht, erfahren wir am Beispiel der »Riot Economy«: Irgendwelche Gerüchte genügen, um »gute Leute« aufzuwiegeln, dass sie ihre muslimischen Nachbarn überfallen und ihre Häuser anzünden. Schon ist ein hilfreicher Makler zur Stelle und verkauft den heimat- und obdachlos Gewordenen im Flüchtlingslager, die nun ein bisschen staatliche Unterstützung erhalten, ein Grundstück, wo sie auf mehr Sicherheit hoffen können. Leider entpuppt es sich als Sumpfgebiet, und der einzige, der aus diesem Deal Profit zieht, ist der Makler.
Nach der Lektüre von Megha Majumdars aufwühlendem Roman »A Burning« (von Yvonne Eglinger übersetzt) hat man den Eindruck, dass weder die Menschen noch die Regierenden ihr Handeln an Wahrheitsfindung und Menschlichkeit ausrichten. Die Letzten – die auf der untersten Ebene der Gesellschaft – beißen die Hunde, und das sind arme ungebildete muslimische Frauen. Sie zählen weniger als nichts.