Rezension zu »Der Fallmeister – Eine kurze Geschichte vom Töten« von Christoph Ransmayr

Der Fallmeister – Eine kurze Geschichte vom Töten

von


Fünf Menschen ertrinken, als ihr Boot in einer tosenden Wasserrinne außer Kontrolle gerät. Hat der Schleusenwärter versagt oder gar gemordet? Genau ein Jahr danach stürzt er sich selbst in die Fluten. Sein Sohn, ein weltweit tätiger Hydrotechniker, nimmt die Suche nach der Wahrheit auf.
Belletristik · Fischer · · 224 S. · ISBN 9783100022882
Sprache: de · Herkunft: de

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.
Gebundene Ausgabe E-Book Hörbuch CD

Rückkehr zu den Quellen

Rezension vom 13.01.2022 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Motive, einen Mord zu begehen, haben Schrift­steller schon viele bear­beitet – Habgier, Eifer­sucht, Rache, Macht­besessen­heit, wir kennen alle Varianten. Ebenso die Methoden zu töten – erwürgen, erstechen, erschie­ßen, vergiften … Für den Titel­helden seines neuesten Romans hat Christoph Ransmayer eine origi­nelle Art Fern­steue­rung ersonnen, mittels derer er gleich mehrere Mit­menschen umbringt. Er berührt »dabei kein einziges seiner Opfer oder sah ihm auch nur in die Augen, sondern flutete über eine Reihe blanker Stahl­winden eine der Fluß­schif­fahrt dienende Boots­gasse.« Auf diese distan­zierte Weise, konsta­tiert gleich der erste Satz mit einem Pauken­schlag, hat »mein Vater […] fünf Menschen getötet«.

»Mein Vater« – das ist ein namenloser Schleusen­wärter in einer fiktiven Alpen­land­schaft, die unschwer als die Heimat des Autors, das Salz­kammer­gut zu erkennen ist. Hier verfrach­teten die Menschen über Jahr­hunderte das in Hallstatt gewonnene kostbare Salz auf der Traun nach Norden, bis diese bei Linz in die Donau mündet. Um den Wasser­fall bei Roitham umschif­fen zu können, legte man dort eine raffi­nierte Serie hölzer­ner Rinnen (soge­nannte Boots­gassen) mit beherrsch­barem Gefälle und Schleusen an, die von hoch­geach­teten Spezia­listen mit dem Berufs- und Ehren­titel »Fall­meister« betrieben, überwacht und instand­gehalten wurden. Lebens­gefähr­lich blieb die Passage auf den hinunter­schießen­den Wassern allemal, wie die Chroniken berichten.

So zweifelt niemand daran, dass das im Roman erzählte Ereignis am »Großen Fall« (so die Bezeich­nung im Roman) ein tragi­scher Unfall ist – ausge­rechnet am Festtag des heiligen Nepomuk, der doch Schutz­heili­ger all derer ist, die mit jeglicher Gefahr des Wassers zu tun haben. Zwölf Aus­flügler lassen sich des Spaßes halber in einem der flach­bodigen Lang­boote vom schnell strö­menden Wasser die Schuss­rinne hinab­treiben, als das Gefährt außer Kontrolle gerät und in den Strudeln des Beckens, wo sich der Um­gehungs­kanal wieder mit dem »Weißen Fluß« vereint, zer­schellt.

Niemand äußert den Verdacht, der Fall­meister habe seine Pflicht vernach­lässigt – im Gegenteil: Ist nicht auch dieser gewissen­hafte Mann ein Opfer der Katas­trophe? Dass er genau am Nepo­muks­tag des nachfol­genden Jahres selbst auf den Wasser­fall zutreibt, regungs­los im Angesicht des Todes, bezeugt doch seine Seelen­pein. Dessen unge­achtet ist sein Sohn von Anfang an überzeugt, dass der Vater die todbrin­gende Flutwelle in der Boots­gasse mit Absicht ausgelöst hat, und noch nach Jahren der Nach­forschun­gen und welt­weiter Erfah­rungen hält er an seiner Behaup­tung fest.

Wer war dieser Vater, dass man ihn als Ehrenmann achten und als kalt­herzigen Mörder einschät­zen konnte? Und wenn er gemordet hat: Was war sein Motiv? Wir sehen ihn nur durch die Augen des Ich-Erzählers, des ebenfalls namen­losen Sohnes, und der be­schreibt ihn als dispa­raten, ambi­valenten Charakter: mal liebevoll, mal despo­tisch strafend, mal begeis­terungs­fähig, mal in sich gekehrt und schweig­sam, oft jäh­zornig. Seine fachliche Kompetenz ver­schafft ihm Anerken­nung und Respekt, und so ernennt man ihn zum »Fall­meister« in seinem Heimat­distrikt, der »Graf­schaft Bandon«. Doch das Bauwerk am Wasser­fall, seit Jahr­hunder­ten nicht mehr benötigt, ist nur noch eine weit­läufige Museums­anlage und der ehrwür­dige »Fall­meister« ihr Kurator, der die imposante Anlage zu gegebenen Anlässen voller Stolz vorführt. Die Aufgabe ent­spricht voll und ganz dem Naturell des Vaters, der sich immer entschie­dener der Vergan­genheit zuwendet, »in der alles vertraut erschien«, und dabei mit der Zeit derart verhärtet, dass er »mit einem unstill­baren Hass auf die Gegenwart« schaut.

Vermittelt wird uns diese eigen­tümliche Stimmung, die nichts mit Nostalgie zu tun hat, durch Ransmayrs berücken­den, bild­starken Sprach­stil, die elemen­tare Wucht der erzählten Ereig­nisse, die unver­änder­lich schei­nende, archaisch anmutende Natur­land­schaft, die der kleine Mensch trotz seiner Geschick­lich­keit nicht zähmen kann. All dies versetzt uns beim Lesen selbst in einen Zustand schwe­bender Zeit­losig­keit. Aus der Stimmig­keit des allge­meinen Bildes, das aus einem früheren Jahr­hundert stammen könnte, fallen die Ausfüh­rungen des Sohnes zu seinen globalen Wasser­baupro­jekten wie Fremd­körper, öffnen uns aber die Augen, dass die Distanz nur eine Genera­tion ausmachen kann.

Wasser ist das tragende Element des Romans, schwer zu fassen und schwer zu bändigen. Es bestimmt auch das Leben des Sohnes, der als hoch­qualifi­zierter Hydro­techni­ker durch die Konzep­tion und Errich­tung neu­artiger Kraft­werks­systeme an den großen Flüssen der Welt die Geschicke ganzer Sub­konti­nente beein­flusst. Indem wir seinen Aktivi­täten über die Jahre folgen, lassen wir die Epoche der alten Fall­meister weit hinter uns, überholen auch unsere Jetztzeit und finden uns in einer ungefähr zwei­hundert Jahre entfern­ten Zukunft. Die Polkappen sind ge­schmol­zen, die Meeres­spiegel gestiegen. »Seit dem Ende der Epoche fossiler Energien« ist Wasser zum wert­vollsten Gut der Welt geworden, um das immer wieder »Wasser­kriege« und ethnische Konflikte aus­brechen. Die politi­schen Gewichte haben sich von West nach Ost verlagert, und Europa ist in be­deutungs­lose, selbst­gefällige Klein­staaten zerfallen, die ihr Heil in der Rückkehr zu uralten Mythen und Begriffen suchen (daher »Herzogtum«, »Graf­schaft«, Eindeut­schungen, Tilgung der Recht­schreib­reform). Alle Ressour­cen, Macht und Rechte haben sich derweil globale Konzerne, Netzwerke von Syndi­katen und immer reicher werdende Eliten ange­eignet, die kein Gesetz­geber mehr ein­grenzen kann, und kostbare Frei­heiten wie das Passieren von Grenzen stehen nur der »Kaste neuer Aristo­kraten« zu. Zu ihr gehören die Hydro­techni­ker.

Man kann nachvollziehen, dass der Vater all diese Entwick­lungen verachtet, ja hasst. Die zivili­satori­schen Rück­schritte tangieren seine Existenz ganz unmit­telbar, wenn etwa seine Ehefrau in Folge ethni­scher »Säube­rungen« in ihre adriati­sche Heimat depor­tiert wird. Verständ­lich, dass er »seiner Gegenwart entkommen und zurück in den Glanz der Ver­gangen­heit [will], um wieder zu dem zu werden, was die Fall­meister vergan­gener Jahr­hunderte mit ihrer Kunst gewesen waren, den Weißen Fluß zu beherr­schen: Herren über Leben und Tod«. Dafür, so räson­niert sein Sohn, scheint ihm ein »Menschen­opfer … am Nepo­muks­tag« wohl ange­messen.

Ransmayr spielt mit Elementen diverser Genres. Sein Buch ist eine Familien-, eine Liebes­geschichte, eine Dystopie, ein Krimi und nicht zuletzt ein bunter Aben­teuer­roman aus exoti­schen Welt­gegenden. Die Schilde­rungen etwa vom drei­tägigen »Wasser­fest«, das man im König­reich Kam­bodscha derart rausch­haft feiert, dass es sogar »die Erinne­rung an die Schreckens­herr­schaft der Weißen Khmer besänf­tigt«, sind mit­reißend. Die Menschen bejubeln das Ende des Monsuns und das spekta­kuläre Natur­phäno­men der »Strömungs­umkehr« an einem Neben­fluss des Mekong. Abhängig von den Regen­zeiten ändert er seine Fließ­richtung. Wie der Fluss zu seinem Ursprung zurück­strebt, wird im Roman zur Metapher für »Zeitum­kehrung«.

Im Angesicht einer verabscheuten Gegen­wart wendet sich der Blick zurück auf die Glorie der Ver­gangen­heit, selbst wenn sie durch Jahr­hunderte verfins­tert ist. So suchten die kam­bodscha­nischen Khmer die Zeit mit Gewalt umzu­drehen, so ruderte der »Fall­meister« in der Zeit zurück, »bereit […], jedes Wesen der Gegenwart auszu­löschen«, »gegen den Strom musste dann jener Weg führen«, und dabei zerreißt die dünne »Membran zwischen einem mensch­lichen Dasein und der Bestia­lität«.

Kann diese Theorie uns überzeugen? Das muss sie nicht. Wir wissen ja, dass sie der Erzähler vorbringt, und wir haben erfahren, dass der selbst sein Päckchen zu tragen hat. Bei ihm hallen immer wieder intensive Erinne­rungen an die tief prä­genden Erleb­nisse mit seiner Schwester Mira nach, mit der ihn einmal eine (allzu) zärtliche Beziehung verband. Die unge­klärten Umstände um den Tod des Vaters lassen ihn an die Stätte der gemein­samen Kindheit zurück­kehren, wo ihn der Zauber der Erinne­rung und die Sehnsucht nach verlore­ner Zärtlich­keit ergreifen und weiter­treiben, zu ihr hin, zu ihr zurück. Mira war nach Friesland gezogen, in »die größt­mögliche Entfer­nung zum Großen Fall, zum Leben unserer Eltern […] und viel­leicht auch zu ihrem Bruder […] Sie wollte um keinen Preis dorthin zurück, niemals«. So weist sie ihn zurück, anstatt ihm eine Umarmung zu schenken.

Man kann in diesen bizarren, exzentri­schen, wendungs­reichen Roman wahrlich genuss­voll abtauchen und einfach nur die unge­wöhn­liche Sprache genießen (wiewohl sie bisweilen reichlich gestelzt wirkt und manche Satz­bauten ganze Seiten füllen). Er entführt uns in nie gedachte fantas­tische Welten, in Mythen längst vergan­gener Kulturen, in psycho­logische Abgründe und reichlich spinnerte, schwüls­tige Liebes­duseleien. Erstaun­lich, wie sich mit den deprimie­renden dystopi­schen Visionen einer gar nicht so irrealen Zukunft dann doch eine nostal­gische Stimmung einstellt.


Weitere Artikel zu Büchern von Christoph Ransmayr bei Bücher Rezensionen:

Rezension zu »Cox oder Der Lauf der Zeit«

go

War dieser Artikel hilfreich für Sie?

Ja Nein

Hinweis zum Datenschutz:
Um Verfälschungen durch Mehrfach-Klicks und automatische Webcrawler zu verhindern, wird Ihr Klick nicht sofort berücksichtigt, sondern erst nach Freischaltung. Zu diesem Zweck speichern wir Ihre IP und Ihr Votum unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Ja« oder »Nein« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.

Klicken Sie auf die folgenden Links, um sich bei Amazon über die Produkte zu informieren. Erst wenn Sie dort etwas kaufen, erhalte ich – ohne Mehrkosten für Sie! – eine kleine Provision. Danke für Ihre Unterstützung! Mehr dazu hier.

»Der Fallmeister – Eine kurze Geschichte vom Töten« von Christoph Ransmayr
erhalten Sie im örtlichen Buchhandel oder bei Amazon als
Gebundene Ausgabe E-Book Hörbuch CD


Kommentare

Zu »Der Fallmeister – Eine kurze Geschichte vom Töten« von Christoph Ransmayr wurde noch kein Kommentar verfasst.

Schreiben Sie hier den ersten Kommentar:
Ihre E-Mail wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Ihre Homepage wird hier nicht abgefragt. Bitte tragen Sie hier NICHTS ein.
Hinweis zum Datenschutz:
Um Missbrauch (Spam, Hetze etc.) zu verhindern, speichern wir Ihre IP und Ihre obigen Eingaben, sobald Sie sie absenden. Sie erhalten dann umgehend eine E-Mail mit einem Freischaltlink, mit dem Sie Ihren Kommentar veröffentlichen.
Die Speicherung Ihrer Daten geschieht unter Beachtung der Vorschriften der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Nähere Hinweise finden Sie in unserer Datenschutzerklärung. Indem Sie auf »Senden« klicken, erklären Sie Ihr Einverständnis mit der Verarbeitung Ihrer Daten.


Go to Top