Der Papierpalast
von Miranda Cowley Heller
Ein sommerfluffiger Unterhaltungsroman über vier Generationen, unbeschwerte Jugendjahre, eigenwillige Frauen, Patchwork-Familien, unerfüllte Träume und ein inspirierendes Ferienhaus am See.
Im Brennglas eines Tages
Am 1. August um 6.30 Uhr beginnt die Erzählung, die Elle Bishop, 50, uns vorbringt. Genau 24 Stunden später trifft sie am Ende dieses Buches eine Entscheidung, die jeden, der ihr gefolgt ist, bis tief ins Mark erschüttern wird. Auf den über vierhundert Seiten dazwischen spielt sich eine vielschichtige Handlung ab, die vier Generationen einer Familie umspannt, aber von der Ich-Erzählerin dominiert wird. Die Kapitelüberschriften geben eine grobe Gliederung vor, obwohl die fünf Teile inhaltlich wesentlich zerklüfteter sind: »Elle« – »Jonas« – »Peter« – »In diesem Sommer« – »Heute 18.30 bis 6.30«.
Eleanor Bishop (»Elle«) wurde im September 1966 geboren. Sie hat eine zwei Jahre ältere Schwester und einen kleineren Bruder. Während der Vater (Arthur) seinen Kindern warmherzige Zuneigung entgegenbringt (»Wie geht es meinem Häschen?«), ist Mutter Wallace ein sprunghaftes Wesen, eher ein Floh als ein Schmetterling. Trennungen findet sie bereichernd – »als würde man sich eine neue Garderobe zulegen«. Bald verlässt sie Arthur (als Elle drei Jahre jung ist) und hüpft nach kurzer, schmerzloser Scheidung schnell zu einem Geliebten, inklusive der Kinder. Dass ihr Nachwuchs Schaden nehmen könnte, kommt ihr nicht in den Sinn, im Gegenteil: »Scheidung tat Kindern gut«. Ein weiteres Credo ihrer persönlichen Pädagogik besagt, dass »Kinder gesehen und nicht gehört werden sollten«.
Die Wurzeln diesen eigenwilligen Wesens und der distanzierten Erziehung liegen in der Vergangenheit und sind mit dem Dingsymbol des »Papierpalastes« verknüpft. Das ist ein Sommerhaus am See in Back Woods, Cape Cod. Elles Großvater, ein mittelloser Bildhauer, hatte es geerbt und wollte es nutzen, um Nannette, seiner Gemahlin aus wohlhabendem New Yorker Bankerhaushalt, ein standesgemäßes Leben zu finanzieren. Doch bevor das verrottete Anwesen saniert war, hatte die Bankenkrise der Familie eine harte Landung auf dem Boden einer ärmlicheren Realität beschert, und die Ehe war geschieden. Immerhin konnte Nannette ihre wiedergewonnene Freiheit auf Vergnügungsreisen in Europa voll auskosten. Während sie sich mit Männern vergnügte, wuchsen ihre beiden minderjährigen Kinder – Wallace und ihr kleiner Bruder – in Hotelfoyers auf. Über Jahrzehnte entwickelt sich in schillerndsten Farben eine Patchwork-Familie, deren Kern wechselnde Ehepartner beitreten, die mehr oder weniger gern gesehenene Kinder ins Nest legen und sich nach einiger Zeit mit oder ohne diese wieder verabschieden.
Für Elle ist der »Papierpalast« ein prägender Ort, für sie mit durchaus positiven Erlebnissen verwoben. In ungebrochener Tradition verbringen Mutter Wallace und Kinder die heißen Sommer regelmäßig in dem Ensemble aus vier heruntergekommenen Hütten, mit Presspappe notdürftig bewohnbar gehalten, und halten Hof mit wechselnden Gästen, neuen Partnern und deren Beifang. Schnell schließt Elle dicke Freundschaft mit dem Nachbarjungen Jonas, und mit ihm werden die Sommerferien zu einer Zeit ungezügelter Freiheit. Ganz sich selbst überlassen, genießen die beiden die freie Natur, baden nackt im See, laufen barfuß durch Wald und Flur. Von Anfang an spüren sie, dass sie füreinander bestimmt sind, und versprechen sich lebenslange Liebe. Doch eine geheime Schuld lastet auf ihnen und verhindert eine gemeinsame Zukunft. Stattdessen gehen sie sich Jahre lang aus dem Weg.
Obwohl sowohl Elle als auch Jonas andere Partner heiraten (ohne ihnen jemals ihr Geheimnis preiszugeben), züngeln frühe Liebe und unerfüllte Begierde bei beiden tief im Innern als kleine Flämmchen weiter. So überfällt uns schon nach knapp zwei Seiten der Lektüre ein deftiges Geständnis: »Gestern Abend habe ich mit ihm gefickt, endlich .«
Denn nun ist der 1. August angebrochen, der Erzähltag, Elle weilt mit ihrem Mann Peter, ihren drei Kindern und ihrer Mutter Wallace im Ferienhaus, während Jonas mit Frau und Kindern im Nachbarhaus eingezogen ist. Wallace, mittlerweile über siebzig Jahre alt, ist immer noch eine höchst aktive, geistig gewandte und kommunikative Frau, die spitzfindige, bissige Seitenhiebe geschickt zu verteilen weiß. Den Abend verbringen die beiden Familien zusammen. Nachdem die Kinder in ihrer Schlafhütte verschwunden sind, lockert der Alkohol die Stimmung und die Zungen, man diskutiert lautstark, Jonas flüstert Elle ein »Ich liebe dich« zu, und das stürzt sie in einen Zwiespalt von Emotionen – Hass und Liebe zu Jonas, Hass und Liebe auf sich selber – und eröffnet Schlaglichter auf vage Perspektiven voller Erwartungen, Hoffnungen und Ängste: Könnte sie Peter jetzt verlassen und ihren Gefühlen nachgeben, um die nächsten Jahre mit Jonas zu leben, um alle unerfüllt gebliebenen Sehnsüchte doch noch zu erfüllen und alle über die Jahrzehnte verpassten Gelegenheiten doch noch nachzuholen? Sie steht vor der Alternative »Das eine kann ich nicht haben. Das andere habe ich nicht verdient.«
Während ein vollständiger Tag abläuft, verfolgen wir eine facettenreiche Lebensgeschichte, im Zentrum die Dreierbeziehung zwischen Elle, Jonas und Peter. Darum ranken sich unzählige Handlungsnebenstränge, in denen bedeutsame und weniger wichtige Figuren, Verwandte und Freunde für eine gewisse Zeit schicksalhaft das Geschehen beeinflussen. Uns Leser bindet Miranda Cowley Hellers Sommerroman auf gekonnte Weise fest an den komplizierten Plot. Die Fülle von Charakteren unterschiedlichster Couleur ist überzeugend gestaltet. Den umfangreichen Themenmix aus Liebe, Hass, Demütigung, Sex, Inzest, Missbrauch, Vergewaltigung, Lügen und Geheimnissen serviert sie in rasch wechselnden Situationen, wobei Stil und Vokabular von zart und einfühlsam bis drastisch und abstoßend-widerlich oszillieren. Im Mittelpunkt steht durchweg der Charakter der Protagonistin Elle, die als Kind, als Heranwachsende und als reife, begehrenswerte, attraktive Frau nichts von ihrer Faszination einbüßt.
Die Autorin weiß, wie man all das handwerklich anstellt. Ihr Name ist im US-Seriengeschäft bekannt, denn sie war Senior Vice President und Head of Drama Series bei HBO (Home Box Office) und mitverantwortlich für Erfolgsserien wie »Six Feet Under« und »Die Sopranos«. Ihr Debütroman »The Paper Palace« (jetzt von Susanne Höbel übersetzt), den eine leichte Brise mit einem Hauch von Marihuana und den längst verflüchtigten Freiheitsversprechen der Siebzigerjahre durchweht, schoss umgehend an die Spitze der Bestsellerlisten und bringt gewiss das Zeug für eine Serie oder einen Film mit.