Rezension zu »Der Papierpalast« von Miranda Cowley Heller

Der Papierpalast

von


Ein sommerfluffiger Unterhaltungsroman über vier Generationen, unbeschwerte Jugendjahre, eigenwillige Frauen, Patchwork-Familien, unerfüllte Träume und ein inspirierendes Ferienhaus am See.
Belletristik · Ullstein · · 448 S. · ISBN 9783550201370
Sprache: de · Herkunft: us

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Im Brennglas eines Tages

Rezension vom 13.08.2022 · 6 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Am 1. August um 6.30 Uhr beginnt die Erzählung, die Elle Bishop, 50, uns vorbringt. Genau 24 Stunden später trifft sie am Ende dieses Buches eine Entschei­dung, die jeden, der ihr gefolgt ist, bis tief ins Mark erschüt­tern wird. Auf den über vierhun­dert Seiten dazwi­schen spielt sich eine viel­schich­tige Handlung ab, die vier Genera­tionen einer Familie umspannt, aber von der Ich-Erzäh­lerin dominiert wird. Die Kapitel­über­schriften geben eine grobe Gliede­rung vor, obwohl die fünf Teile inhalt­lich wesent­lich zerklüf­teter sind: »Elle« – »Jonas« – »Peter« – »In diesem Sommer« – »Heute 18.30 bis 6.30«.

Eleanor Bishop (»Elle«) wurde im September 1966 geboren. Sie hat eine zwei Jahre ältere Schwester und einen kleineren Bruder. Während der Vater (Arthur) seinen Kindern warm­herzige Zuneigung entgegen­bringt (»Wie geht es meinem Häschen?«), ist Mutter Wallace ein sprung­haftes Wesen, eher ein Floh als ein Schmet­terling. Trennun­gen findet sie berei­chernd – »als würde man sich eine neue Garderobe zulegen«. Bald verlässt sie Arthur (als Elle drei Jahre jung ist) und hüpft nach kurzer, schmerz­loser Scheidung schnell zu einem Geliebten, inklusive der Kinder. Dass ihr Nachwuchs Schaden nehmen könnte, kommt ihr nicht in den Sinn, im Gegen­teil: »Scheidung tat Kindern gut«. Ein weiteres Credo ihrer persön­lichen Päda­gogik besagt, dass »Kinder gesehen und nicht gehört werden sollten«.

Die Wurzeln diesen eigenwilligen Wesens und der distanzierten Erziehung liegen in der Vergan­genheit und sind mit dem Ding­symbol des »Papier­palastes« verknüpft. Das ist ein Sommer­haus am See in Back Woods, Cape Cod. Elles Großvater, ein mittel­loser Bildhauer, hatte es geerbt und wollte es nutzen, um Nannette, seiner Gemahlin aus wohl­haben­dem New Yorker Banker­haushalt, ein standes­gemäßes Leben zu finan­zieren. Doch bevor das verrot­tete Anwesen saniert war, hatte die Banken­krise der Familie eine harte Landung auf dem Boden einer ärmli­cheren Realität beschert, und die Ehe war geschie­den. Immerhin konnte Nannette ihre wieder­gewon­nene Freiheit auf Vergnü­gungs­reisen in Europa voll auskosten. Während sie sich mit Männern vergnügte, wuchsen ihre beiden minder­jährigen Kinder – Wallace und ihr kleiner Bruder – in Hotel­foyers auf. Über Jahr­zehnte ent­wickelt sich in schil­lernd­sten Farben eine Patchwork-Familie, deren Kern wech­selnde Ehe­partner beitreten, die mehr oder weniger gern gesehe­nene Kinder ins Nest legen und sich nach einiger Zeit mit oder ohne diese wieder verab­schieden.

Für Elle ist der »Papierpalast« ein prägender Ort, für sie mit durchaus positiven Erleb­nissen verwoben. In ungebro­chener Tradition verbrin­gen Mutter Wallace und Kinder die heißen Sommer regel­mäßig in dem Ensemble aus vier herunter­gekomme­nen Hütten, mit Press­pappe notdürf­tig bewohnbar gehalten, und halten Hof mit wech­selnden Gästen, neuen Partnern und deren Beifang. Schnell schließt Elle dicke Freund­schaft mit dem Nachbar­jungen Jonas, und mit ihm werden die Sommer­ferien zu einer Zeit unge­zügel­ter Freiheit. Ganz sich selbst über­lassen, genießen die beiden die freie Natur, baden nackt im See, laufen barfuß durch Wald und Flur. Von Anfang an spüren sie, dass sie fürein­ander bestimmt sind, und ver­sprechen sich lebens­lange Liebe. Doch eine geheime Schuld lastet auf ihnen und verhin­dert eine gemein­same Zukunft. Statt­dessen gehen sie sich Jahre lang aus dem Weg.

Obwohl sowohl Elle als auch Jonas andere Partner heiraten (ohne ihnen jemals ihr Geheimnis preiszu­geben), züngeln frühe Liebe und uner­füllte Begierde bei beiden tief im Innern als kleine Flämmchen weiter. So überfällt uns schon nach knapp zwei Seiten der Lektüre ein deftiges Geständ­nis: »Gestern Abend habe ich mit ihm gefickt, endlich .«

Denn nun ist der 1. August angebrochen, der Erzähltag, Elle weilt mit ihrem Mann Peter, ihren drei Kindern und ihrer Mutter Wallace im Ferien­haus, während Jonas mit Frau und Kindern im Nachbar­haus einge­zogen ist. Wallace, mittler­weile über siebzig Jahre alt, ist immer noch eine höchst aktive, geistig gewandte und kom­munika­tive Frau, die spitz­findige, bissige Seiten­hiebe geschickt zu verteilen weiß. Den Abend verbrin­gen die beiden Familien zusammen. Nachdem die Kinder in ihrer Schlaf­hütte verschwun­den sind, lockert der Alkohol die Stimmung und die Zungen, man disku­tiert lautstark, Jonas flüstert Elle ein »Ich liebe dich« zu, und das stürzt sie in einen Zwiespalt von Emotionen – Hass und Liebe zu Jonas, Hass und Liebe auf sich selber – und eröffnet Schlag­lichter auf vage Perspek­tiven voller Erwar­tungen, Hoff­nungen und Ängste: Könnte sie Peter jetzt verlassen und ihren Gefühlen nachgeben, um die nächsten Jahre mit Jonas zu leben, um alle unerfüllt geblie­benen Sehn­süchte doch noch zu erfüllen und alle über die Jahr­zehnte verpass­ten Gelegen­heiten doch noch nachzu­holen? Sie steht vor der Alter­native »Das eine kann ich nicht haben. Das andere habe ich nicht verdient.«

Während ein vollständiger Tag abläuft, verfolgen wir eine facetten­reiche Lebens­geschichte, im Zentrum die Dreier­beziehung zwischen Elle, Jonas und Peter. Darum ranken sich unzählige Handlungs­neben­stränge, in denen bedeut­same und weniger wichtige Figuren, Verwandte und Freunde für eine gewisse Zeit schick­salhaft das Geschehen beein­flussen. Uns Leser bindet Miranda Cowley Hellers Sommer­roman auf gekonnte Weise fest an den kompli­zierten Plot. Die Fülle von Charak­teren unter­schied­lichster Couleur ist über­zeugend gestaltet. Den umfang­reichen Themen­mix aus Liebe, Hass, Demüti­gung, Sex, Inzest, Miss­brauch, Verge­walti­gung, Lügen und Geheim­nissen serviert sie in rasch wech­selnden Situa­tionen, wobei Stil und Vokabular von zart und einfühl­sam bis drastisch und abstoßend-widerlich oszil­lieren. Im Mittel­punkt steht durchweg der Charakter der Protago­nistin Elle, die als Kind, als Heran­wach­sende und als reife, begehrens­werte, attrak­tive Frau nichts von ihrer Faszi­nation einbüßt.

Die Autorin weiß, wie man all das handwerk­lich anstellt. Ihr Name ist im US-Serien­geschäft bekannt, denn sie war Senior Vice President und Head of Drama Series bei HBO (Home Box Office) und mitver­antwort­lich für Erfolgs­serien wie »Six Feet Under« und »Die Sopranos«. Ihr Debüt­roman »The Paper Palace« Miranda Cowley Heller: »The Paper Palace« bei Amazon (jetzt von Susanne Höbel übersetzt), den eine leichte Brise mit einem Hauch von Marihuana und den längst verflüch­tigten Freiheits­verspre­chen der Sieb­ziger­jahre durchweht, schoss umgehend an die Spitze der Best­seller­listen und bringt gewiss das Zeug für eine Serie oder einen Film mit.


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