Rezension zu »Der König der Favelas: Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption« von Misha Glenny

Der König der Favelas: Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption

von


Sachbuch · Tropen · · Gebunden · 409 S. · ISBN 9783608503357
Sprache: de · Herkunft: gb

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Orte der Hoffnungslosigkeit

Rezension vom 23.10.2016 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Im November 2011 wurde Antônio Francisco Bonfim Lopes verhaftet. Vier Jahre lang hatte er als Kopf eines Drogen­kartells über Rocinha, Brasi­liens größte Favela, geherrscht und war zum meist­gesuch­ten Ver­brecher des Landes aufge­stiegen. Dann musste er ins Hoch­sicher­heits­gefäng­nis Campo Grande um­ziehen. Dort durfte ihn der britische Jour­nalist Misha Glenny über zwei Jahre hin zehn Mal besuchen. Das Mate­rial, das er während 28 Inter­view-Stunden ansam­melte, verar­beitete Glenny in seinem Buch »Nemesis: One Man and the Battle for Rio« Misha Glenny: »Nemesis: One Man and the Battle for Rio« bei Amazon , das jetzt in der Über­setzung von Dieter Fuchs bei Tropen erschien. Das Sach­buch über den »König der Favelas« ist auf­schluss­reich, spannend wie ein guter Thriller und im Fazit zutiefst de­primie­rend.

Bei den Gesprächen erfuhr Misha Glenny nicht nur viel über das ›Hand­werk‹ eines Groß­krimi­nellen – das Drogen­geschäft, den Alltag der Dealer-Über­wachung und des Geld­ein­trei­bens, die Füh­rungs­auf­gaben in der Hierar­chie und der großen Security-Mann­schaft –, sondern näherte sich auch dem Menschen an. Sie sprachen über Familie, Glauben, Ver­ant­wor­tung, Gewalt, das »Über­leben in einer feind­lichen Um­gebung«. Unter­redun­gen mit den Frauen an Antônios Seite, mit Freunden, Polizei­beamten, Politi­kern und Jour­na­listen ergänzten die Eindrücke des Autors, der sogar selbst eine Zeit lang in der Favela lebte.

Rocinha liegt auf einem Hügel mitten in Rio de Janeiro. Wie viele Menschen hier ihr Leben fristen, weiß niemand genau – hundert- bis hundert­zwanzig­tausend wohl. Hier gibt es keine Elektri­zität, keine Kanali­sa­tion, keine Arbeit, aber täglich Schlä­gereien, Dieb­stähle, Raub­über­fälle, das »Ge­knatter halb­automa­tischer Waffen«. Im Süden befinden sich in un­mittel­barer Nach­bar­schaft Rios reichste Viertel: Ipanema, Leblon, Sao Conrado, Gavea. Deren verwöhnte Bewohner bedienen sich für einfache Dienst­leis­tungen gern der billigen Arbeits­kräfte, aller­dings würde keiner von ihnen das Elends­viertel betreten.

Hier wurde Antônio 1976 geboren. Armut und Chaos, Alkohol und Prügel bestimmen den fami­liären All­tag, und doch bezeich­net Antônio Rocinha als schönsten Platz auf Gottes Erde und eine Kindheit dort als »echtes Privileg«. Viel­leicht ist die nach­bar­schaft­liche Hilfs­bereit­schaft, die der zarte Knabe erlebt, der Grund für seine Ver­klärung des Schreckens­ortes, obwohl dort viele Straßen­kinder für ihr tägliches Über­leben betteln, stehlen, kämpfen müssen und oft furcht­bare Ver­un­stal­tun­gen davon­tragen. Antônio verehrt seinen Vater dafür, dass er sich um sie kümmert, ihnen das wenige, das er übrig hat, abgibt und ihn lehrt, »dass Geben etwas Gutes ist«.

Mit 23 Jahren ist Antônio längst selbst Familien­vater. Kurz vor Weih­nach­ten 1999 wird bei seiner kleinen Tochter Eduarda eine schwere, meist tödlich endende Erkran­kung diagnos­tiziert. Sein Arbeits­lohn reicht nicht aus, um die erforder­lichen Medika­mente zu kaufen, das Ersparte ist bald aufge­braucht. Hilfe ver­spricht er sich von Luciano (»Lulu«) Barbosa da Silva, dem etwa gleich­altrigen Boss des Drogen­handels in der Favela. Der bietet ihm einen Kredit, den er ab­arbeiten soll – Schmiere­steher.

Antônio ist sich des moralischen Dilemmas bewusst, vor das Lulu ihn stellt. Wie seine Freunde möchte er nichts als einer ganz normalen Arbeit nach­gehen, doch die finan­zielle Zwangs­lage drängt ihn auf die schiefe Bahn. Hätte er anders ent­schei­den können? Damit erklimmt Antônio die erste Sprosse auf der Lei­ter, die ihn binnen kurzer Zeit ganz nach oben kata­pultie­ren wird. Er sei »Faust auf dem Weg zu Mephisto­pheles«, formuliert Glenny etwas hoch­trabend.

Angeleitet von Lulu lernt Antônio rasch, wie man die Geschäfte führt. Aber im Jahr 2004 wird sein Mentor bei einer Polizei­razzia getötet. Die Regie­rung feiert ihren vermeint­lichen Sieg im Kampf gegen die Dro­gen­mafia. Doch sie hat lediglich ein Macht­vakuum geschaffen, um das sich rivali­sierende Drogen­bosse bald blutige Aus­ein­ander­setzun­gen liefern.

Wer sich durchsetzt, ist Antônio. Eineinhalb Jahre nach Lulus Tod übernimmt er dessen Position und baut seine Herrschaft über Rocinha, das »Paradies für Dealer«, das Unmengen an Geld einbringt, weiter aus. Drei­hundert Gefolgs­leute, vom einfachen Auf­passer bis zu den Furcht ein­flößenden, schwer bewaff­neten Söldnern der »Security«, sichern sein Reich. Die »Amigos dos Amigos« (»Freunde der Freunde«), eine kriminelle Bande, deren Kopf er selbst ist, terro­risieren die Favelas und befinden sich in ständigem Kampf mit der rivali­sieren­den Ver­brecher­organi­sation »Comando Vermelho« (»Rotes Kommando«), die über regel­rechte Kriegs­waffen verfügt.

Aber Schrecken und Grausamkeit sind nur die eine Seite der Medaille von Antônios Regiment. »O Nem da Rocinha« (»das Baby von Rocinha« lautet sein putziger Spitz­name) geriert sich, das Vorbild seines Vaters großzügig über­treffend, als guter Mensch der Favela. Regel­mäßig lässt er unter den Ärmsten Lebens­mittel­körbe und Medika­mente verteilen. Kinder und Jugend­liche ermahnt er – hört, hört: sich aufs Lernen zu kon­zent­rieren und sich nicht von Video­spielen ablenken zu lassen.

Den Höhepunkt seiner Karriere erreicht »o Nem« 2009. Rocinha ist einiger­maßen befriedet, die Gewalt zurück­gegan­gen. Mit seiner neuen Gemahlin, dem Partygirl Danubia, und Kindern führt er ein glamou­rö­ses, von Body­guards über­wachtes Leben in Saus und Braus. Der charis­matische, attrak­tive Don, sein Kapu­ziner­äffchen mit maßge­schnei­derter Weste und winzigem Cowboy­hut auf der Schulter, bietet dem Volk Brot und Spiele und insze­niert impo­sante Auftritte im Stil römi­scher Impera­toren, mit »Präto­rianer­garde, bewaffnet und in Formation«. »Ein cooler Typ, ich mag ihn«, befindet José Junior, ein welt­bekann­ter Afro-Reggae-Musiker, aber auch: »Es gibt keine guten Drogen­händler ... Sie sind alle schlecht – Jeder tötet.«

Die menschliche Seite des Großkriminellen lässt Misha Glenny nicht un­beein­druckt. Als er die Menschen in der Favela befragte, bekam er viel Posi­tives zu hören, als sei »o Nem« eine Art Landes­vater. Die Fama seiner Für­sorg­lich­keit ver­schaffte ihm den wohl­meinen­den Bei­namen eines »Königs der Favelas«, der die brutale Realität weg­blendet. Denn natürlich toben weiter­hin die Straßen­schlachten verfein­deter Gangs, werden Verräter massa­kriert, Mädchen in Copa­cabana-Bordelle ver­frachtet oder bereits als Neun­jährige ge­schwängert.

Doch dann wächst dem »Baby von Rocinha« das anstrengende Geschäft offenbar über den Kopf. Die Regierung verschärft ihre Kampf­ansage, setzt ein Kopf­geld auf ihn aus. Über kurz oder lang würde er ver­haftet oder getötet werden. Danubia verrät Misha Glenny, dass Antônio »den täg­lichen An­forde­rungen immer weniger gewach­sen« gewesen sei. Im November 2011 stellt er sich der Polizei. Natürlich weiß er, dass er seine Haft gelassen absitzen kann, denn das Vermögen ist beiseite geschafft, die Zukunft seiner Kinder gesichert.

Wenngleich Misha Glenny durchaus Bewunderns­wertes an der Persön­lichkeit des »Königs der Favelas« kon­statiert, lässt er sich nicht blenden. Und auf der anderen Seite – der der Hüter der Ordnung – findet er kaum weniger Er­schrecken­des. Dafür, dass Drogen- und Waffen­handel so reibungs­los und lukrativ gedei­hen, sorgen nicht zuletzt Beamte, die durch Schmier­gelder partizi­pieren. Im Übrigen setzt der Staat auf Eska­lation. Wir lesen von Folter­methoden der Militä­rischen Polizei und von einer Aktion der gefürch­teten Anti­drogen-Elite­einheit BOPE, bei der 2.500 schwerst bewaff­nete Kämpfer mit Panzern in die Favela ein­drangen. Die Über­macht löste heftige Gegen­wehr aus und ver­schärfte doch nur die Anar­chie in Rios Straßen, während das aus einer Favela vertrie­bene Drogen­kartell längst in einer anderen heimisch geworden war.

So verwirrend die Verhältnisse in Rio de Janeiro sind, wo ein Geflecht aus Kor­ruption das tragende Netz ist und klare poli­tische Leit­linien offen­kundig fehlen, so ver­wirrend ist auch Misha Glennys Buch. Der unter­schwellige Tenor ver­mittelt den Eindruck, dass es sich unter der Kon­trolle der Drogen­mafia genauso gut oder schlecht leben lasse wie unter dem frag­würdigen Schutz der Regie­rung. Eine Beur­teilung, was hier gut oder böse, nützlich oder schädlich ist, erscheint unmög­lich. Am Ende bleibt das triste Fazit, dass die erbärm­lichen sozialen Miss­stände den Menschen kaum eine andere Wahl lassen, als im krimi­nellen Milieu mitzu­mischen. »Nem ist kein Vorbild, aber er ist auch nicht der Teufel ... Hätte er eine an­ständige Aus­bildung genossen, wäre er mit Sicher­heit ein erfolg­reicher Geschäfts­mann geworden – mit keiner­lei krimi­nellen Ambi­tionen.«


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