Der König der Favelas: Brasilien zwischen Koks, Killern und Korruption
von Misha Glenny
Orte der Hoffnungslosigkeit
Im November 2011 wurde Antônio Francisco Bonfim Lopes verhaftet. Vier Jahre lang hatte er als Kopf eines Drogenkartells über Rocinha, Brasiliens größte Favela, geherrscht und war zum meistgesuchten Verbrecher des Landes aufgestiegen. Dann musste er ins Hochsicherheitsgefängnis Campo Grande umziehen. Dort durfte ihn der britische Journalist Misha Glenny über zwei Jahre hin zehn Mal besuchen. Das Material, das er während 28 Interview-Stunden ansammelte, verarbeitete Glenny in seinem Buch »Nemesis: One Man and the Battle for Rio« , das jetzt in der Übersetzung von Dieter Fuchs bei Tropen erschien. Das Sachbuch über den »König der Favelas« ist aufschlussreich, spannend wie ein guter Thriller und im Fazit zutiefst deprimierend.
Bei den Gesprächen erfuhr Misha Glenny nicht nur viel über das ›Handwerk‹ eines Großkriminellen – das Drogengeschäft, den Alltag der Dealer-Überwachung und des Geldeintreibens, die Führungsaufgaben in der Hierarchie und der großen Security-Mannschaft –, sondern näherte sich auch dem Menschen an. Sie sprachen über Familie, Glauben, Verantwortung, Gewalt, das »Überleben in einer feindlichen Umgebung«. Unterredungen mit den Frauen an Antônios Seite, mit Freunden, Polizeibeamten, Politikern und Journalisten ergänzten die Eindrücke des Autors, der sogar selbst eine Zeit lang in der Favela lebte.
Rocinha liegt auf einem Hügel mitten in Rio de Janeiro. Wie viele Menschen hier ihr Leben fristen, weiß niemand genau – hundert- bis hundertzwanzigtausend wohl. Hier gibt es keine Elektrizität, keine Kanalisation, keine Arbeit, aber täglich Schlägereien, Diebstähle, Raubüberfälle, das »Geknatter halbautomatischer Waffen«. Im Süden befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft Rios reichste Viertel: Ipanema, Leblon, Sao Conrado, Gavea. Deren verwöhnte Bewohner bedienen sich für einfache Dienstleistungen gern der billigen Arbeitskräfte, allerdings würde keiner von ihnen das Elendsviertel betreten.
Hier wurde Antônio 1976 geboren. Armut und Chaos, Alkohol und Prügel bestimmen den familiären Alltag, und doch bezeichnet Antônio Rocinha als schönsten Platz auf Gottes Erde und eine Kindheit dort als »echtes Privileg«. Vielleicht ist die nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft, die der zarte Knabe erlebt, der Grund für seine Verklärung des Schreckensortes, obwohl dort viele Straßenkinder für ihr tägliches Überleben betteln, stehlen, kämpfen müssen und oft furchtbare Verunstaltungen davontragen. Antônio verehrt seinen Vater dafür, dass er sich um sie kümmert, ihnen das wenige, das er übrig hat, abgibt und ihn lehrt, »dass Geben etwas Gutes ist«.
Mit 23 Jahren ist Antônio längst selbst Familienvater. Kurz vor Weihnachten 1999 wird bei seiner kleinen Tochter Eduarda eine schwere, meist tödlich endende Erkrankung diagnostiziert. Sein Arbeitslohn reicht nicht aus, um die erforderlichen Medikamente zu kaufen, das Ersparte ist bald aufgebraucht. Hilfe verspricht er sich von Luciano (»Lulu«) Barbosa da Silva, dem etwa gleichaltrigen Boss des Drogenhandels in der Favela. Der bietet ihm einen Kredit, den er abarbeiten soll – Schmieresteher.
Antônio ist sich des moralischen Dilemmas bewusst, vor das Lulu ihn stellt. Wie seine Freunde möchte er nichts als einer ganz normalen Arbeit nachgehen, doch die finanzielle Zwangslage drängt ihn auf die schiefe Bahn. Hätte er anders entscheiden können? Damit erklimmt Antônio die erste Sprosse auf der Leiter, die ihn binnen kurzer Zeit ganz nach oben katapultieren wird. Er sei »Faust auf dem Weg zu Mephistopheles«, formuliert Glenny etwas hochtrabend.
Angeleitet von Lulu lernt Antônio rasch, wie man die Geschäfte führt. Aber im Jahr 2004 wird sein Mentor bei einer Polizeirazzia getötet. Die Regierung feiert ihren vermeintlichen Sieg im Kampf gegen die Drogenmafia. Doch sie hat lediglich ein Machtvakuum geschaffen, um das sich rivalisierende Drogenbosse bald blutige Auseinandersetzungen liefern.
Wer sich durchsetzt, ist Antônio. Eineinhalb Jahre nach Lulus Tod übernimmt er dessen Position und baut seine Herrschaft über Rocinha, das »Paradies für Dealer«, das Unmengen an Geld einbringt, weiter aus. Dreihundert Gefolgsleute, vom einfachen Aufpasser bis zu den Furcht einflößenden, schwer bewaffneten Söldnern der »Security«, sichern sein Reich. Die »Amigos dos Amigos« (»Freunde der Freunde«), eine kriminelle Bande, deren Kopf er selbst ist, terrorisieren die Favelas und befinden sich in ständigem Kampf mit der rivalisierenden Verbrecherorganisation »Comando Vermelho« (»Rotes Kommando«), die über regelrechte Kriegswaffen verfügt.
Aber Schrecken und Grausamkeit sind nur die eine Seite der Medaille von Antônios Regiment. »O Nem da Rocinha« (»das Baby von Rocinha« lautet sein putziger Spitzname) geriert sich, das Vorbild seines Vaters großzügig übertreffend, als guter Mensch der Favela. Regelmäßig lässt er unter den Ärmsten Lebensmittelkörbe und Medikamente verteilen. Kinder und Jugendliche ermahnt er – hört, hört: sich aufs Lernen zu konzentrieren und sich nicht von Videospielen ablenken zu lassen.
Den Höhepunkt seiner Karriere erreicht »o Nem« 2009. Rocinha ist einigermaßen befriedet, die Gewalt zurückgegangen. Mit seiner neuen Gemahlin, dem Partygirl Danubia, und Kindern führt er ein glamouröses, von Bodyguards überwachtes Leben in Saus und Braus. Der charismatische, attraktive Don, sein Kapuzineräffchen mit maßgeschneiderter Weste und winzigem Cowboyhut auf der Schulter, bietet dem Volk Brot und Spiele und inszeniert imposante Auftritte im Stil römischer Imperatoren, mit »Prätorianergarde, bewaffnet und in Formation«. »Ein cooler Typ, ich mag ihn«, befindet José Junior, ein weltbekannter Afro-Reggae-Musiker, aber auch: »Es gibt keine guten Drogenhändler ... Sie sind alle schlecht – Jeder tötet.«
Die menschliche Seite des Großkriminellen lässt Misha Glenny nicht unbeeindruckt. Als er die Menschen in der Favela befragte, bekam er viel Positives zu hören, als sei »o Nem« eine Art Landesvater. Die Fama seiner Fürsorglichkeit verschaffte ihm den wohlmeinenden Beinamen eines »Königs der Favelas«, der die brutale Realität wegblendet. Denn natürlich toben weiterhin die Straßenschlachten verfeindeter Gangs, werden Verräter massakriert, Mädchen in Copacabana-Bordelle verfrachtet oder bereits als Neunjährige geschwängert.
Doch dann wächst dem »Baby von Rocinha« das anstrengende Geschäft offenbar über den Kopf. Die Regierung verschärft ihre Kampfansage, setzt ein Kopfgeld auf ihn aus. Über kurz oder lang würde er verhaftet oder getötet werden. Danubia verrät Misha Glenny, dass Antônio »den täglichen Anforderungen immer weniger gewachsen« gewesen sei. Im November 2011 stellt er sich der Polizei. Natürlich weiß er, dass er seine Haft gelassen absitzen kann, denn das Vermögen ist beiseite geschafft, die Zukunft seiner Kinder gesichert.
Wenngleich Misha Glenny durchaus Bewundernswertes an der Persönlichkeit des »Königs der Favelas« konstatiert, lässt er sich nicht blenden. Und auf der anderen Seite – der der Hüter der Ordnung – findet er kaum weniger Erschreckendes. Dafür, dass Drogen- und Waffenhandel so reibungslos und lukrativ gedeihen, sorgen nicht zuletzt Beamte, die durch Schmiergelder partizipieren. Im Übrigen setzt der Staat auf Eskalation. Wir lesen von Foltermethoden der Militärischen Polizei und von einer Aktion der gefürchteten Antidrogen-Eliteeinheit BOPE, bei der 2.500 schwerst bewaffnete Kämpfer mit Panzern in die Favela eindrangen. Die Übermacht löste heftige Gegenwehr aus und verschärfte doch nur die Anarchie in Rios Straßen, während das aus einer Favela vertriebene Drogenkartell längst in einer anderen heimisch geworden war.
So verwirrend die Verhältnisse in Rio de Janeiro sind, wo ein Geflecht aus Korruption das tragende Netz ist und klare politische Leitlinien offenkundig fehlen, so verwirrend ist auch Misha Glennys Buch. Der unterschwellige Tenor vermittelt den Eindruck, dass es sich unter der Kontrolle der Drogenmafia genauso gut oder schlecht leben lasse wie unter dem fragwürdigen Schutz der Regierung. Eine Beurteilung, was hier gut oder böse, nützlich oder schädlich ist, erscheint unmöglich. Am Ende bleibt das triste Fazit, dass die erbärmlichen sozialen Missstände den Menschen kaum eine andere Wahl lassen, als im kriminellen Milieu mitzumischen. »Nem ist kein Vorbild, aber er ist auch nicht der Teufel ... Hätte er eine anständige Ausbildung genossen, wäre er mit Sicherheit ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden – mit keinerlei kriminellen Ambitionen.«