Eine flirrende Beziehung
Kaum ein anderes Buch wurde in den letzten Jahren international so zerpflückt wie dieses, um kaum ein anderes gab es einen gröÂßeren Hype. Dazu trug auch das selbst gewählte VersteckÂspiel der Autorin bei, die vollÂständig hinter ihr Werk zurückÂtreten wollte und gerade durch diesen Akt der Demut eine Flut von InÂvestiÂgationen und SpekulaÂtionen auslöste. Erst Anfang dieses Oktobers wurde sie endgültig aus ihrer AnonyÂmität hervorÂgezerrt.
Während Ferrantes Romane in ihrer Heimat und im Ausland ziemlich einhellig gefeiert wurden (jedenÂfalls nach James Woods EmpfehÂlung im New Yorker im Januar 2013), löste »Meine geniale Freundin« in DeutschÂland zwar auch einen gehörigen Wirbel aus (befeuert durch eine fulmiÂnante MarkeÂtingÂkamÂpagne des Suhrkamp-Verlages), aber in der Kritik hielten sich Lob und MäkeÂleien merkÂwürdig die Waage. Was mag die Rezeption hierzuÂlande gebremst haben?
Das Konzept der äußeren Handlung ist einfach. Erzählt wird (in vier Bänden), wie sich die FreundÂschaft zwischen Elena Greco und Raffaella Cerullo, zwei intelliÂgenten, ambitioÂnierten und hochÂsensiblen MädÂchen aus der neaÂpolitaÂnischen ArbeiterÂschicht, entwickelt. Der erste Band umfasst ihre GrundÂschul- und weiteren AusÂbildungsÂjahre in der NachÂkriegsÂzeit bis in die SechÂzigerÂjahre, als sich Italiens WirtÂschaftsÂwunder herausÂbildete. Er schließt im sechÂzehnÂten LebensÂjahr der beiden mit großen EreigÂnissen, die auf den zweiten Band neuÂgierig machen. Da werden die Wege ausÂeinÂander gehen – Raffaella heiratet, reibt sich als ArbeiÂterin und in den engen Vorgaben italieÂnischen FamilienÂlebens auf, Elena studiert in NordÂitaÂlien, feiert Erfolge als RomanÂautorin, scheitert aber in der Liebe. Bis ins Alter bleibt die FreundÂschaft durch all die Jahre der Trennung und (im ItalieÂnischen) über 1.700 Seiten bestehen, und eine Vielzahl von NebenÂfiguren begleitet das ewige Auf und Ab. Neben den beÂeinÂdruckend facettenÂreichen CharakterÂbildern liefert Elena Ferrante in ihrer TetraÂlogie der »NeaÂpoliÂtaniÂschen Saga« (s. Bibliografie unten) auch ein umÂfassenÂdes, plastisches Panorama der sich wandelnden italieÂnischen GesellÂschaft und Neapels im BesonÂdeÂren.
Elena (»Lenuccia« oder »Lenù«) ist die Tochter eines Pförtners bei der StadtÂverÂwaltung, der Vater von Raffaella (»Lina« bzw. »Lila«) ist Schuster. Beide Kinder sind schon früh entÂschlossen, ihr ärmliches soÂziales Milieu hinter sich zu lassen, und sie haben das Zeug dazu – einen starken Willen, rasche AufÂfasÂsungsÂgabe, unerÂmüdliche EinsatzÂbereitÂschaft, hohe Intelligenz, unerÂwartete Talente. Aber sie unterÂscheiÂden sich auch in vielerÂlei Hinsicht: Lenù, die Ich-ErzähÂlerin, wirkt verbissen, erarbeitet sich die SpitzenÂposition in jedem Bereich, auf den es ihr ankommt, durch eiserne Disziplin und EntÂsagung. Lila hingegen scheint aus sich heraus wahrhaft »genial«: sehen, begreifen und beherrÂschen ist für sie eins (Interessant, wie der Buchtitel in den verschieÂdenen Sprachen dies umkreist: »L'amica geniale«, »De geniale vriendin«, »My Brilliant Friend«, »La amiga estupenda«, »L'amie prodigieuse« ...). Sie hat das größere intellekÂtuelle Potenzial, nutzt es aber leichtÂherziger, kühner. »Sie wusste, wie man Grenzen überÂschritt, ohne je wirklich die KonÂsequenÂzen dafür zu tragen.« Als könne sie ihre LeisÂtungen nach Belieben ein- oder ausÂknipsen, wirft sie nach innerÂfamiliären Querelen ihre SchulÂkarriere weg, verÂnachÂlässigt monate- und jahreÂlang geistiges Arbeiten und kann sich dann doch urplötzlich selbst AltÂgriechisch beiÂbringen, nur weil die Freundin es demÂnächst auf dem GymÂnasium studieren wird.
Die komplizierte Rivalität zwischen den beiden Mädchen ist die zentrale Triebkraft, AnnäheÂrung und EntÂfremÂdung zwischen ihnen das zentrale Thema. EinerÂseits wettÂeifern sie miteinÂander, spornen einander an, dann wieder verachten sie die andere, spielen deren ErÂrungenÂschaften herunter, ignorieren innerÂlich ihre Vorzüge – bis die VerlustÂängste sie wieder zueinÂander hin treiben. Insgesamt erscheint Lila, obwohl in ihrer körperÂlichen EntÂwickÂlung hinterÂdrein, als die Stärkere der beiden. Lenù wirkt dagegen eher unentÂschieden – eine kluge, feinÂfühlige BeobÂachterin, aber immer wieder überÂrascht von den kraftÂvollen SchachÂzügen, mit denen Lila ihr Leben zu steuern versucht. Sie räumt ein, dass Lilas Wesen auf sie abÂfärbt; zeitÂweise treibt sie die Sorge um, sie könne ihre eigene OrigiÂnalität verlieren bzw. nicht ausÂbilden.
All diese Fluktuationen breitet Elena Ferrante in unzähligen Episoden aus. Deren dramatische Kraft ist höchst unterÂschiedlich. Vieles in Realität und TraumÂwelt der Mädchen vermag durchaus zu schockieÂren. Aber bedingt durch Ferrantes Stil hinterÂlassen nur einige – die für die GesamtÂentÂwickÂlung prägenden – Szenen einen nachÂhaltigen Eindruck: der gemeinÂsame Abstieg in einen finsÂteren Keller, der Aufstieg durchs TreppenÂhaus zur Wohnung eines geÂfürchÂteten PhanÂtomÂwesens, des Mafia-Dons Achille, die erste Expedition hinaus aus dem engen StadtÂviertel (»Rione«), wo die Mädchen das Meer suchen, aber eine unÂwirkÂliche Welt voller Unrat, Schrott und Asphalt durchÂqueren, der abendÂliche Bummel der bescheiden herausÂgeputzten Teenager im Rione (später in den reichen GeschäftsÂstraßen der StadtÂmitte), ein SilÂvesterÂfeuerÂwerk mit fast tödÂlicher EskaÂlation, AusÂeinÂanderÂsetzunÂgen in den Familien, pompöse FestÂlichÂkeiten und derÂgleichen. Diese Szenen ragen wie Inseln aus einem kleinÂschrittigen, unendÂlich bild- und detailÂreiÂchen ErzählÂstrom, der nicht eine psychische Nuance der BeÂziehungsÂentÂwicklung auslässt, keinen Schatten, keine Bemerkung, keine Vermutung, keinen flüchtigen Eindruck. Das Gleichmaß minuÂtiöser ProtoÂkollieÂrungen, oftmals viele Seiten lang ohne Spitzen, kann ermüden, überÂfordern, zum diagoÂnalen Lesen verlocken.
Struktur geben wenige Leitlinien, insbesondere die Ziele der Mädchen wie die Beste in der Schule zu sein, reich zu werden (erst als RomanÂschriftÂstelleÂrinnen, später als SchuhÂfabriÂkanten), sich aus ihrem Milieu zu befreien. Mit zunehÂmenÂdem Geschichts- und PolitikÂbewusstÂsein beeinÂdrucken sie die krassen KlassenÂunterÂschiede im Rione und in ihrer Stadt stark, aber mit wechÂselndem Effekt: Mal bewundern, mal verÂachten sie Reichtum, Glamour und Macht. Obwohl all dieses OszilÂlieren im Einzelnen nachÂvollÂziehÂbar und überÂzeugend motiviert ist, wirkt die EntÂwickÂlung im Ganzen dann doch beliebig. Weil sich die ups and downs irgendÂwie alle gegenÂseitig aufheben und alles ebenso gut auch anders hätte verÂlaufen können (wie das Leben eben so spielt), gehen Elena Grecos und Raffaella Cerullos SchickÂsale dem Leser nicht unter die Haut. Man ist interesÂsiert, aber nicht fasÂziniert.
Ertragreicher fand ich, wie Elena Ferrante die Hintergründe der indiviÂduellen Biografien gestaltet. WunÂderbar, wie unter der Oberfläche des BeÂziehungsÂflirrens der Alltag im Rione, das Leben in verschieÂdenen traditioÂnell geprägten Familien, das sich wandelnde soziale BewusstÂsein, der um sich greiÂfende UnterÂnehÂmerÂgeist verÂanschauÂlicht oder zuminÂdest indirekt eingeÂspiegelt werden. Männer sind fast durchweg Machos, wie aus dem Klischee geboren. Sie sind aufÂbrausend, gewaltÂtätig, unkonÂtrolliert, charmant nur gegen junge Mädchen, ansonsten können sich nur die stärksten Frauen ihrer handÂfesten Repression widerÂsetzen. Lilas Bruder Rino durchÂläuft beispielÂhaft den üblichen WerdeÂgang: Als JugendÂlicher bewundert, unterÂstützt und beschützt er seine Schwester, doch nachdem er im KonÂkurrenzÂkampf mit dem Vater den Kürzeren zieht und schwere DemütiÂgungen einÂstecken muss, wird er zum frustrierten UnterÂdrücker alles WeibÂlichen.
Insbesondere wird der vielschichtige Charakter des Camorra-Wesens deutlich. EinerÂseits geben sich die Mafiosi edelÂmütig, großÂzügig, solidaÂrisch mit den kleinen Leuten im Rione, verteiÂdigen sie todesÂmutig, andererÂseits können sie hemmungsÂloser SelbstÂsucht verfallen, heimÂtückiÂsche Fallen stellen und zuschnapÂpen lassen, gegen Rivalen unfassÂlich brutal agieren. Quasi nebenÂbei wird begreifÂlich, wie sich das Un-System Neapel über JahrÂzehnte verÂfestigt hat. Umso erstaunÂlicher, dass ein uralter StützÂpfeiler dieses eigenÂtümlichen GemeinÂwesens und seiner MentaÂlität in Ferrantes Roman fast keine Rolle spielt: FrömmigÂkeit und die kathoÂlische Kirche.
Unzweifelhaft ist Elena Ferrante eine außerÂgewöhnÂliche SchriftÂstellerin, fähig, das komÂplizierte psychoÂloÂgische KräfteÂspiel einer Situation vollÂständig zu analyÂsieren und mit ihrem messerÂscharfen Vokabular subtil zu verbaÂlisieren. Die ÃœberÂsetzeÂrin Karin Krieger hat eine gleicherÂmaßen bewunÂdernsÂwerte Leistung erbracht, indem sie den Stil ihrer Vorlage sorgÂfältig erfasst und getreuÂlich überÂtragen hat. (Werfen Sie selbst einen verÂgleichenÂden Blick in diese beiden LeseÂproben (PDF-Format): italienisch und deutsch.) Vielleicht fehlt es aber für manchen deutschÂsprachigen Leser – warum auch immer gerade hier – an Dynamik der Gestaltung, an ausÂgeprägÂteren SpannungsÂbögen oder (bei ihm selbst) am langen Atem beim Lesen.
Bibliografie der »Neapolitanischen Saga« (alle Übersetzungen von Karin Krieger):
- »L’amica geniale« (2011)
»Meine geniale Freundin (Kindheit und frühe Jugend)« (29.08.2016) - »Storia del nuovo cognome« (2012)
»Die Geschichte eines neuen Namens« (10.01.2017) - »Storia di chi fugge e di chi resta« (2013)
»Die Geschichte der getrennten Wege« (Juli 2017) - »Storia della bambina perduta« (2014)
»Die Geschichte des verlorenen Kindes« (September 2017)