Die Goldene Legende
von Nadeem Aslam
In einem Pakistan des religiösen Fanatismus und der Intoleranz leben Moslems und Christen gleichermaßen in Angst und Unterdrückung. Nargis, eine Frau mit lebensgefährlichen Geheimnissen, sieht sich, nachdem ihr Mann Opfer einer Gewalttat wird, immer stärker in die Enge getrieben. Ihre Ziehtochter Helen lässt die Chance auf eine Zukunft in Freiheit ziehen und gerät stattdessen ins Visier der Rechtgläubigen. Imran, ein rechtzeitig geläuterter Terrorist, muss untertauchen.
Die Rechtgläubigen und die Werke des Teufels
In diesen Tagen wird der Prozess um die sogenannte »Scharia-Polizei« neu aufgerollt. Ein paar junge Muslime waren mit einer Art Uniform durch nordrhein-westfälische Städte gezogen, um ihre Altersgenossen zu einer Lebensführung gemäß islamischem Gesetz anzuhalten. Dass sie sich als »Polizei« bezeichneten, verrät ihre Denkungsweise: Sie werden Ordnung schaffen. Wer sich nicht ermahnen lässt, den werden sie zu seinem Seelenheil zwingen.
Der Schriftsteller Nadeem Aslam, 1966 in Pakistan geboren und 1980 mit seinen Eltern nach Großbritannien geflohen, führt uns in einen real existierenden Staat, in dem sich alles danach richten muss, was der Koran in seiner strengsten Auslegung vorsieht. Ob das Ergebnis Gott gefällt und alle Gläubigen dort sich das Paradies verdient haben, sei dahingestellt. Aber nach den Maßstäben vieler anderer Kulturen, Religionen und Philosophien erscheint eine Existenz unter den beschriebenen Bedingungen weder menschlich noch menschenwürdig.
Handlungsort von Aslams Roman »Die Goldene Legende« (Original: »The Golden Legend« , übersetzt von Bernhard Robben) ist die fiktionale pakistanische Großstadt Zamana. Hier leben hauptsächlich Muslims, aber auch eine christliche Minderheit.
Der Roman erzählt die Schicksale zweier exemplarischer Ehepaare: Nargis und Massud sind beide erfolgreiche Architekten und moderne, aufgeklärte, kulturell aufgeschlossene Moslems. Um ihr großes Anwesen und die Küche kümmern sich die Christen Grace und Lily, wie die meisten ihrer Glaubensbrüder in der Stadt Analphabeten und arme Schlucker, die sich mit einfachen Hilfsarbeiten durchschlagen. Ihrer intelligenten Tochter Helen können sie keine Ausbildung ermöglichen, aber ihre Arbeitgeber, selbst kinderlos, fördern sie gern und umfassend, würden ihr sogar ein Auslandsstudium ermöglichen.
Das Arrangement bewahrt den beiden Familien relative Sicherheit, ist jedoch nichts als eine winzige private Insel, die jeder Sturm hinwegfegen kann. Und welche Gewalt der Hass auf Falschgläubige freisetzt, wird deutlich, als ein Moslem, ganz im Glauben, das Rechte zu tun, die Christin Grace tötet. Dass der Täter unüblicherweise vor Gericht zitiert und sogar zu einer lebenslangen Strafe verurteilt wird, zieht Rachemorde am Richter und anderen Verantwortlichen nach sich, und der von Nargis und Massud bestellte Top-Anwalt muss samt Familie untertauchen, um sein Leben zu retten. Der Täter aber kommt schon nach knapp einem Jahr wieder frei, hat er sich doch als frommer Mann erwiesen – indem er den Koran auswendig lernte.
Um nicht noch weiter unangenehm aufzufallen, meidet das Architektenpaar die Öffentlichkeit. Lily hält sich von ihnen fern, nur Helen, inzwischen neunzehn Jahre alt, kommt nach wie vor täglich in ihr Haus, um in der Bibliothek Essays zu schreiben. Die Chance, ins Ausland zu gehen, lässt sie fahren, um ihren Vater nicht allein zu lassen.
Eine weitere schicksalhafte Wendung bringt der Auftrag, einen Neubau für die älteste Bibliothek Zamanas zu errichten. Nach dessen Fertigstellung müssen unter Massuds Verantwortung Unmengen historisch und religiös bedeutsamer Bücher vom alten zum neuen Gebäude überführt werden. Da kein Buch, in dem die Namen Allahs oder Mohammeds auftauchen, mit »Unreinem« in Berührung kommen darf, wird jedes einzelne vorsichtig von einer Hand zur nächsten weitergereicht, quer durch ein belebtes Stadtviertel. Mitten in dieser gigantischen Menschenkette kommt es plötzlich zu einem Schusswechsel, bei dem Massud tödlich verletzt wird. Die nachfolgenden Untersuchungen ziehen internationale Kreise, zum verborgenen Geben und Nehmen zwischen dem pakistanischen Geheimdienst und der CIA. Wieder kommt der Täter ungeschoren davon, weil Korruption und undurchschaubare Abmachungen Gerechtigkeit aushebeln. Nargis, die eine entscheidende Rolle spielen könnte, entzieht sich dem Druck, denn zu viel steht für sie auf dem Spiel. Selbst vor ihrem Mann hat sie stets geheimgehalten, dass sie in Wahrheit Christin ist, und damit droht sie nicht nur dem von der Regierung geschürten Christenhass zum Opfer zu fallen, sondern auch der zügellosen Mordlust von Polizisten, die sich den Eintritt ins Paradies verdienen können, indem sie Ungläubige töten.
Auch Helen gerät jetzt in den Strudel politisch motivierter Auseinandersetzungen. Sie verliebt sich in Imran, einen jungen Mann aus Kaschmir, der Himalaya-Region, um die sich Indien und Pakistan seit 1947 streiten. Er wollte sich in einem pakistanischen Terrorcamp zum Guerillakämpfer gegen das verhasste Nachbarland ausbilden lassen, besann sich aber angesichts der menschenverachtenden Ideologie eines Besseren. Als Abtrünniger lebt er in Zamana im Untergrund, wie so viele andere in dieser Stadt unter ständiger Lebensgefahr.
Denn wie der Autor in erschütternder Deutlichkeit vor Augen führt, vollziehen sich all diese Ereignisse in einer totalitären, repressiven Atmosphäre unfassbarer Intensität. Was sich als Gottesstaat sieht, ist de facto ein Terrorregime. Es sind die Regierenden und die Religionsführer selbst, die den Hass der fanatischen Gruppen gegeneinander propagandistisch aufpeitschen. Keiner ist vor Verfolgung sicher, ein Ungläubiger sowieso, aber auch ein Moslem, wenn er nicht die »richtige Sorte« Moslem ist.
Willfährige Helfer – Polizisten, Soldaten, fromme Nachbarn – sind allgegenwärtig. Wer angeschwärzt oder angezeigt wurde oder einfach nur Argwohn erregt, den drangsalieren sie. Ein ordentliches Schmiergeld kann manchmal Schlimmeres verhüten. Das infamste Instrument der Unterdrückung ist die Denunziation. Täglich wird per Lautsprecher von den Minaretten der Stadt herunter verkündet, wer gegen irgend eine Regel der Religion, der Kultur, der akzeptierten Form des Zusammenlebens verstoßen hat. Die Beschuldigten werden ausgegrenzt, in schlimmeren Fällen verhaftet, gefoltert, grausam hingerichtet. Im Nachhinein erweisen sich die Anschuldigungen (ein Muslim habe Schweinefleisch gegessen, eine christliche Angestellte habe Geld geklaut, eine Muslima habe eine Liaison mit einem Christen und dergleichen) oft als haltlos. Doch die Wahrheit hat in so einem System keinen Wert und keine Kraft.
Die wahren Helden in Nadeem Aslams Roman sind denn auch all die kleinen Leute aus verschiedenen Kulturkreisen und Religionen, die verfolgt, gedemütigt und malträtiert werden und trotzdem nicht aufgeben – nicht sich selbst und nicht den Glauben an das Gute. Viele schämen sich sogar, dass sie selbst zu wenig für ein tolerantes Miteinander leisteten, um wenigstens der nachfolgenden Generation ein besseres Land zu bereiten. Manche begehren mutig auf, wie einige Journalisten oder die Muslima Aysha. Deren Mann starb als Märtyrer im Kampf, und damit muss sie unbefleckt bleiben, bis sie sich im Paradies wieder mit ihrem Gatten vereinigt. Ihre Schwäger überwachen sie deshalb streng und drohen ihr schlimmste Bestrafung an, sollte sie sich den Regeln widersetzen. Dass sie eine zärtliche Verbindung mit einem Christen eingeht, kann sie das Leben kosten.
Nadeem Aslam schreibt eine Prosa, die der Verlag als »leuchtend«, die Financial Times als »kristallin« charakterisiert, und die FAZ schwärmt, er vereine »die epische Kraft der großen europäischen Romanciers mit der kraftvollen, überschäumenden Metaphorik orientalischer Literatur«. Die Welt, die er mit der Schönheit seiner Sprache schmückt, ist hingegen eine Hölle auf Erden. Die Lust an der Qual des Mitmenschen – foltern, verstümmeln, verbrennen, köpfen – kennt keine Grenzen, wenn man sich im Einklang mit den heiligen Gesetzen der Scharia glaubt und schon die leiseste Kritik als Werk des Teufels fürchtet.
Religiös definiert war Pakistan von Anfang an. Um die ständigen Konflikte zwischen Hindus und Moslems in Indien zu lösen, teilten die Briten ihre Kolonie 1947 in zwei Staaten auf (»Partition of India«): Indien und Pakistan (mit den beiden Teilen West- und Ostpakistan, dem späteren Bangladesh). Schon neun Jahre später nannte sich Pakistan als erstes Land der Welt »Islamische Republik«, blieb aber bis heute ein von Korruption, Gewalt und Konflikten aller Art erschüttertes labiles Gebilde. So werden die Menschen der Region, einem ewigen Zankapfel und Spielball fremder Mächte, schon seit Jahrhunderten in ewigen Auseinandersetzungen entrechtet, unterdrückt und abgeschlachtet. War einst der britische Kolonialherr für jeden Missstand verantwortlich zu machen, wird heute jedes Übel der Einflussnahme der USA zugeschrieben. Amerikas Säkularität und Freiheitlichkeit machen das Land zum Erzfeind aller ›Rechtgläubigen‹.
Und doch überlebt selbst hier die Schönheit des Lebens und menschlicher Kultur. Wir wandeln durch paradiesische Gärten aus tausendundeiner Nacht. Hoch in der schattigen Krone eines Baumes schwimmen Hunderte Fischlein, jedes in seiner Plastiktüte. Von dort, erklärt der Goldfischverkäufer, können sie ihre Heimat, den Fluss, sehen. Es ist seine Art, Abbitte zu leisten dafür, dass er die Geschöpfe ihrer Freiheit beraubt hat.
Am Ende entlässt uns der Autor nicht verbittert oder resignativ, sondern mit einem winzigen Hoffnungsschimmer. Nargis, Helen und Imran finden für eine Weile ein bisschen Glück an einem symbolträchtigen Zufluchtsort: einer Insel mit einer idealen Moschee für die vier Weltreligionen, die Vision einer Zukunft in Toleranz und Frieden.