Die Süße von Wasser
von Nathan Harris
Gegen Ende des amerikanischen Bürgerkriegs sind die Sklaven in Old Ox, Georgia, zwar frei, aber mittellos und geächtet wie zuvor. Zwei Brüder finden eine sichere Aufnahme, doch die Wirren der Zeit bringen nichts als Leid über die ganze Stadt.
Freiheit ohne Wert
Gleich mit seinem Debütroman hat der 1991 in Oregon geborene Nathan Harris 2021 Furore gemacht. Viele Kritiker haben »The Sweetness of Water« euphorisch gelobt, Oprah Winfrey empfahl das Buch in Oprah’s Book Club, Ex-Präsident Barack Obama nahm es in seine Sommerleseliste auf, es stand auf der Longlist für den Booker Prize und wurde ein Bestseller. Jetzt ist es in deutscher Übersetzung von Tobias Schnettler bei Eichborn erschienen.
Die Handlung trägt sich in Georgia zu, in den letzten Tagen des amerikanischen Bürgerkriegs (auch »Sezessionskrieg«, 1861-1865). Georgia war nicht nur einer der dreizehn Staaten, die die USA gegründet haben, sondern auch der fünfte, der sich Anfang 1861 von den USA lossagte und dem Bund der Konföderierten Staaten von Amerika beitrat. Ende Juni 1861 umfasste die Konföderation elf Staaten.
Vier Jahre später war ihre Niederlage absehbar. Die überlegenen Armeen des Nordens (Unionisten) hatten große Teile des Südens erobert. Präsident Abraham Lincoln hatte schon im Januar 1863 seine Emancipation Proclamation (»Emanzipationserklärung«) in Kraft gesetzt, die alle Sklaven in den Konföderationsstaaten für frei erklärte. Sie galt jedoch nicht für die Unionsstaaten. Erst the Thirteenth Amendment (13. Zusatzartikel zur Verfassung), der am 18. Dezember 1865 in Kraft trat, schaffte die Sklaverei in allen Staaten der USA ab.
So ziehen vor der Kapitulation der Konföderierten (April bis Juni 1865) Unions-Soldaten in ihren blauen Uniformen durch die Plantagen der Südstaaten und rufen den Sklaven in ihren armseligen Hütten zu, dass sie jetzt frei seien und gehen dürften, wohin sie wollen.
Im fiktiven Städtchen Old Ox, Georgia, sieht der reiche Landbesitzer »Master« Ted Morton gar nicht ein, warum er auf einmal sein menschliches Besitztum in die Freiheit entlassen sollte. Wer bitte soll denn dann seinen Landsitz Majesty’s Palace samt Ländereien bewirtschaften? Außerdem, glaubt er, sind die Schwarzen in Freiheit kaum überlebensfähig.
Die Brüder Prentiss und Landry sehen das aus einer anderen Perspektive. Sie zögern keine Sekunde und verlassen den Ort, wo sie ihr gesamtes Leben verbringen und unter Willkür, Unterdrückung und Knechtschaft leiden mussten.
Die ersten Schritte fallen ihnen nicht leicht. Erstmals bewegen sie sich ohne Erlaubnis außerhalb der Plantage – was üblicherweise mit Auspeitschen oder noch schlimmeren Strafen geahndet würde, sogar das Leben kosten könnte. Vorsichtig tasten sie sich vor bis ins Unterholz des Waldes, der dem weißen Nachbarn George Walker gehört, und suchen sich dort einen Platz für die Nacht.
Zufällig ist auch George unterwegs. Er will einem mysteriösen Tier nachspüren, das ihm schon oft entwischt war, aber es treibt ihn auch weg von seiner Frau Isabelle. Denn kürzlich hat man ihm mitgeteilt, dass der geliebte Sohn Caleb als Soldat der Konföderierten gefallen ist, und er bringt es nicht übers Herz, ihr die entsetzliche Nachricht zu überbringen.
Mitten in der Dunkelheit treffen die drei Männer aufeinander. Die Brüder helfen dem gebrechlichen, entkräfteten Weißen, man kommt ins Gespräch, und die beiden Farbigen vertrauen George ihre Lebensgeschichte an. Die Folgen von Master Mortons furchtbaren Folterungen und Strafmaßnahmen sind an Prentiss’ Körper unübersehbar. Er ist von Narben gezeichnet, der Kiefer und das ganze Gesicht sind zertrümmert. Jetzt träumen sie von einem freien, selbstbestimmten Leben im Norden. Dort hoffen sie ihre Mutter wiederzufinden – wenn sie denn noch lebt. Dafür brauchen sie Geld. George bietet ihnen an, sie zu fairen Bedingungen bei sich einzustellen, und die beiden nehmen an. Im Lauf der Zeit erweisen sie sich als zuverlässige, vertrauenswürdige Farmarbeiter.
Der Einzug der beiden Schwarzen im weit abgelegenen, einsamen Haus der Walkers gibt George neuen Lebensmut. Seit Calebs Aufbruch war es dort still geworden, die Eltern sind sich fremd geworden und sprechen nur das Nötigste miteinander. George, ein introvertierter, sich selbst genügender, melancholischerMann, ergreift jetzt seine Chance, einen Traum zu realisieren: Er will Erdnussbüsche anpflanzen, und so rodet er das Gelände zusammen mit den Brüdern bis zur körperlichen Erschöpfung.
Allein gelassen, findet Isabelle hingegen nicht in ihr altes Ich zurück. Sie vernachlässigt den geliebten Garten und die häuslichen Arbeiten und findet eine neue »Art von Glück«, wenn sie ihr früheres Pflichtbewusstsein beiseite lässt, stattdessen mit ihrer Freundin Mildred auf der Terrasse sitzt und den Tag auf angenehme Weise genießt.
Nachdem etwas geschieht, was niemand für möglich gehalten hätte, ist nichts mehr, wie es war.
Der amerikanische Bürgerkrieg hat – wie jeder andere Krieg auch – großes Leid unterschiedlichster Art über die Menschen gebracht. Die Zahl der Todesopfer, ob auf den Schlachtfeldern oder durch Krankheiten, wird je nach Quelle und Zählmethode zwischen 620.000 und 850.000 angegeben. Nathan Harris widmet aber den militärischen Ereignissen und politischen Umständen nicht viel Raum. Vielmehr beschreibt er, wie sich die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Nord und Süd um die Befreiung der Sklaven im Südstaaten-Städtchen Old Ox auswirken. Viele weiße Familien haben Männer und Söhne verloren, und viele junge Männer, die überlebt haben, taumeln unübersehbar als gebrochene Persönlichkeiten durch ihre Heimatorte. Gleichzeitig ziehen nun befreite frühere Sklaven durch die Gegend, mittellos, hungernd, orientierungslos auf der Suche nach einer neuen Unterkunft, neuer Arbeit, neuem Lebenssinn. Bei den Weißen heizt sich die feindliche Gesinnung auf, der rassistische Mob ist kaum im Zaum zu halten.
In Old Ox gibt sich ein Nordstaaten-Brigadegeneral als Friedensstifter. Tagsüber ziehen seine letzten Soldaten bettelnd durch die Straßen, damit sie sich am Abend mit Fusel vergiften können. Er propagiert, den Ort zu alter Größe zurückzuführen, und schlägt dazu die Gründung eines Komitees vor. Auch George wird zum Beitritt aufgefordert, doch er durchschaut die Verlogenheit des Plans. Es gehe nur darum, »aus dem Niedergang dieser Stadt Kapital zu schlagen«, und so schleudert er dem General entgegen: »Ich würde mich lieber in einen Trog legen und von Schweinen fressen lassen, als bei Ihrem Stadtrat mitzumachen.«
Hatte George ohnehin schon Unverständnis und Zorn seiner weißen Mitbürger auf sich gezogen, indem er zwei »Nigger« unter seinem Dach beherbergte und sie für ihre Arbeit sogar bezahlte, so wächst nach diesem Eklat die Empörung im Ort ins Unerträgliche. Doch George lässt sich von der bedrohlichen Zuspitzung nicht einschüchtern. Er bleibt sich treu und steht weiter zu den Brüdern. Dann geschieht ein Mord, und die Ereignisse eskalieren.
Nathan Harris’ Roman nimmt die Leser von Beginn an gefangen. Wenngleich der Plot ein wenig klischeehaft angelegt ist und Gut und Böse unkompliziert verteilt sind, ziehen uns Spannung und Rührung gleichermaßen in den Bann. Die Handlung hält ständig unvorhersehbare Wendungen bereit, und es fasziniert uns, welch gravierende Folgen das Verhalten der Protagonisten nach sich zieht, wie ihre Schicksale miteinander verwoben sind, wie Schuld und Unschuld nah beieinander liegen. Besonders gut gelungen ist dem Autor, wie intensiv und vielfältig er die zwischenmenschlichen Beziehungen aller Art gestaltet. Dabei treffen Engstirnigkeit, Uneinsichtigkeit, Vorteilsdenken, Lüge, Betrug und Hass auf aufopfernde Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit, Sehnsucht und Liebe. Wir können sowohl die Gedanken und Emotionen der aufgebrachten weißen Bevölkerung nachempfinden als auch diejenigen der unglücklichen Farbigen und derer, die sich gegen Unrecht zur Wehr setzen. Kaum ein Einwohner der Stadt will die neue Ordnung, wie sie die Zentralregierung in Washington verordnet. Es brodelt im Ort, bis sich die Spannungen in einer Katastrophe entladen.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2023 aufgenommen.