Rezension zu »Die Süße von Wasser« von Nathan Harris

Die Süße von Wasser

von


Gegen Ende des amerikanischen Bürgerkriegs sind die Sklaven in Old Ox, Georgia, zwar frei, aber mittellos und geächtet wie zuvor. Zwei Brüder finden eine sichere Aufnahme, doch die Wirren der Zeit bringen nichts als Leid über die ganze Stadt.
Belletristik · Eichborn · · 448 S. · ISBN 9783847901211
Sprache: de · Herkunft: us

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Freiheit ohne Wert

Rezension vom 12.05.2023 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Gleich mit seinem Debütroman hat der 1991 in Oregon geborene Nathan Harris 2021 Furore gemacht. Viele Kritiker haben »The Sweetness of Water« eupho­risch gelobt, Oprah Winfrey empfahl das Buch in Oprah’s Book Club, Ex-Präsident Barack Obama nahm es in seine Sommer­lese­liste auf, es stand auf der Longlist für den Booker Prize und wurde ein Best­seller. Jetzt ist es in deutscher Über­setzung von Tobias Schnett­ler bei Eichborn erschie­nen.

Die Handlung trägt sich in Georgia zu, in den letzten Tagen des amerika­nischen Bürger­kriegs (auch »Se­zessions­krieg«, 1861-1865). Georgia war nicht nur einer der dreizehn Staaten, die die USA gegründet haben, sondern auch der fünfte, der sich Anfang 1861 von den USA lossagte und dem Bund der Kon­föde­rierten Staaten von Amerika beitrat. Ende Juni 1861 umfasste die Kon­föde­ration elf Staaten.

Vier Jahre später war ihre Nieder­lage absehbar. Die über­lege­nen Armeen des Nordens (Unio­nisten) hatten große Teile des Südens erobert. Präsident Abraham Lincoln hatte schon im Januar 1863 seine Emanci­pation Procla­mation (»Eman­zipa­tions­erklä­rung«) in Kraft gesetzt, die alle Sklaven in den Kon­födera­tions­staaten für frei erklärte. Sie galt jedoch nicht für die Unions­staaten. Erst the Thir­teenth Amend­ment (13. Zusatz­artikel zur Verfas­sung), der am 18. Dezem­ber 1865 in Kraft trat, schaffte die Sklave­rei in allen Staaten der USA ab.

So ziehen vor der Kapitu­lation der Kon­föde­rierten (April bis Juni 1865) Unions-Soldaten in ihren blauen Uniformen durch die Plantagen der Süd­staaten und rufen den Sklaven in ihren arm­seligen Hütten zu, dass sie jetzt frei seien und gehen dürften, wohin sie wollen.

Im fiktiven Städtchen Old Ox, Georgia, sieht der reiche Land­besitzer »Master« Ted Morton gar nicht ein, warum er auf einmal sein mensch­liches Besitztum in die Freiheit entlassen sollte. Wer bitte soll denn dann seinen Landsitz Majesty’s Palace samt Lände­reien bewirt­schaften? Außerdem, glaubt er, sind die Schwarzen in Freiheit kaum über­lebens­fähig.

Die Brüder Prentiss und Landry sehen das aus einer anderen Per­spek­tive. Sie zögern keine Sekunde und verlassen den Ort, wo sie ihr gesamtes Leben ver­bringen und unter Willkür, Unter­drückung und Knecht­schaft leiden mussten.

Die ersten Schritte fallen ihnen nicht leicht. Erstmals bewegen sie sich ohne Erlaubnis außerhalb der Plantage – was üblicher­weise mit Auspeit­schen oder noch schlim­meren Strafen geahndet würde, sogar das Leben kosten könnte. Vor­sichtig tasten sie sich vor bis ins Unterholz des Waldes, der dem weißen Nachbarn George Walker gehört, und suchen sich dort einen Platz für die Nacht.

Zufällig ist auch George unterwegs. Er will einem myste­riösen Tier nach­spüren, das ihm schon oft entwischt war, aber es treibt ihn auch weg von seiner Frau Isabelle. Denn kürzlich hat man ihm mitge­teilt, dass der geliebte Sohn Caleb als Soldat der Kon­föde­rier­ten gefallen ist, und er bringt es nicht übers Herz, ihr die entsetz­liche Nachricht zu über­bringen.

Mitten in der Dunkelheit treffen die drei Männer aufein­ander. Die Brüder helfen dem gebrech­lichen, entkräf­teten Weißen, man kommt ins Gespräch, und die beiden Farbigen vertrauen George ihre Lebens­ge­schich­te an. Die Folgen von Master Mortons furcht­baren Folte­rungen und Strafmaß­nahmen sind an Prentiss’ Körper unüber­sehbar. Er ist von Narben gezeich­net, der Kiefer und das ganze Gesicht sind zertrüm­mert. Jetzt träumen sie von einem freien, selbst­be­stimm­ten Leben im Norden. Dort hoffen sie ihre Mutter wie­derzu­finden – wenn sie denn noch lebt. Dafür brauchen sie Geld. George bietet ihnen an, sie zu fairen Bedin­gungen bei sich einzu­stellen, und die beiden nehmen an. Im Lauf der Zeit erweisen sie sich als zuver­lässige, ver­trauens­würdige Farm­arbei­ter.

Der Einzug der beiden Schwarzen im weit abgele­genen, einsamen Haus der Walkers gibt George neuen Lebensmut. Seit Calebs Aufbruch war es dort still geworden, die Eltern sind sich fremd geworden und sprechen nur das Nötigste mitein­ander. George, ein intro­vertier­ter, sich selbst genü­gender, melan­choli­scherMann, ergreift jetzt seine Chance, einen Traum zu reali­sieren: Er will Erdnuss­büsche anpflan­zen, und so rodet er das Gelände zusammen mit den Brüdern bis zur körper­lichen Erschöp­fung.

Allein gelassen, findet Isabelle hingegen nicht in ihr altes Ich zurück. Sie ver­nach­lässigt den geliebten Garten und die häus­lichen Arbeiten und findet eine neue »Art von Glück«, wenn sie ihr früheres Pflicht­be­wusst­sein beiseite lässt, statt­dessen mit ihrer Freundin Mildred auf der Terrasse sitzt und den Tag auf angenehme Weise genießt.

Nachdem etwas geschieht, was niemand für möglich gehalten hätte, ist nichts mehr, wie es war.

Der amerikanische Bürgerkrieg hat – wie jeder andere Krieg auch – großes Leid unter­schied­lichs­ter Art über die Menschen gebracht. Die Zahl der Todes­opfer, ob auf den Schlacht­feldern oder durch Krank­heiten, wird je nach Quelle und Zähl­methode zwischen 620.000 und 850.000 angegeben. Nathan Harris widmet aber den militä­rischen Ereig­nissen und politi­schen Umständen nicht viel Raum. Vielmehr be­schreibt er, wie sich die gewalt­same Aus­ein­ander­set­zung zwischen Nord und Süd um die Befreiung der Sklaven im Süd­staaten-Städt­chen Old Ox auswirken. Viele weiße Familien haben Männer und Söhne verloren, und viele junge Männer, die überlebt haben, taumeln un­über­sehbar als gebro­chene Persön­lich­keiten durch ihre Heimat­orte. Gleich­zeitig ziehen nun befreite frühere Sklaven durch die Gegend, mittellos, hungernd, orien­tierungs­los auf der Suche nach einer neuen Unter­kunft, neuer Arbeit, neuem Lebens­sinn. Bei den Weißen heizt sich die feind­liche Gesin­nung auf, der rassis­tische Mob ist kaum im Zaum zu halten.

In Old Ox gibt sich ein Nord­staaten-Brigade­general als Friedens­stifter. Tagsüber ziehen seine letzten Soldaten bettelnd durch die Straßen, damit sie sich am Abend mit Fusel vergiften können. Er propa­giert, den Ort zu alter Größe zurück­zufüh­ren, und schlägt dazu die Gründung eines Komitees vor. Auch George wird zum Beitritt aufge­fordert, doch er durch­schaut die Ver­logen­heit des Plans. Es gehe nur darum, »aus dem Nieder­gang dieser Stadt Kapital zu schlagen«, und so schleu­dert er dem General entgegen: »Ich würde mich lieber in einen Trog legen und von Schweinen fressen lassen, als bei Ihrem Stadtrat mitzu­machen.«

Hatte George ohnehin schon Unver­ständnis und Zorn seiner weißen Mitbürger auf sich gezogen, indem er zwei »Nigger« unter seinem Dach beher­bergte und sie für ihre Arbeit sogar bezahlte, so wächst nach diesem Eklat die Empörung im Ort ins Uner­träg­liche. Doch George lässt sich von der bedroh­lichen Zuspit­zung nicht ein­schüch­tern. Er bleibt sich treu und steht weiter zu den Brüdern. Dann geschieht ein Mord, und die Ereig­nisse eska­lieren.

Nathan Harris’ Roman nimmt die Leser von Beginn an gefangen. Wenn­gleich der Plot ein wenig klischee­haft angelegt ist und Gut und Böse un­komp­liziert verteilt sind, ziehen uns Spannung und Rührung gleicher­maßen in den Bann. Die Handlung hält ständig unvor­herseh­bare Wendungen bereit, und es faszi­niert uns, welch gravie­rende Folgen das Verhalten der Pro­tagonis­ten nach sich zieht, wie ihre Schick­sale mitein­ander verwoben sind, wie Schuld und Unschuld nah bei­einan­der liegen. Besonders gut gelungen ist dem Autor, wie intensiv und viel­fältig er die zwischen­mensch­lichen Bezie­hungen aller Art gestaltet. Dabei treffen Eng­stirnig­keit, Unein­sichtig­keit, Vorteils­denken, Lüge, Betrug und Hass auf auf­opfernde Hilfs­bereit­schaft, Mensch­lichkeit, Sehnsucht und Liebe. Wir können sowohl die Gedanken und Emotionen der aufge­brach­ten weißen Bevöl­kerung nach­empfin­den als auch dieje­nigen der unglück­lichen Farbigen und derer, die sich gegen Unrecht zur Wehr setzen. Kaum ein Einwohner der Stadt will die neue Ordnung, wie sie die Zentral­regie­rung in Washing­ton verordnet. Es brodelt im Ort, bis sich die Span­nungen in einer Katas­trophe entladen.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblings­bücher im Frühjahr 2023 aufge­nommen.


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