Rezension zu »Winterbienen« von Norbert Scheuer

Winterbienen

von


Der Krieg erreicht 1944 das Eifelstädtchen Kall, wo sich ein Außenseiter Büchern, einsamen Frauen und vor allem seinen Bienen widmet. Mit ihnen verhilft der gänzlich unaufgeregte und unheroische Tagebuchschreiber verfolgten Juden zur Flucht.
Belletristik · C.H. Beck · · 319 S. · ISBN 9783406739637
Sprache: de · Herkunft: de

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Überleben im Schutz der Bienen

Rezension vom 30.10.2019 · 16 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Wer diesen vieldimensionalen Roman liest wird in einen sanften Mikrokosmos hineinge­sogen, der von außen – woher tödliche Gefahren drohen – immer heftiger umtost wird. Der Protagonist bezieht Seelen­frieden, Kraft und Orientie­rung aus der kleinen Welt des Bienen­staates, der sich nach ewigen Gesetz­mäßig­keiten immer wieder erneuert und dessen Mitglieder allein für ihre vorbe­stimmte Funktion leben. Zeitlich spannt der Autor die Handlung von 1945 bis zurück ins Mittelalter, räumlich von der Eifel bis ins Tessin, und thematisch geht es um Leben und Tod, Lust und Liebe, Krieg und Flucht, Heimat und Ausgrenzung, Hoffnung und Enttäu­schung, Angriff und Schutz, Gott und die Welt. Dieses weite Feld, belebt von zarten Motiven und von allerlei Symbolik durchwebt, bietet reichlich Raum für schweifende Gedanken und kühne Inter­preta­tionen.

Der erzählerische Kern ist das Tagebuch, das Egidius Arimond von Januar 1944 bis Mai 1945 geführt hat. So dramatisch und gefährlich die berichteten Ereignisse für ihn selbst und seine Mitbürger sind, ist sein Ton doch gänzlich unaufgeregt und faktisch, als wisse er sich an einem sicheren, ruhigen Ort abseits erbitterter Schlachten und erbar­mungs­loser Unter­drückung. Ruhe und Frieden sind aber nur in seinem Inneren.

Egidius (in Scheuers neun Romanen tragen etliche Helden den Familiennamen Arimond) wurde im Berg­arbeiter­städt­chen Kall nahe der belgischen Grenze (und nahe dem Geburtsort Scheuers) geboren. Epilep­tische Anfälle begleiten ihn von Kindheit an und machen ihn zum Außenseiter. Nach dem Abitur zieht es ihn zum Studium in die Ferne, und er qualifi­ziert sich als Gym­nasial­lehrer für Geschichte und Latein. Im Nazi-Reich aber wird seine Krankheit zum Stigma »unwerten Lebens«. Er wird als körperlich und geistig Behinderter abge­stempelt, zwangs­sterili­siert und als Lehrer entlassen. Nach dem Tod der fürsorg­lichen Mutter kehrt er nach Kall zurück, um dem hinfällig gewordenen Vater zur Seite zu stehen. Die beiden müssen mit den kargen Einnahmen auskommen, die Egidius durch den Verkauf von Honig­produk­ten auf den umliegenden Märkten erzielt.

In der örtlichen Bibliothek stößt der begeisterte Leser auf Lebens­zeug­nisse eines Ahnen, des Bene­diktiner­mönchs Ambrosius, der wie er unter der »verrückten Krankheit« gelitten haben soll und bereits 1492 Land­wirt­schaft und Bienenzucht betrieb, die von Generation zu Generation weiter­gege­ben wurde.

Dass Egidius der Einweisung in eine Anstalt und dem sicheren Tod im Euthanasie-Programm entgeht, hat er der schützenden Hand seines Bruders zu verdanken. Der ist Pilot, war als »Held des National­sozialis­mus« mit seinem Geschwader sogar in der Wochenschau zu sehen und kann ihn mit Medika­menten versorgen.

Im Übrigen scheint der Krieg fern und die unwegsame Eifel für die Alliierten nicht von Interesse. Man hört ihre Bomber von ferne kommen, ehe sie übers Urfttal hinweg­ziehen zu den Großstädten und Industrie­revieren. In schlaflosen Nächten zieht es Egidius zum Bienenhaus, wo er vom Summen der kleinen Tierchen beruhigt in den Schlaf sinkt und morgens von den aus­schwär­menden Insekten geweckt wird. Erst als am 3. Januar 1944 eine B-25 in den Boden rammt, nähern sich die Kampf­handlun­gen. Derweil spitzt sich Egidius’ Lage zu. Als »Volks­schäd­ling« erhält er kein ärztliches Rezept, der Orts­apothe­ker verlangt viel Geld für die immer knapper werdenden Vorräte, die vom Bruder beschaffte Medizin geht zur Neige, die Anfälle häufen sich, und mit jedem sterben Nerven­zellen in seinem Gehirn ab. Im Kampf gegen das eigene Vergessen beginnt Egidius mit dem Bomber­absturz seine Tagebücher.

In seiner Notlage kommt Egidius ein verdeckt zugetragenes Angebot sehr gelegen. Mit Hilfe seiner Bienen bringt er verfolgte Juden über die Grenze nach Belgien. Bei dem einzigartig raffi­nierten, abenteuer­lichen und gefähr­lichen Unternehmen spielen Nächsten­liebe und Ethos eher keine Rolle, dafür aber Geld, Locken­wickler und die Liebe einsamer Soldaten- und Offiziers­frauen, die Egidius förmlich zu Füßen liegen. Detailliert hält er die perfekt aus­gearbei­teten Fluchtpläne in seinem Tagebuch fest, wohl wissend, dass die Blätter, sollten sie in falsche Hände geraten, nicht nur für ihn, sondern auch für die, denen er hilft und die er liebt, ein tödliches Risiko bedeuten.

Im November 1944 erreicht die Kriegsmaschinerie die Eifel und den Ort Kall. Menschen aus den zerbombten Städten flüchten ins Urfttal. Das Rote Kreuz richtet im Tanzsaal der Gaststätte ein Lazarett ein. Die Gestapo ist allerorten und nimmt Egidius wegen des Verdachts auf Fluchthilfe für drei Wochen fest. Doch er muss einfach weiter schreiben, wenn auch unter Schmerzen und inhaltlich immer verworrener. »Das Einzige was bleibt, sind meine Notizen. Sie halten mich am Leben, sind meine einzige Erinnerung.«

In seiner Danksagung am Ende des Buches klärt Norbert Scheuer den Leser über die Hinter­gründe der Geschichte auf. Er habe von einem älteren Herren in Kall einen Stapel loser Manuskripte erhalten, die ein Bauer in einem alten Bienenstock seiner Scheune gefunden habe. Der Verfasser der Texte sei ein mit dem Autor entfernt verwandter Mann, von dem in der Region wohl bekannt sei, dass er während des Kriegs Juden gerettet hat. Eingefangen vom Duft nach Wachs und Honig, der dem Papier anhaftet, und fasziniert von den eng beschrie­benen Blättern voll feiner Zeichnungen, aus denen ihm Insekten­flügel und -beinchen entgegen fallen, macht sich der Autor an die litera­rische Arbeit. Ein Literatur­verzeich­nis gibt Zeugnis von seinen Recherchen. Am Ende hat er aus seinem Material eine außer­gewöhn­liche, lesenswerte fiktionale Geschichte aus den dunkelsten Zeiten zum Ende des II. Weltkriegs geformt. Nicht alles sei wahr, deutet er an, doch eins gewiss: »Dass die Bienen Arimonds immer noch die Blüten des Urfttals bestäuben.«

Kursiv abgesetzt sind im Tagebuch Fragmente vom Ende des 15. Jahrhunderts eingeschoben. Die Fundstücke aus Egidius’ Ahnen­for­schung erzählen eine Legende. Der Leichnam des hoch angese­henen und weitge­reisten Universal­gelehrten Nikolaus Cusanus wurde in der Kirche San Pietro in Vincoli in Rom beigesetzt. Sein Herz jedoch, so hatte er es bestimmt, sollte in seiner Heimatstadt Kues an der Mosel bestattet werden. Die Überführung über die Alpen war ein mühseliges Unternehmen. Es wurde begleitet von dem Benedik­tiner Ambrosius Arimond, der wusste, wie das Herz des Kardinals durch die antibio­tische Wirkung von Propolis, einer von Bienen herge­stellten harzartigen Masse, vor Verwesung geschützt werden konnte. In der Eifel fand der Mönch eine neue Heimat und die Liebe eines Bauern­mädchens, und sein Wissen um die Bienen brachte er mit.

Norbert Scheuers Roman ist trotz seiner Breite, Tiefe und Dichte leicht und flüssig zu lesen. Wir folgen dem vielfäl­tigen Alltag des Protago­nisten, wie er dem Treiben seiner Bienen intensiv lauscht, sie beobachtet und sich um sie kümmert. Der übers ganze Jahr hin bestens organi­sierte, fried­fertige, aber wehrhafte Bienenstaat steht als Lebens­vision der Propaganda des national­sozialis­tischen Staates gegenüber, dessen ebenfalls straffe Ordnung indes brutale Unter­drückung und Vernichtung seiner Menschen in Kauf nimmt oder gar bezweckt.

Eine ganz eigenartige Wirkung üben dreizehn Miniaturen aus, die Erasmus Scheuer, der Sohn des Autors, angefertigt hat. Sie zeigen Bomber- und Jäger-Typen der Alliierten und der Luftwaffe im Anflug durch die nächtliche Wolkendecke. Die feinen Schwarz-Weiß-Zeichnungen der Flugzeuge (deren technische Daten auf der jeweiligen Seite angegeben sind) werden fast überdeckt vom Wechsel­spiel des schwarz verwischten Nacht­himmels, der gleißenden Such­schein­werfer­strahlen, Mündungs­feuer­blitze und Reflexionen. So winzig die Illustra­tionen sind, erzeugen sie doch gespens­tische Eindrücke einer rätsel­haften Bedrohung durch feindselig brummende utopische Insekten.


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Kommentare

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Zu »Winterbienen« von Norbert Scheuer wurden 1 Kommentare verfasst:

Günther Kley, Imker schrieb am 22.01.2020:

Wieso wird in dem Buch beschrieben wie die Bienen mit Ameisensäure behandelt werden, obwohl die Varroa erst in den Siebziger Jahren hier aufgetreten ist?

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