Petit Piment
von Alain Mabanckou
Die Lebensgeschichte eines kongolesischen Findelkindes zu Zeiten des Mobutu-Regimes. Willkür und Brutalität begleiten den Jungen vom Waisenhaus bis in alle Winkel der Gesellschaft. Sein abenteuerlicher, tragischer und komischer Weg fordert ihm viele Mühen ab, vergönnt ihm aber nur wenige Triumphe und Freuden.
Moses ist Oliver Twist, Robin Hood und Don Quichote
Das Leben des Protagonisten dieser wunderbar erzählten, unsäglich traurigen und zugleich oft komischen Geschichte beginnt deprimierend. Man findet das in Laken gehüllte Baby vor der Tür eines Waisenhauses in Loango abgelegt. Der ellenlange Name, auf den ihn Priester Papa Moupelo tauft, wird praktischerweise zu »Moses« verkürzt.
Es sind die Fünfzigerjahre, der Kongo ist eine jahrzehntelang hemmungslos ausgebeutete Kolonie, die erbittert um ihre Unabhängigkeit kämpft, und das Heim, ursprünglich von weißen Missionaren geführt, verkommt zu einem Ort der Willkür und Gewalt. Als der Posten des Direktors neu besetzt wird, geben Korruption und Stammeszugehörigkeit den Ausschlag zugunsten des Kinderhassers Dieudonné Ngoulmoumako, der gleich vier Familienangehörige als Handlanger mitbringt und mit grausamer Hand über die dreihundert Kinder herrscht. Den liebenswerten Priester Moupelo, der stets Hoffnung und Zuversicht verbreiten konnte, vertreibt der Mini-Tyrann im Lauf der Zeit ebenso wie die Betreuerin Sabine, die für Moses wie eine Mutter ist. Beide verschwinden ohne Abschiedsworte im ungewissen Nebel der höllischen politischen Wirren des Landes, wo Unliebsame davongejagt oder gleich ermordet werden.
Viele harte Jahre, Episoden und Wandlungen später befindet sich Moses wieder an diesem Ort seiner Kindheit. Das Gebäude ist inzwischen zu einer Strafvollzugsanstalt umgebaut, und der gefallene Ich-Erzähler schreibt seine Erlebnisse in einer Gefängniszelle nieder. Die eindringlichen Worte Papa Moupelos sind ihm in Erinnerung geblieben, vor allem die alttestamentarischen Geschichten von Moses, der als Säugling, ähnlich wie er, sich selbst überlassen wurde, dem aber später der Engel des Herrn erschien, »in einer Flamme, die aus einem Dornbusch emporschlug«, und die Parabel von den Arbeitern im Weinberg, deren Botschaft alle Kinder begeistert hatte: »Im himmlischen Königreich (werden) die Letzten die Ersten sein, und die Ersten die Letzten.«
Auf den kleinen Moses hat Direktor Ngoulmoumako einen besonderen Pik. Er hält ihn für den Sohn eines Dämons, dem man das Böse – hinterlistige Streiche wie sich gegenseitig mit Maniokstücken zu bewerfen – austreiben müsse. Das Kind setzt sich tapfer zur Wehr, ist aber dem kräftigen Mann und der Liane, mit der er zuschlägt, rettungslos ausgesetzt.
Mit der Revolution, die »über uns kam wie ein Regen« und den Kongo Ende 1969 zu einer sozialistischen Volksrepublik wandelt, verliert der inzwischen dreizehnjährige Moses endgültig seine Naivität. Hatte er das Waisenhaus lange Zeit für eine »Schule für Hochbegabte« gehalten, so öffnet ihm nun sein gleichaltriger Freund und einziger Vertrauter Bonaventure die Augen. Ihr Heim sei für »Bälger«, die niemand will, ein Zuchthaus für schwererziehbare Jugendliche. Bonaventure ist realistischer und weniger introvertiert als Moses, und er baut nicht nur auf Gottes Hilfe wie dieser.
Beide Jungen leiden, wie die anderen Kinder, unter einem Zwillingspaar, das ganz wie die Großen zum eigenen Vorteil Terror ausübt. Nachdem Moses ihre Essensvorräte heimlich mit Chilipulver verdirbt, muss er zwar Wiedergutmachung leisten, hat sich aber Respekt, Anerkennung und den Spitznamen »Petit Piment« verdient. Bald heckt er als Komplize der Zwillinge einen Fluchtplan mit ihnen aus und lässt Bonaventure zurück.
Damit beginnt Moses’ jahrelange Odyssee als vagabundierender Kleinkrimineller. Auf dem großen Markt in Pointe-Noire etablieren sich die Zwillinge und Moses als ihr Assistent, und in einem Bordell findet er endlich seinen Sehnsuchtsort, ein freundliches, fürsorgliches Zuhause, bis auf Befehl des korrupten, machthungrigen Bürgermeisters brutale Milizen mit Schlagstöcken und Tränengas für »Ordnung« auf dem Grand Marché sorgen. Die Prostituierten werden in Geländewagen verfrachtet und auf einen ungewissen Leidensweg verschleppt, die vertriebenen Straßenjungen weichen an die Küste. Petit Piment muss nicht nur seine Lebensweise aufgeben, sondern seine Seele nimmt nachhaltig Schaden. Sein Gedächtnis funktioniert nicht mehr, er verliert seine Identität und soll sich einer langen Behandlung unterziehen. Doch dazu kommt es nicht.
Der Ich-Erzähler schildert aus seiner anfangs kindlich-schlichten Perspektive das schreckliche Gewaltregime des erbarmungslosen Diktators Mobutu. Das Waisenhaus Dieudonné Ngoulmoumakos ist ein kleines Abbild des großen Ganzen. Wahre Horrorszenen wechseln mit absurd klingenden anti-imperialistischen Indoktrinationsappellen und allerlei unsinnigen politischen Reglements, über die sich Moses vorsichtig mokiert. Im Lauf der Jahre reift der Junge, der alle äußeren Einflüsse und Anregungen anfangs staunend, glaubend und vertrauend aufsaugt und später mit brillantem, messerscharfem Verstand filtert, zu einem kritischen, klugen Beobachter. Allerdings ist ihm im Leben so viel genommen worden, dass er auf Rache sinnt.
Moses’ tragische Historie nimmt den Leser von Anbeginn gefangen und lässt ihn nicht mehr los. Des Autors Sprachschatz ist außergewöhnlich facettenreich. Er erzählt auf sehr eindrucksvolle, unterhaltsame Weise in einem lebendigen, mitreißenden Tonfall voller Leichtigkeit und lässt ein vielschichtiges Bild der komplexen kongolesischen Gesellschaft mit ihren Religionen, Ethnien, Sprachen und Konflikten entstehen.
Alain Mabanckou ist zwar bei uns noch recht wenig bekannt, doch international längst anerkannt. Er wurde 1966 in Pointe-Noire geboren, begann ein Jurastudium in Brazzaville, studierte dank eines Stipendiums 1989 bis 1993 Wirtschaftsrecht in Paris und arbeitete dann in einem Wirtschaftsunternehmen, bis er sich ganz der Literatur widmete – als Dozent an der University of Michigan und als Professor an der University of California. Als Lyriker und Romancier erhielt er eine Fülle internationaler Auszeichnungen, etwa den Prix Renaudot (2006), und für sein schriftstellerisches Gesamtwerk den Grand Prix de littérature Henri-Gal der Académie française (2012) und den Prix littéraire Prince Pierre de Monaco (2013). 2015 war er Finalist für den Man Booker International Prize und den Premio Strega Europeo und mit »Petit Piment« für den Prix Goncourt 2015 nominiert. Der Liebeskind-Verlag hat diesen Erfolgsroman jetzt bei uns herausgebracht – als sechsten seiner Mabanckou-Titel und als fünften in der Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller.