Rezension zu »Petit Piment« von Alain Mabanckou

Petit Piment

von


Die Lebensgeschichte eines kongolesischen Findelkindes zu Zeiten des Mobutu-Regimes. Willkür und Brutalität begleiten den Jungen vom Waisenhaus bis in alle Winkel der Gesellschaft. Sein abenteuerlicher, tragischer und komischer Weg fordert ihm viele Mühen ab, vergönnt ihm aber nur wenige Triumphe und Freuden.
Belletristik · Liebeskind · · 240 S. · ISBN 9783954381081
Sprache: de · Herkunft: fr

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Moses ist Oliver Twist, Robin Hood und Don Quichote

Rezension vom 26.10.2019 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Das Leben des Protagonisten dieser wunderbar erzählten, unsäglich traurigen und zugleich oft komischen Geschichte beginnt deprimie­rend. Man findet das in Laken gehüllte Baby vor der Tür eines Waisen­hauses in Loango abgelegt. Der ellenlange Name, auf den ihn Priester Papa Moupelo tauft, wird prak­tischer­weise zu »Moses« verkürzt.

Es sind die Fünfzigerjahre, der Kongo ist eine jahrzehntelang hemmungslos ausge­beutete Kolonie, die erbittert um ihre Unab­hängig­keit kämpft, und das Heim, ursprüng­lich von weißen Missionaren geführt, verkommt zu einem Ort der Willkür und Gewalt. Als der Posten des Direktors neu besetzt wird, geben Korruption und Stammes­zugehörig­keit den Ausschlag zugunsten des Kinder­hassers Dieudonné Ngoul­mou­mako, der gleich vier Familien­ange­hörige als Handlanger mitbringt und mit grausamer Hand über die dreihundert Kinder herrscht. Den liebens­werten Priester Moupelo, der stets Hoffnung und Zuversicht verbreiten konnte, vertreibt der Mini-Tyrann im Lauf der Zeit ebenso wie die Betreuerin Sabine, die für Moses wie eine Mutter ist. Beide verschwin­den ohne Abschieds­worte im ungewissen Nebel der höllischen politischen Wirren des Landes, wo Unliebsame davongejagt oder gleich ermordet werden.

Viele harte Jahre, Episoden und Wandlungen später befindet sich Moses wieder an diesem Ort seiner Kindheit. Das Gebäude ist inzwischen zu einer Straf­vollzugs­anstalt umgebaut, und der gefallene Ich-Erzähler schreibt seine Erlebnisse in einer Gefängnis­zelle nieder. Die eindring­lichen Worte Papa Moupelos sind ihm in Erinnerung geblieben, vor allem die alt­testa­mentari­schen Geschichten von Moses, der als Säugling, ähnlich wie er, sich selbst überlassen wurde, dem aber später der Engel des Herrn erschien, »in einer Flamme, die aus einem Dornbusch emporschlug«, und die Parabel von den Arbeitern im Weinberg, deren Botschaft alle Kinder begeistert hatte: »Im himmlischen Königreich (werden) die Letzten die Ersten sein, und die Ersten die Letzten.«

Auf den kleinen Moses hat Direktor Ngoulmoumako einen besonderen Pik. Er hält ihn für den Sohn eines Dämons, dem man das Böse – hinter­listige Streiche wie sich gegenseitig mit Maniok­stücken zu bewerfen – austreiben müsse. Das Kind setzt sich tapfer zur Wehr, ist aber dem kräftigen Mann und der Liane, mit der er zuschlägt, rettungslos ausgesetzt.

Mit der Revolution, die »über uns kam wie ein Regen« und den Kongo Ende 1969 zu einer sozialis­tischen Volks­republik wandelt, verliert der inzwischen dreizehn­jährige Moses endgültig seine Naivität. Hatte er das Waisenhaus lange Zeit für eine »Schule für Hochbegabte« gehalten, so öffnet ihm nun sein gleich­altriger Freund und einziger Vertrauter Bonaventure die Augen. Ihr Heim sei für »Bälger«, die niemand will, ein Zuchthaus für schwer­erzieh­bare Jugendliche. Bonaventure ist realisti­scher und weniger intro­vertiert als Moses, und er baut nicht nur auf Gottes Hilfe wie dieser.

Beide Jungen leiden, wie die anderen Kinder, unter einem Zwillingspaar, das ganz wie die Großen zum eigenen Vorteil Terror ausübt. Nachdem Moses ihre Essens­vorräte heimlich mit Chilipulver verdirbt, muss er zwar Wieder­gutma­chung leisten, hat sich aber Respekt, Anerkennung und den Spitznamen »Petit Piment« verdient. Bald heckt er als Komplize der Zwillinge einen Fluchtplan mit ihnen aus und lässt Bonaventure zurück.

Damit beginnt Moses’ jahrelange Odyssee als vagabundierender Kleinkrimineller. Auf dem großen Markt in Pointe-Noire etablieren sich die Zwillinge und Moses als ihr Assistent, und in einem Bordell findet er endlich seinen Sehn­suchts­ort, ein freund­liches, fürsorg­liches Zuhause, bis auf Befehl des korrupten, macht­hung­rigen Bürger­meisters brutale Milizen mit Schlag­stöcken und Tränengas für »Ordnung« auf dem Grand Marché sorgen. Die Prostitu­ierten werden in Gelände­wagen verfrachtet und auf einen ungewissen Leidensweg verschleppt, die vertrie­benen Straßen­jungen weichen an die Küste. Petit Piment muss nicht nur seine Lebensweise aufgeben, sondern seine Seele nimmt nachhaltig Schaden. Sein Gedächtnis funktio­niert nicht mehr, er verliert seine Identität und soll sich einer langen Behandlung unterziehen. Doch dazu kommt es nicht.

Der Ich-Erzähler schildert aus seiner anfangs kindlich-schlichten Perspektive das schreck­liche Gewalt­regime des erbar­mungs­losen Diktators Mobutu. Das Waisenhaus Dieudonné Ngoul­mou­makos ist ein kleines Abbild des großen Ganzen. Wahre Horror­szenen wechseln mit absurd klingenden anti-impe­rialis­tischen Indok­trinations­appellen und allerlei unsinnigen politischen Reglements, über die sich Moses vorsichtig mokiert. Im Lauf der Jahre reift der Junge, der alle äußeren Einflüsse und Anregungen anfangs staunend, glaubend und vertrauend aufsaugt und später mit brillantem, messer­scharfem Verstand filtert, zu einem kritischen, klugen Beobachter. Allerdings ist ihm im Leben so viel genommen worden, dass er auf Rache sinnt.

Moses’ tragische Historie nimmt den Leser von Anbeginn gefangen und lässt ihn nicht mehr los. Des Autors Sprach­schatz ist außer­gewöhn­lich facetten­reich. Er erzählt auf sehr eindrucks­volle, unterhalt­same Weise in einem leben­digen, mit­reißen­den Tonfall voller Leichtig­keit und lässt ein viel­schich­tiges Bild der komplexen kongole­sischen Gesell­schaft mit ihren Religionen, Ethnien, Sprachen und Konflikten entstehen.

Alain Mabanckou ist zwar bei uns noch recht wenig bekannt, doch international längst anerkannt. Er wurde 1966 in Pointe-Noire geboren, begann ein Jurastudium in Brazzaville, studierte dank eines Stipendiums 1989 bis 1993 Wirt­schafts­recht in Paris und arbeitete dann in einem Wirt­schafts­unter­nehmen, bis er sich ganz der Literatur widmete – als Dozent an der University of Michigan und als Professor an der University of California. Als Lyriker und Romancier erhielt er eine Fülle inter­natio­naler Aus­zeichnun­gen, etwa den Prix Renaudot (2006), und für sein schrift­stelleri­sches Gesamtwerk den Grand Prix de littérature Henri-Gal der Académie française (2012) und den Prix littéraire Prince Pierre de Monaco (2013). 2015 war er Finalist für den Man Booker Inter­national Prize und den Premio Strega Europeo und mit »Petit Piment« Alain Mabanckou: »Petit Piment« bei Amazon für den Prix Goncourt 2015 nominiert. Der Liebeskind-Verlag hat diesen Erfolgs­roman jetzt bei uns heraus­gebracht – als sechsten seiner Mabanckou-Titel und als fünften in der Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller.


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