Vernetzte Schicksale
London ächzt unter einer sommerlichen Hitzewelle. Die Fenster der Häuser im South Hill Drive sind geöffnet, damit der Durchzug ein wenig Kühlung verschaffen möge. Michael Turner hat in seinem Garten gearbeitet, ehe er zu seinen Nachbarn hinüber geht und durch die Hintertür lauscht, ob jemand da sei. Kurz danach ereignet sich »der Vorfall, der ihrer aller Leben veränderte«.
Der zitierte Satz – der erste des Romans – setzt unser Kopfkino in Gang. Was zwischen Mord, Entführung, Terrorismus, Erpressung und sonstigen Übeln könnte uns erwarten? Derweil erfahren wir, dass Michael und die Hausbewohner bestens befreundet sind. Fast täglich geht er bei ihnen ein und aus, und deshalb erlaubt er sich wohl auch die Vertraulichkeit, ohne Einladung in das Haus einzutreten. Etwas Böses scheint Michael nicht im Schilde zu führen.
Bis wir den Verlauf des fatalen Nachmittags ganz durchschauen, lesen wir gut einhundertfünfzig Seiten. Während Michael ganz gelassen von Raum zu Raum schreitet und die Augen offen hält, breiten uns ausführliche Rückblenden die gesamte Vorgeschichte der Protagonisten aus. Neben Michael, Josh, dessen Frau Samantha und ihren beiden Töchtern Lucy (4) und Rachel (7) stoßen wir über allerlei Umwege auf weitere Personen und Aktionen, die die ganze Welt umspannen. Da steuert ein Major der US-Streitkräfte aus einem Sicherheitslabor heraus eine Drohne auf der anderen Seite des Globus, um in Afghanistan Terroristen zu bekämpfen. In New York können sich zwei Brüder aus der Dominikanischen Republik als Kleinkriminelle gerade so über Wasser halten.
Auf faszinierende, zunächst rätselhafte Weise sind die Schicksale all dieser Personen miteinander vernetzt. Michael hat sich als freier Journalist in London und New York bewährt, doch sein eigentliches Ziel ist die Schriftstellerei. Dazu hat er klare Vorstellungen entwickelt: Er will Romane schreiben, die auf authentischen, intensiv recherchierten Grundlagen beruhen und sich stilistisch durch »die vollständige Tilgung des Autors aus dem Text« auszeichnen. Als er auf die beiden Brüder aus der Dominikanischen Republik trifft, erkennt er seine Chance, an einem Stoff zu experimentieren. Über Jahre begleitet er die abschüssige Vita der beiden und landet mit ihrer traurigen Geschichte (»BrotherHoods«) einen Bestseller. Über Zwischenstationen – ein respektables Cottage in Wales, eine kurze Ehe mit einer Kriegsberichterstatterin – zieht er nach Hampstead Heath, um sich mit einem weiteren Buchprojekt abzulenken und seinem aus dem Ruder gelaufenen Leben wieder Inhalt und Sinn zu geben.
Seine neuen Nachbarn, die Nelsons, nehmen den Witwer mit offenen Armen auf. Man speist, joggt und plauscht gemeinsam, Michael hilft im Garten und bei den Hausaufgaben, und all dies tut auch der angeknacksten Beziehung der Nelsons gut. Als Broker bei Lehman Brothers führt Josh ein stressiges Leben, garniert mit reichlich Alkohol und amüsanten Frauen. Samantha verschließt vor dieser Realität lange die Augen und müht sich, eine Fassade sorgloser Heiterkeit aufrechtzuerhalten, bis ihr endlich einmal heftig der Kragen platzt. Mit der Bankenkrise ist Josh seinen Job los, und die häusliche Situation wird noch angespannter.
Inzwischen tasten wir uns noch immer in der rätselhaften Anfangsszene voran, bis es irgendwann heraus ist: Ohne dass Michael es beeinflussen kann, löst seine bloße Anwesenheit »zur falschen Zeit am falschen Ort« ein schreckliches Unglück aus. Wie eine Bombe im Erdreich einen Krater hinterlässt, in dem auf einmal die vagen Umrisse lange verschütteter Gegenstände mehr zu erahnen als zu erkennen sind, so werden durch die Tragödie Geschehnisse und Geheimnisse in die Nähe des Tageslichts gefördert, wo sie mancher gar nicht haben möchte.
Im Gegensatz zu uns Lesern wird für die Beteiligten gar nichts klar. Sie sind vom Autor dazu verurteilt, weiterhin im Dunkeln zu tappen, nicht hinter die Fassaden ihrer Mitspieler schauen zu können. Tatsächlich hat jeder sein Päckchen an Verantwortung und Versagen zu tragen, das es geraten sein lässt, zurückhaltend mit den Fakten umzugehen. Misstrauen, Verdächtigungen, Lügen bestimmen nun das vorher harmonisch erschienene Miteinander. Die Person, die den Schlüssel zur Auflösung in der Hand hält, zaudert. Würde die Wahrheit nicht nur die Qual der anderen vergrößern?
Ein Schriftsteller, ein Broker, ein US-Major. Jeder geht auf andere Weise mit der Schuld um, die er auf sich geladen hat. Aus dieser Konstellation entwickelt der Autor eine Handlung, die viele Rätsel bereit hält und immer wieder aufs Neue verblüfft. Meisterlich hält er alle Fäden in der Hand, lässt seine Figuren physisch und psychisch leiden und erzeugt eine Spannung, die man aus der üblichen Krimikost so nicht kennt.
Der Titel »I saw a Man« ist einem bekannten, vielfach zitierten und variierten kurzen Gedicht entnommen, das der amerikanische Schriftsteller Hughes Mearns 1899 verfasst hatte. Es spielt mit der Vorstellung einer mysteriösen Gestalt, die im Treppenhaus einer verwunschenen Villa im kanadischen Antigonish (Nova Scotia) gespukt haben soll. Owen Sheers hat die erste Strophe seinem Roman vorangestellt und betont damit von Anfang an das Geheimnisvolle, Doppelbödige seiner Erzählung (die Thomas Mohr ins Deutsche übersetzt hat).
In der Tat ist es ein seltsames Puzzle, das uns der Autor zusammenfügen lässt. Wie üblich passen viele Episodenteilchen ganz offenkundig in eine markante Lücke, verzahnen sich miteinander und ergänzen sich zu größeren Strängen. Aber wiegen Sie sich nicht zu früh in Sicherheit. Wenn Sie am Schluss ein stimmiges, überzeugendes Gesamtbild vor Augen haben, bleibt Ihnen gerade einmal ein Atemzug, um das Ergebnis zufrieden zu betrachten – da fegt der Autor das gesamte Tableau mit einem kühnen Handstreich hinweg.