Der Nachbar
von Patrícia Melo
Ein empfindlicher Hausbewohner lässt sich von den Störgeräuschen eines Nachbarn zu extremen Maßnahmen hinreißen. Eine Satire über allgegenwärtige Egoismen.
Das Nachbarhasser-Buch
Solch nervende Erlebnisse kennt jeder. Man will einfach ein Weilchen seine Ruhe, und schon knattert ein Rasenmäher los, beginnt im Nebenhaus einer seine Terrasse zu kärchern, drängt ein vorüberfahrender Angeber der ganzen Straße durchs offene Autofenster seinen Musikgeschmack auf, toben Kinder ohne Einhalt durch die Wohnung drüber, plärren Menschen in ihre Smartphones, rattert ein Hubschrauber übers Dach. Dürfen die das alles, ungeachtet meines Ruhebedürfnisses?
Die Reizschwellen sind unterschiedlich hoch. Richtiger Krach kann die Gesundheit gefährden, und trotzdem wohnt mancher ganz entspannt mitten in der Großstadt. Besonders sensible Mitbürger pochen dagegen auf ihr behauptetes Recht und kämpfen vor Gericht, dass die Behörde Kuh- oder Kirchenglocken oder Vogelkreischen aus dem benachbarten Zoo abstelle. Jedenfalls ist Stille in unserer hysterischen, lärmenden Welt ein für viele unerschwinglicher Luxus.
Die brasilianische Autorin Patrícia Melo hat das Thema auf nur 160 Seiten in herrlich sarkastischer Weise zugespitzt (»Gog Magog«, übersetzt von Barbara Mesquita). Sie liefert ihren rundum gebeutelten und überforderten Protagonisten einem makabren Plot aus, der ihn vom armen Leidenden zum rächenden Mörder und schließlich zum Geläuterten macht. Der Ton, in dem sie diese Achterbahnfahrt erzählt, ist zunächst ausgesprochen witzig und satirisch überzogen – ein 5-Sterne-Feuerwerk brillant-origineller Ideen –, im zweiten Teil aber hintergründiger und besinnlicher, leider auch nicht mehr mitreißend. Da wird die Episode des ersten Teils eingebettet in größere Zusammenhänge: die Auswirkungen eines ungehemmt ausgelebten Individualismus, die allgemein zunehmende Egozentrik, Verständnislosigkeit, Intoleranz und Maßlosigkeit, darüber hinaus den Zustand der brasilianischen Gesellschaft.
Der namenlose Ich-Erzähler ist 54 Jahre alt, Biologielehrer und mit einer Krankenschwester verheiratet. Sein Arbeitsplatz verschafft ihm nichts als Stress und Frustrationen, von denen er sich im Hort seiner Eigentumswohnung in São Paulo erholen möchte. Doch damit ist Schluss. Seit Ygor Silva in der Etage darüber eingezogen ist, findet er tagsüber keine Ruhe und in der Nacht keinen Schlaf mehr. »Klack klack klack« tanzen seine Klapperlatschen dem empfindsamen Mann förmlich auf dem Kopf herum, Kindergeschrei und Musik, schlagende Türen und feiernde Gäste, nächtliches Gelächter und peinliche Lustschreie muss er vernehmen, ohne ausweichen zu können. Unwillkürlich sind seine Antennen auf Empfang geschaltet, seine Ohren nach oben gerichtet, woher permanent neue Signale strömen.
Lärm, glaubt der Erzähler, könnte »zu den wirkungsvollen Stichwaffen gezählt« werden. Oder zu bestimmten Giften, »die zwar nicht töten, aber unsere Gesundheit ruinieren. Unser Leben zersetzen. Unseren Geist verwirren«.
Der Geplagte denkt nicht daran, in leidender Passivität zu verharren. Doch seine Aufforderungen zur Rücksichtnahme prallen an seinem Peiniger ab. Der kann das Problem nicht nachvollziehen. »Was Sie als Lärm bezeichnen, das bin ich, ein lebender Mensch. […] Leben ist laut.« Ein weiteres Korrektiv begegnet dem Lehrer in Gestalt seiner Ehefrau (deren heftige Affäre mit einem Jüngeren seine Gereiztheit nur weiter anstachelt). Als sie eines Morgens feststellt, dass ihr Mann des Nachts mit dem Besenstiel derart heftig gegen die Küchendecke geklopft hat, dass der Putz seine Haftung aufgegeben hat und heruntergerieselt ist, weist sie ihn wütend zurecht, er solle endlich von seiner übertriebenen Empfindlichkeit ablassen.
Doch der vormals »friedfertige, ehrliche« Erzähler kann das nicht. Ein Kleinkrieg der Gemeinheiten und Racheakte setzt ein. »Senhor Ypsilon« lässt die Luft aus einem Autoreifen, der Ruhesuchende uriniert im Gegenzug auf seine Zeitung. Ein Kratzer am einen Auto, eine lange Schlüsselspur im Lack des anderen. Das Maß solcher Scharmützel ist voll, als die geliebte Hauskatze Gala verschwindet. Von Ygor ermordet natürlich – kann es eine andere Erklärung geben?
Der Rasende gelangt an einen Nachschlüssel für Ygors Wohnung, dort kommt es zu einer unerwarteten Konfrontation, die Dinge nehmen ungebremst ihren Lauf, und schon hat der Biologielehrer ein neues Problem an der Backe: Wohin mit Ygors Leiche? Auch daran wird der Ärmste verzweifelt scheitern, und mit seiner Entlarvung endet der erste Teil dieses Kriminalromans ganz eigener Art.
Der zweite Teil beschreibt die Haftzeit des Täters im Gefängnis und den Prozess. Dank glücklicher Umstände darf er unter weniger desolaten Bedingungen leben als der brasilianische Durchschnittsverbrecher und braucht auch nur zwei Jahre auf den Beginn seiner Verhandlung zu warten. Er gewinnt einen Mitgefangenen als Freund und findet in dem geregelten Tagesablauf und der stupiden Arbeit endlich zu sich selbst, zu innerer Ruhe und Zufriedenheit. Hier kann er mit der nötigen Distanz über die schädlichen Wirkungen der »enormen Lärmverschmutzung der Städte und der akustischen Hysterie der Massenkultur« räsonieren, die Gewalt fördern und harmlose Mitbürger in Monster verwandeln können. Wenn er sich vor Augen hält, wie unsere Physis, ausgelöst durch »unerwünschte Geräusche«, Aggressionen aktiviert (»Die Klanghölle der Welt macht aus uns echte Todesmaschinen. Wir sind eine Gefahr für die Gesellschaft und für uns selbst.«), so gewinnt diese Aussage vor dem Hintergrund der Gewalt in Brasilien erheblich mehr Relevanz als für uns europäische Leser. Die Statistiken des Wiener United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) weisen für das Jahr 2016 in Brasilien 29,5 Tötungsdelikte pro 100.000 Einwohner aus (D: 1,2 – A: 0,7 – CH: 0,5).
Auch die Verteidigungsstrategie des Anwalts stützt sich auf einen geradezu mechanistischen Erklärungsversuch (der den Richter freilich nicht zu überzeugen vermag). Bedeutsamer ist aber ohnehin, dass der Häftling die verlorene Kontrolle über seine Handlungen, sein Selbstwertgefühl, sein Leben wieder gewinnt. Dazu tragen Erkenntnisse bei, die er mit seinen Mithäftlingen diskutiert: »Wenn es in dieser Geschwindigkeit weitergeht, haben wir in Brasilien bald mehr Männer im Knast als in Freiheit. Was sollen die Frauen da tun?« Es verwundert also nicht, dass der durch die Medien bekannt gewordene Mörder Liebesbriefe von einer Frau erhält und irgendwann zu einem »Intimbesuch« anreisen wird.
Patrícia Melo erzählt die teils realistisch, teils surrealistisch anmutenden Erlebnisse ihres Protagonisten ganz aus dessen egozentrisch gefärbter Sicht. Diese einerseits satirisch-witzig zu präsentieren, andererseits zu reflektieren und mit einer Gesellschaftsanalyse zu verbinden ist ein schwieriger Spagat.