Rezension zu »Der Nachbar« von Patrícia Melo

Der Nachbar

von


Ein empfindlicher Hausbewohner lässt sich von den Störgeräuschen eines Nachbarn zu extremen Maßnahmen hinreißen. Eine Satire über allgegenwärtige Egoismen.
Kriminalroman · Tropen · · 159 S. · ISBN 9783608503876
Sprache: de · Herkunft: br

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Das Nachbarhasser-Buch

Rezension vom 01.02.2019 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Solch nervende Erlebnisse kennt jeder. Man will einfach ein Weilchen seine Ruhe, und schon knattert ein Rasenmäher los, beginnt im Nebenhaus einer seine Terrasse zu kärchern, drängt ein vorüber­fahren­der Angeber der ganzen Straße durchs offene Autofenster seinen Musikge­schmack auf, toben Kinder ohne Einhalt durch die Wohnung drüber, plärren Menschen in ihre Smartphones, rattert ein Hub­schrau­ber übers Dach. Dürfen die das alles, ungeachtet meines Ruhe­bedürf­nisses?

Die Reizschwellen sind unterschiedlich hoch. Richtiger Krach kann die Gesundheit gefährden, und trotzdem wohnt mancher ganz entspannt mitten in der Großstadt. Besonders sensible Mitbürger pochen dagegen auf ihr behauptetes Recht und kämpfen vor Gericht, dass die Behörde Kuh- oder Kirchen­glocken oder Vogel­krei­schen aus dem benach­barten Zoo abstelle. Jedenfalls ist Stille in unserer hysteri­schen, lärmenden Welt ein für viele uner­schwing­licher Luxus.

Die brasilianische Autorin Patrícia Melo hat das Thema auf nur 160 Seiten in herrlich sarkasti­scher Weise zugespitzt (»Gog Magog«, übersetzt von Barbara Mesquita). Sie liefert ihren rundum gebeutelten und über­forder­ten Protago­nisten einem makabren Plot aus, der ihn vom armen Leidenden zum rächenden Mörder und schließlich zum Geläuterten macht. Der Ton, in dem sie diese Achter­bahn­fahrt erzählt, ist zunächst aus­gespro­chen witzig und satirisch überzogen – ein 5-Sterne-Feuerwerk brillant-origineller Ideen –, im zweiten Teil aber hinter­gründi­ger und besinn­licher, leider auch nicht mehr mitreißend. Da wird die Episode des ersten Teils eingebettet in größere Zu­sammen­hänge: die Aus­wirkun­gen eines ungehemmt ausgelebten Indi­vidualis­mus, die allgemein zunehmende Egozentrik, Ver­ständnis­losig­keit, Intoleranz und Maß­losig­keit, darüber hinaus den Zustand der brasiliani­schen Gesellschaft.

Der namenlose Ich-Erzähler ist 54 Jahre alt, Biologielehrer und mit einer Kranken­schwester verheiratet. Sein Arbeits­platz verschafft ihm nichts als Stress und Frustra­tionen, von denen er sich im Hort seiner Eigen­tums­woh­nung in São Paulo erholen möchte. Doch damit ist Schluss. Seit Ygor Silva in der Etage darüber eingezogen ist, findet er tagsüber keine Ruhe und in der Nacht keinen Schlaf mehr. »Klack klack klack« tanzen seine Klapper­latschen dem empfind­samen Mann förmlich auf dem Kopf herum, Kinderge­schrei und Musik, schlagende Türen und feiernde Gäste, nächtliches Gelächter und peinliche Lustschreie muss er vernehmen, ohne ausweichen zu können. Un­willkür­lich sind seine Antennen auf Empfang geschaltet, seine Ohren nach oben gerichtet, woher permanent neue Signale strömen.

Lärm, glaubt der Erzähler, könnte »zu den wirkungs­vollen Stichwaffen gezählt« werden. Oder zu bestimmten Giften, »die zwar nicht töten, aber unsere Gesundheit ruinieren. Unser Leben zersetzen. Unseren Geist verwirren«.

Der Geplagte denkt nicht daran, in leidender Passivität zu verharren. Doch seine Auffor­derun­gen zur Rück­sicht­nahme prallen an seinem Peiniger ab. Der kann das Problem nicht nach­voll­ziehen. »Was Sie als Lärm bezeichnen, das bin ich, ein lebender Mensch. […] Leben ist laut.« Ein weiteres Korrektiv begegnet dem Lehrer in Gestalt seiner Ehefrau (deren heftige Affäre mit einem Jüngeren seine Gereiztheit nur weiter anstachelt). Als sie eines Morgens feststellt, dass ihr Mann des Nachts mit dem Besenstiel derart heftig gegen die Küchendecke geklopft hat, dass der Putz seine Haftung aufgegeben hat und herun­tergerie­selt ist, weist sie ihn wütend zurecht, er solle endlich von seiner über­triebe­nen Emp­findlich­keit ablassen.

Doch der vormals »friedfertige, ehrliche« Erzähler kann das nicht. Ein Kleinkrieg der Gemein­heiten und Racheakte setzt ein. »Senhor Ypsilon« lässt die Luft aus einem Autoreifen, der Ruhesu­chende uriniert im Gegenzug auf seine Zeitung. Ein Kratzer am einen Auto, eine lange Schlüssel­spur im Lack des anderen. Das Maß solcher Scharmützel ist voll, als die geliebte Hauskatze Gala ver­schwin­det. Von Ygor ermordet natürlich – kann es eine andere Erklärung geben?

Der Rasende gelangt an einen Nach­schlüs­sel für Ygors Wohnung, dort kommt es zu einer unerwar­teten Kon­fronta­tion, die Dinge nehmen ungebremst ihren Lauf, und schon hat der Biologie­lehrer ein neues Problem an der Backe: Wohin mit Ygors Leiche? Auch daran wird der Ärmste verzweifelt scheitern, und mit seiner Entlarvung endet der erste Teil dieses Kriminal­romans ganz eigener Art.

Der zweite Teil beschreibt die Haftzeit des Täters im Gefängnis und den Prozess. Dank glücklicher Umstände darf er unter weniger desolaten Bedingungen leben als der bra­siliani­sche Durch­schnitts­verbre­cher und braucht auch nur zwei Jahre auf den Beginn seiner Verhandlung zu warten. Er gewinnt einen Mit­gefan­genen als Freund und findet in dem geregelten Tagesablauf und der stupiden Arbeit endlich zu sich selbst, zu innerer Ruhe und Zu­frieden­heit. Hier kann er mit der nötigen Distanz über die schädlichen Wirkungen der »enormen Lärm­verschmut­zung der Städte und der akustischen Hysterie der Massen­kultur« räsonieren, die Gewalt fördern und harmlose Mitbürger in Monster verwandeln können. Wenn er sich vor Augen hält, wie unsere Physis, ausgelöst durch »uner­wünschte Geräusche«, Aggres­sionen aktiviert (»Die Klanghölle der Welt macht aus uns echte Todes­maschi­nen. Wir sind eine Gefahr für die Gesell­schaft und für uns selbst.«), so gewinnt diese Aussage vor dem Hintergrund der Gewalt in Brasilien erheblich mehr Relevanz als für uns europäische Leser. Die Statistiken des Wiener United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC) weisen für das Jahr 2016 in Brasilien 29,5 Tötungs­delikte pro 100.000 Einwohner aus (D: 1,2 – A: 0,7 – CH: 0,5).

Auch die Verteidigungsstrategie des Anwalts stützt sich auf einen geradezu mechanis­tischen Erklärungs­versuch (der den Richter freilich nicht zu überzeugen vermag). Bedeutsamer ist aber ohnehin, dass der Häftling die verlorene Kontrolle über seine Handlungen, sein Selbst­wert­gefühl, sein Leben wieder gewinnt. Dazu tragen Erkennt­nisse bei, die er mit seinen Mithäft­lingen diskutiert: »Wenn es in dieser Ge­schwindig­keit weitergeht, haben wir in Brasilien bald mehr Männer im Knast als in Freiheit. Was sollen die Frauen da tun?« Es verwundert also nicht, dass der durch die Medien bekannt gewordene Mörder Liebes­briefe von einer Frau erhält und irgendwann zu einem »Intimbesuch« anreisen wird.

Patrícia Melo erzählt die teils realistisch, teils surrealistisch anmutenden Erlebnisse ihres Protago­nisten ganz aus dessen egozent­risch gefärbter Sicht. Diese einerseits satirisch-witzig zu präsen­tieren, anderer­seits zu reflek­tieren und mit einer Gesell­schafts­analyse zu verbinden ist ein schwieriger Spagat.


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