Kritische Masse
von Sara Paretsky
Die knallharte Privatdetektivin »V.I.« soll die verschollene Patientin ihrer Freundin suchen. Bald findet sie sich in der verflochtenen Geschichte zweier jüdischer Familien wieder, die sie vom Wien der Habsburger über die amerikanische Atomwaffenentwicklung bis in die heutige IT-Forschung führt.
Verschwunden: Mutter (drogensüchtig) und Sohn (IT-Spitzenkraft)
Victoria Iphigenia Warshawski ist Privatdetektivin in Chicago, und zwar eine von den wenigen ganz toughen ihres Metiers. Über ihre spannenden Fälle hat ihre Erschafferin Sara Paretsky, 1947 in Iowa geboren und in Kansas aufgewachsen, seit 1982 neunzehn Kriminalromane verfasst und fand mit ihnen internationale literarische Anerkennung. Auf Deutsch liegt jetzt in der Übersetzung von Else Laudan und B. Szelinski der sechzehnte Band vor: »Kritische Masse«, im Original 2013 erschienen (»Critical Mass« ).
Der Titel lässt schon erkennen, dass der Plot in den Bereich der Chemie und der Physik führt. Er holt überdies zeitlich und räumlich weit aus, bis in die amerikanische Nachkriegspolitik des Kalten Krieges und weiter zurück in die österreichische Vorkriegsentwicklung mit ihren düsteren Kapiteln. Dort wurzelt die Geschichte zweier Familien, der die Protagonistin nachgehen muss. Damit hat die Autorin eine Menge Schauplätze, historische Gegebenheiten, Personen und Handlungsfäden zur Verfügung, die sie souverän zu einer komplexen Krimihandlung verwebt.
Sara Paretskys Serienheldin ist Programm. Bereits 1986 gründete die Autorin gemeinsam mit einigen Kolleginnen die Organisation »Sisters in Crime«, die schriftstellerisch tätige Frauen im Genre der Krimiliteratur fördert. Ein deutscher Ableger »Mörderische Schwestern« wurde 2007 gegründet. Den Gruppen haben sich inzwischen mehr als dreihundert Autorinnen angeschlossen. So ist Victoria Iphigenia Warshawski in gewisser Weise eine feministische Kunstfigur, die mit gängigen Klischees aufräumen soll. Paretsky fand, dass Frauen in Krimis üblicherweise »entweder böse oder machtlos« waren, und wollte nun eine zeitgemäßere, »eine toughe, schlaue und liebenswerte Privatdetektivin« ins Rennen schicken. Diese attraktive Frau trägt einerseits sympathische weibliche Charakterzüge wie ihre Bindungsfähigkeit, andererseits zeigt sie ebenso viel Härte wie ihre männlichen Kollegen und kann sich mit Schusswaffe und Karate perfekt verteidigen wie diese. Dass sie ihre weiblichen Vornamen konsequent hinter den geschlechtsneutralen Kürzeln »Vic« oder »V.I.« verbirgt, kann man auch als Taktik verstehen: Fraulichkeit dürfte in ihrer männlich dominierten Profession als Makel betrachtet werden, also zieht sie es vor, sie nicht zu plakatieren.
Die Handlung wird um 2010 von Vics langjähriger Freundin Charlotte Herschel ausgelöst. Die jüdische Ärztin, 71, sorgt sich um eine seit Tagen nicht erreichbare Patientin. Die drogensüchtige Judy Binder, 50, hatte zuletzt ein elendes Dasein in einer Kommune auf einer zum Crackhaus verkommenen Farm auf dem Lande gefristet. Vic macht sich auf den Weg, doch die Farm ist verlassen. Außer einem zerstörten Meth-Labor findet sie eine von Wildtieren übel zugerichtete Leiche.
Judy Binder ist keine Patientin wie jede andere, sondern das Schicksal ihrer Familie ist seit einem Jahrhundert mit dem der Herschels verquickt. Judys Urgroßmutter Liesl Saginor trat vor dem Ersten Weltkrieg in den noblen Wiener Haushalt der Herschels ein, wo sie Näharbeiten übernahm und ihre eigene sechsjährige Tochter Martina beaufsichtigen konnte. Aus diesem Mädchen wurde eine Wissenschaftlerin, die im »Wiener Institut für Radiumforschung« und, obwohl Jüdin, in Deutschland bis 1943 an der Entwicklung der Atombombe mitarbeitete. Dennoch fand sie dann, soweit man weiß, auf dem Marsch ins Lager Sobibór den Tod.
Derweil musste die Familie Herschel ihre Villa verlassen und zog bei den Saginors in einem Wiener Elendsviertel ein. Dort musste sich die feine sechsjährige Charlotte Herschel notgedrungen mit der gleichaltrigen Käthe, Martinas unehelicher Tochter, befreunden, wobei der Einen Arroganz auf Hass und Eifersucht der Anderen stieß. Befeuert wurde die gegenseitige Abneigung der Mädchen noch durch Martinas Vorliebe, ihnen die Naturwissenschaften nahezubringen, denn Käthe brachte im Gegensatz zu Charlotte keinerlei Interesse dafür auf. Sie litt vielmehr ihr Leben lang darunter, dass alle Leidenschaft ihrer Mutter der Wissenschaft galt, während sie ihrem Kind keinerlei Liebe bewies.
Nach dem Krieg trennten sich die Wege der beiden Holocaust-Überlebenden. Während Charlotte Medizinerin wurde und in Chicago eine Klinik leitete, heiratete Käthe den GI Leonard Binder und lebte mit ihm und der einzigen Tochter Judy ebenfalls in Chicago.
»Kritische Masse« ist ein klassischer Ermittlerroman. Eine Privatdetektivin nimmt einen einfach erscheinenden Suchauftrag an und findet sich schnell inmitten einer rätselhaften Familiengeschichte voller schwerer Bürden und Verluste aus der Vergangenheit. V.I. Warshawski erhofft sich Aufschlüsse von Judys Mutter Käthe Binder, 71, doch die ist seit Langem verhärtet und verbittert aus Enttäuschung über ihre Tochter, die ihr Leben nicht in den Griff bekam, den Drogen verfiel und ihren Sohn Martin bei ihr ablud. Entgegen ihren Erwartungen litt der Junge allerdings nicht unter Hirnschädigungen, sondern entpuppte sich im Gegenteil als hochintelligentes Bürschchen.
Um Martin Binder, 20, dreht sich die Handlung in der Gegenwart. Der geniale IT-Nerd arbeitet in einem führenden Hightech-Energieunternehmen und ist wie seine Mutter seit zehn Tagen verschwunden. Sein Chef ist höchst beunruhigt, dass sich sein bester Mann mit brisantem Geheimmaterial, das sogar die Staatssicherheit gefährden könnte, abgesetzt haben könnte.
Über mehr als fünfhundert Seiten folgen wir der resoluten, zähen und auch gegen sich selbst knallharten Detektivin, die weder Cop noch FBI-Agent fürchtet. Ihr bleiben keine anderen Maßnahmen als in alle denkbaren Richtungen zu spekulieren, in Bibliotheken und im Internet zu recherchieren und die Vergangenheit der Familien Saginor und Binder zu erkunden. Dabei stößt sie auf die Namen von Wissenschaftlern, die nach dem Krieg in den USA mit offenen Armen aufgenommen wurden, um das Kernwaffenprogramm voranzubringen.
Sara Paretsky hält alle Fäden fest in Händen. Mit Ruhe und Gleichmaß erzählt sie über alle Zeitebenen und Handlungsschauplätze hinweg und vernachlässigt kein Detail. Langweilig wird es nie, denn ihre mit allen Wassern gewaschene, allzeit kampfbereite Heldin ist ein echter Haudegen, der keiner Auseinandersetzung ausweicht, aber auch mit Esprit und Intelligenz punktet. Nur bei den Cops ist sie nicht sonderlich gelitten – sie titulieren sie abfällig als »Schnüffler-Schlampe«.
»Kritische Masse« ist ein fesselnder Krimi-Schmöker mit politischem Touch, durchweg anspruchsvoll, plausibel konstruiert und anschaulich erzählt. Die harte Konfrontation mit übermächtigen Gegnern zwingt die Heldin bis an ihre Grenzen. Im mittleren Teil wird das Geschehen bei der Vielzahl involvierter Personen leicht unübersichtlich, doch die Autorin fängt den Leser mit einem überraschenden Schlussteil wieder ein.