Rezension zu »Kritische Masse« von Sara Paretsky

Kritische Masse

von


Die knallharte Privatdetektivin »V.I.« soll die verschollene Patientin ihrer Freundin suchen. Bald findet sie sich in der verflochtenen Geschichte zweier jüdischer Familien wieder, die sie vom Wien der Habsburger über die amerikanische Atomwaffenentwicklung bis in die heutige IT-Forschung führt.
Thriller · Ariadne · · 544 S. · ISBN 9783867542364
Sprache: de · Herkunft: us

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Verschwunden: Mutter (drogensüchtig) und Sohn (IT-Spitzenkraft)

Rezension vom 25.01.2019 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Victoria Iphigenia Warshawski ist Privatdetektivin in Chicago, und zwar eine von den wenigen ganz toughen ihres Metiers. Über ihre spannenden Fälle hat ihre Erschaf­ferin Sara Paretsky, 1947 in Iowa geboren und in Kansas auf­gewach­sen, seit 1982 neunzehn Kriminal­romane verfasst und fand mit ihnen inter­natio­nale literari­sche Anerkennung. Auf Deutsch liegt jetzt in der Übersetzung von Else Laudan und B. Szelinski der sechzehnte Band vor: »Kritische Masse«, im Original 2013 erschienen (»Critical Mass« Sara Paretsky: »Critical Mass« bei Amazon ).

Der Titel lässt schon erkennen, dass der Plot in den Bereich der Chemie und der Physik führt. Er holt überdies zeitlich und räumlich weit aus, bis in die amerika­nische Nach­kriegs­politik des Kalten Krieges und weiter zurück in die öster­reichi­sche Vorkriegs­entwick­lung mit ihren düsteren Kapiteln. Dort wurzelt die Geschichte zweier Familien, der die Protago­nistin nachgehen muss. Damit hat die Autorin eine Menge Schauplätze, historische Gegeben­heiten, Personen und Handlungs­fäden zur Verfügung, die sie souverän zu einer komplexen Krimi­hand­lung verwebt.

Sara Paretskys Serienheldin ist Programm. Bereits 1986 gründete die Autorin gemeinsam mit einigen Kolleginnen die Organi­sation »Sisters in Crime«, die schrift­stelleri­sch tätige Frauen im Genre der Krimilite­ratur fördert. Ein deutscher Ableger »Mörderische Schwestern« wurde 2007 gegründet. Den Gruppen haben sich inzwischen mehr als dreihundert Autorinnen ange­schlos­sen. So ist Victoria Iphigenia Warshawski in gewisser Weise eine feminis­tische Kunstfigur, die mit gängigen Klischees aufräumen soll. Paretsky fand, dass Frauen in Krimis üblicher­weise »entweder böse oder machtlos« waren, und wollte nun eine zeitge­mäßere, »eine toughe, schlaue und liebens­werte Privat­detek­tivin« ins Rennen schicken. Diese attraktive Frau trägt einerseits sympa­thische weibliche Charakter­züge wie ihre Bin­dungs­fähig­keit, an­derer­seits zeigt sie ebenso viel Härte wie ihre männlichen Kollegen und kann sich mit Schusswaffe und Karate perfekt verteidigen wie diese. Dass sie ihre weiblichen Vornamen konsequent hinter den geschlechts­neutra­len Kürzeln »Vic« oder »V.I.« verbirgt, kann man auch als Taktik verstehen: Frau­lich­keit dürfte in ihrer männlich dominierten Profession als Makel betrachtet werden, also zieht sie es vor, sie nicht zu plakatieren.

Die Handlung wird um 2010 von Vics langjähriger Freundin Charlotte Herschel ausgelöst. Die jüdische Ärztin, 71, sorgt sich um eine seit Tagen nicht erreichbare Patientin. Die drogen­süch­tige Judy Binder, 50, hatte zuletzt ein elendes Dasein in einer Kommune auf einer zum Crackhaus verkommenen Farm auf dem Lande gefristet. Vic macht sich auf den Weg, doch die Farm ist verlassen. Außer einem zerstörten Meth-Labor findet sie eine von Wildtieren übel zugerich­tete Leiche.

Judy Binder ist keine Patientin wie jede andere, sondern das Schicksal ihrer Familie ist seit einem Jahrhundert mit dem der Herschels verquickt. Judys Urgroß­mutter Liesl Saginor trat vor dem Ersten Weltkrieg in den noblen Wiener Haushalt der Herschels ein, wo sie Näharbeiten übernahm und ihre eigene sechs­jährige Tochter Martina be­aufsich­tigen konnte. Aus diesem Mädchen wurde eine Wissen­schaft­lerin, die im »Wiener Institut für Radium­for­schung« und, obwohl Jüdin, in Deutschland bis 1943 an der Entwicklung der Atombombe mitarbei­tete. Dennoch fand sie dann, soweit man weiß, auf dem Marsch ins Lager Sobibór den Tod.

Derweil musste die Familie Herschel ihre Villa verlassen und zog bei den Saginors in einem Wiener Elends­viertel ein. Dort musste sich die feine sechs­jährige Charlotte Herschel not­gedrun­gen mit der gleich­altrigen Käthe, Martinas unehelicher Tochter, befreunden, wobei der Einen Arroganz auf Hass und Eifersucht der Anderen stieß. Befeuert wurde die gegen­seitige Abneigung der Mädchen noch durch Martinas Vorliebe, ihnen die Natur­wissen­schaften nahezu­bringen, denn Käthe brachte im Gegensatz zu Charlotte keinerlei Interesse dafür auf. Sie litt vielmehr ihr Leben lang darunter, dass alle Leiden­schaft ihrer Mutter der Wissen­schaft galt, während sie ihrem Kind keinerlei Liebe bewies.

Nach dem Krieg trennten sich die Wege der beiden Holocaust-Überlebenden. Während Charlotte Medizinerin wurde und in Chicago eine Klinik leitete, heiratete Käthe den GI Leonard Binder und lebte mit ihm und der einzigen Tochter Judy ebenfalls in Chicago.

»Kritische Masse« ist ein klassischer Ermittlerroman. Eine Privat­detek­tivin nimmt einen einfach erschei­nenden Suchauftrag an und findet sich schnell inmitten einer rätsel­haften Famil­ienge­schichte voller schwerer Bürden und Verluste aus der Ver­gangen­heit. V.I. Warshawski erhofft sich Aufschlüsse von Judys Mutter Käthe Binder, 71, doch die ist seit Langem verhärtet und verbittert aus Ent­täu­schung über ihre Tochter, die ihr Leben nicht in den Griff bekam, den Drogen verfiel und ihren Sohn Martin bei ihr ablud. Entgegen ihren Erwartungen litt der Junge allerdings nicht unter Hirn­schädi­gungen, sondern entpuppte sich im Gegenteil als hoch­intelli­gentes Bürschchen.

Um Martin Binder, 20, dreht sich die Handlung in der Gegenwart. Der geniale IT-Nerd arbeitet in einem führenden Hightech-Energie­unterneh­men und ist wie seine Mutter seit zehn Tagen ver­schwunden. Sein Chef ist höchst beunruhigt, dass sich sein bester Mann mit brisantem Geheim­material, das sogar die Staats­sicher­heit gefährden könnte, abgesetzt haben könnte.

Über mehr als fünfhundert Seiten folgen wir der resoluten, zähen und auch gegen sich selbst knallharten Detektivin, die weder Cop noch FBI-Agent fürchtet. Ihr bleiben keine anderen Maßnahmen als in alle denkbaren Richtungen zu spekulieren, in Biblio­theken und im Internet zu recher­chieren und die Ver­gangen­heit der Familien Saginor und Binder zu erkunden. Dabei stößt sie auf die Namen von Wissen­schaft­lern, die nach dem Krieg in den USA mit offenen Armen aufgenommen wurden, um das Kern­waffen­pro­gramm voranzu­bringen.

Sara Paretsky hält alle Fäden fest in Händen. Mit Ruhe und Gleichmaß erzählt sie über alle Zeitebenen und Hand­lungs­schau­plätze hinweg und vernach­lässigt kein Detail. Langweilig wird es nie, denn ihre mit allen Wassern gewaschene, allzeit kampf­bereite Heldin ist ein echter Haudegen, der keiner Aus­einander­setzung ausweicht, aber auch mit Esprit und Intelligenz punktet. Nur bei den Cops ist sie nicht sonderlich gelitten – sie titulieren sie abfällig als »Schnüffler-Schlampe«.

»Kritische Masse« ist ein fesselnder Krimi-Schmöker mit politischem Touch, durchweg anspruchs­voll, plausibel konstruiert und anschaulich erzählt. Die harte Konfron­tation mit über­mächti­gen Gegnern zwingt die Heldin bis an ihre Grenzen. Im mittleren Teil wird das Geschehen bei der Vielzahl invol­vierter Personen leicht unüber­sicht­lich, doch die Autorin fängt den Leser mit einem über­raschen­den Schlussteil wieder ein.


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