Rezension zu »Wächter der See« von R. G. Grant

Wächter der See

von


Die faszinierende Entwicklung der Leuchttürme vom Pharos von Alexandria bis ins 20. Jahrhundert unterhaltsam und facettenreich beschrieben und reichhaltig illustriert
Sachbuch · Dumont · · 160 S. · ISBN 9783832199364
Sprache: de · Herkunft: gb

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Leuchttürme: Mythos und Ingenieurskunst

Rezension vom 16.08.2018 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Dunkelheit hat für den modernen Menschen ihren Schrecken verloren. Wenn die Sonne untergeht, knipsen wir das Licht an. Wie anders müssen unsere Vorfahren empfunden haben, wenn »the eye of heaven« (Shakespeare, Sonett 18) sich verborgen hatte und Mond und Sterne verhüllt waren. Was blieb dann als Schauder und Gottver­trauen? Das Gefühl hilflosen Ausge­liefert­seins an unsichtbare Mächte über Leben und Tod muss am ent­setzlichs­ten gewesen sein, wenn nicht einmal der Boden unter den Füßen Sicherheit und Orientie­rung bot: auf offener See. Wen in der Schwärze des Ozeans Luft und Strömungen über Richtung und Geschwin­digkeit seiner Bewegung täuschten, wessen Boot gegen einen unter den Wellen verborgenen Felsen stieß, war verloren.

Pharos von Alexandria (ca. 280 v. Chr.) (aus R.G. Grant: »Wächter der See«, S. 23)

Es muss ein kühner Kopf gewesen sein, der sich als Erster den düsteren Gewalten entgegenzu­stellen und die Finsternis herauszu­fordern wagte, um Seefahrern einen leuchtenden Wegweiser zu errichten. Gewiss haben Küstenbe­wohner schon immer Feuer entzündet, um Angehörigen weit draußen auf dem Meer die Heimkehr zu erleichtern. Maßstäbe aber setzte der Grieche Sostratos von Knidos. Er soll, so heißt es, vor etwa 2300 Jahren den Pharos von Alexandria erbaut haben, eines der sieben Weltwunder der Antike, der bis ins 14. Jahrhundert standhaft blieb. Mittelalter­liche arabische Gelehrte beschrieben ihn als etwa 140 Meter hohen, prachtvoll dekorierten Turm aus drei Segmenten.

Leuchtfeueranlage Westerheversand (1908) (aus R.G. Grant: »Wächter der See«, S. 149)

Der Dumont-Verlag hat nun einen wunderbaren Band veröffentlicht, der die Geschichte der Leuchttürme faszinierend, unterhalt­sam und facetten­reich beschreibt und reichlich illustriert. Verfasst hat ihn R. G. Grant, ein britischer Autor von histori­schen, technischen und militäri­schen Übersichten und Artikeln der »Encyclo­pedia Britannica«, unter dem Titel »Sentinels of the Sea: A Miscellany of Lighthouses Past« R. G. Grant: »Sentinels of the Sea: A Miscellany of Lighthouses Past« bei Amazon, und Heinrich Degen fertigte die Übersetzung. Anders als viele Kalender und Bildbände zum Thema setzt Grant nicht auf die Ästhetik spektaku­lärer Fotos von ein paar brandungs­umtos­ten Türmen, sondern auf die sachliche Ausein­anderset­zung mit Funktionen und Formen, Konstruk­tionen und Materialien, Standorten und Bauweisen, mit der Leistung von Architekten, Ingenieuren, Erfindern, Verwaltungs­organisa­tionen und Leucht­turm­wärtern und mit der sich wandelnden Bedeutung der Leuchttürme in der ganzen Welt. In seinem Textteil ist der Band entspre­chend systema­tisch struktu­riert, während der Bildteil etwa fünfzig Bauwerke nach dem Jahr ihrer Indienst­stellung auf mindestens einer bis vier ganzen Seiten vorstellt. Die Illustra­tionen sind größten­teils Baupläne und andere technische Zeichnungen, etwa zu den optischen Apparaten. Der Detail­reich­tum verlockt dazu, sich zu vertiefen, um zu verstehen.

Wir verstehen zum Beispiel, warum im 18. Jahrhundert weniger die Seeleute selbst auf die Errichtung technisch verbes­serter Leuchtfeuer drängten, obwohl jedes Jahr Tausende von ihnen auf den Weltmeeren den Tod fanden. Vielmehr trieben wie so oft Geld und Macht – Händler und Militärs – die Entwicklung voran. Hoch­interes­sant auch, dass ein wirklich wirksamer Schutz durch Leuchttürme erst im 19. Jahrhundert realisiert werden konnte, als deren Errichtung und Betreuung staatsnahen Organisa­tionen übergeben wurde. Zuvor war all dies der Initiative von Privat­leuten oder Gemeinden überlassen, wo es an Geld, Arbeits­kraft, Technik­kompe­tenz mangelte – und oft am Willen, denn am Strand angetrie­bene Wracks durften die armen Küstenbe­wohner gewöhnlich behalten.

Grants Buch lässt staunen über die Vielfalt der architekto­nischen Aus­prägun­gen von Leucht­feuern. Sind ältere Exemplare oft mächtige Stümpfe, streben neuere wie Nadeln über sechzig Meter in die Höhe. Filigrane Stahl­konstrukte scheinen Wind und Wellen weniger Widerstand zu bieten, während anderswo ein anheimelnd geducktes Wärterhaus mit einem gedrungenen Turmaufsatz Sicherheit und Geborgen­heit verspricht.

»Zündkerzen-Leuchtturm« (1914) (aus R.G. Grant: »Wächter der See«, S. 62)

Kenntnisreich erläutert der Autor, wie Bauformen durch Lage und Beschaf­fenheit des Standorts bestimmt wurden – und natürlich durch die zur Verfügung stehenden Techniken. In sandige, schlammige Untergründe schraubte man lange eiserne Träger mit Spiralenden, die oben eine Art Hütte aus Holz oder Metall trugen. Auf Felsen im Meer dagegen musste man, ehe der Turm aufgemauert werden konnte, gewaltige Steinblöcke heran­transpor­tieren, anlanden, im Gestein verankern oder Beton­gründun­gen gießen, so dass alles den unvor­stell­baren Kräften haushoher Wogen standhalten würde. Unglaub­liche Leistungen voll­brach­ten todesmutige, bärenstarke Arbeiter selbst auf dreißig Kilometer von der Küste entfernten Riffs und auf Inselchen, deren Oberfläche die meiste Zeit unter Wasser lag. Wenn nur bei stabilem Wetter und Niedrig­wasser gearbeitet werden konnte, wenn das rasende Meer fertige Stücke, schwere Werkzeuge oder gar Männer davonriss, dann konnten allein die vorbe­reiten­den Funda­mentie­rungen Jahre in Anspruch nehmen.

Kap Arkona (Entwurf: Karl Friedrich Schinkel, 1827) (aus R.G. Grant: »Wächter der See«, S. 48)

Überraschend, mit welch ästhetischen Qualitäten solche Zweckbauten aufwarten können. Viele Türme, auf Orkan­festig­keit ausgelegt, bestechen durch eine schlanke, sich elegant nach oben verjüngende Silhouette. Manche erhielten unerwartet hübsche Innendekors. Im 19. Jahrhundert orientierte man sich gern an mittel­alter­lichen Burgen mit zinnen­bewehr­ten Umgängen. Oft entzückt die Schönheit des bloßen Eisen­trag­werks, einer stählernen Wendel­treppe oder der kom­plizier­ten Messing­mecha­nik im Lampenhaus.

Leuchtturm auf Helgoland (1902) (aus R.G. Grant: »Wächter der See«, S. 35)

Kõpu, Estland (1531): Ein Wärter und 119 Stufen (aus R.G. Grant: »Wächter der See«, S. 121)

Waren Leuchttürme bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein Vorreiter wagemutigen Ingenieur­wesens und Förderer des rasant wachsenden globalen Seeverkehrs, so wurden ihre Funktionen nach und nach von neuen Erfindungen wie Funk und Radar übernommen und der einsame Beruf des Leucht­turm­wärters (dem Grant ein eigenes, anrührendes Kapitel widmet) durch Auto­matisie­rung ersetzt. Ihren Mythos üben sie freilich noch auf uns Heutige aus, so wie ihre Symbolkraft seit dem elisabe­thani­schen Zeitalter un­vermin­dert ist, als William Shakespeare Leuchtfeuer und Leitstern als Referenz für wahre Liebe wählte: »it is an ever-fixed mark, / That looks on tempests, and is never shaken; / It is the star to every wandering bark, / Whose worth's unknown, although his height be taken.« (Sonett 116)

Übrigens: Wenn Sie nach diesem Sachbuch voller abenteuer­licher Realitäten Lust auf einen Abenteuer­roman im Leuchtturm-Setting haben, empfehle ich Ihnen »Die Stille unter dem Eis« von Rachel Weaver [› Rezension].


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