Verschenkt
Das hübsch puristisch gestylte Buchcover treibt ein witziges Vexierspiel mit Realität und Fiktion: Das Auge fällt erst auf einige aufrecht stehende pastellfarbene Bücher; vor ihnen entlang tuckert eine winzige knallrote Familienlimousine; aus deren hinterem Seitenfenster schaut jemand heraus, gemütlich auf beide Ellenbogen gelehnt, so wie man aus einem Eisenbahnwaggon oder einer Wohnung heraus die Welt betrachtet ... Diese niedliche Szene – halb Bücherregal mit Spielzeugauto, halb Straße aus Buch-Häusern – stimuliert unsere Erwartung auf ein unterhaltsames und phantasievolles Buch für die ganze Familie.
Und ebenso pfiffig, verrätselt, gebrochen beginnt der Roman: Die 26-jährige Bibliothekarin Lucy Hull, Tochter einer jüdischen Mutter und eines russischen Vaters, dem Geschäfte mit der Mafia nachgesagt werden, hält Rückschau auf ihr Abenteuer, bei dem sie einen Jungen "gestohlen" hat. Aber ist sie ein "Bösewicht"? Sie ordnet sich ("Hull") ein zwischen "Huck" (Finn, dem Kumpan Tom Sawyers) und Humbert (dem erwachsenen Verführer von Nabokovs "Lolita"), und erzählt dann, was ihr, die "nicht der Held dieser Geschichte" (S. 8) sein will, widerfahren ist.
In der Kinderabteilung ihrer Bibliothek in Hannibal, Missouri, blüht sie auf, wenn sie einmal in der Woche den aufmerksamen Kleinen aus literarisch wertvollen Büchern vorliest. Der zehnjährige Ian Drake, ein intelligentes Ausnahmebürschchen, fasziniert sie besonders. Fast täglich leiht er sich neue Bücher aus. Doch eines Tages kreuzt seine aufgetakelte Mutter auf und präsentiert eine Liste: Tabu seien hinfort alle nicht jugendfreien Bücher, dazu die Themen Hexerei, Satanismus, Evolutionstheorie sowie Autoren wie Harry Potter [sic!], Roald Dahl, Louis Lowry und ähnliche ... "Und bitte keine Süßigkeiten", ergänzt die entzückende rothaarige Schönheit. Fortan steckt Lucy dem Jungen die Bücher, die sie ihm empfiehlt, heimlich zu.
Als Lucy eines Morgens ihre Bibliothek betritt, findet sie Ian, der zwischen den Buchreihen campiert hat. Er will weg und hat zu diesem Zweck schon sein Ränzchen gepackt. Seine religiös erweckte Familie, einer evangelikalen Gemeinschaft angeschlossen, hatte Ian nämlich für Pastor Bobs spezielle Bibelstunden eingeschrieben: Der kann (angeblich) vom rechten Weg Abgekommene (Schwule, Lesben usw.) umpolen und in dieser Hinsicht Gefährdete (wie Ian) vor ihrem Unglück bewahren.
Zunächst will Lucy den Jungen wieder nach Hause bringen, doch dann drängt der Knabe sie im Auto, sie solle doch "ganz einfach für eine Weile weiterfahren" (S. 107). So gleiten die beiden hinein in eine literarische Rutschpartie quer durch Amerika. Sie machen einen Kurzbesuch bei Lucys Eltern in Chicago. Mit Geldbündeln vom Vater und einer obskuren Schachtel für Onkel Leo fahren sie weiter. Bei dem erfährt Lucy, dass ihr Vater einst in Russland konspirativ tätig war und dann flüchten musste. Aber sie müssen weiter, denn Ian möchte auf jeden Fall das Grab seiner Großmutter besuchen, das sich angeblich auf einem Friedhof an der kanadischen Grenze befindet ...
Eine stringente Handlung darf man bei dieser Entführungsgeschichte ebenso wenig erwarten wie Fragen nach Motiven und Schuld. Zwar ist der Plot ganz in der konkreten Realität angesiedelt (fast-food, Snickers, Handy, Navi, Internet, Amazon ...), doch "realistisch" ist er nur bedingt. Lucy merkt schon, dass sie sich natürlich immer mehr in eine Straftat verstrickt ("mein Leben [...] hingeworfen und das seiner Eltern [...] zerstört", S. 126), doch tingelt sie weiter mit Ian durchs Land. Wenn sie sich identifizieren müssen, tischen sie die tollsten Geschichten auf. Und die Beziehung zwischen beiden dümpelt gleichförmig vor sich hin und bleibt oberflächlich.
Was den Roman reizvoll macht, ist das Spiel mit Vorurteilen und Klischees – über hochbegabte Kinder, über Russen, über Intellektuelle, über bigotte Südstaatler, über Regionen der USA und und und ... Dies alles wird ironisch überzeichnet und wirkt bisweilen wie ein Karikaturenband.
Das zweite Standbein des Romans ist, wie sich ebenfalls schon auf dem Cover abzeichnet, das Spiel mit Literatur. Da fallen die Namen Dutzender VIPs der britisch-amerikanischen Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: Jane Austen, Thomas Hardy, Vladimir Nabokov, William Thackeray, Theodore Dreiser, Roald Dahl, Lewis Carroll ... Die Autorin zitiert aus Gedichten, Gilbert-and-Sullivan-Werken, Kinderreimen, schottischen Volksliedern ... Sie würzt ihre Erzählung mit Anspielungen auf literarische Formen (populäre "How to ..."-Ratgeber, "Ten things ..."-Listen, Rollenspiele ...). Sie bricht die Perspektive der Ich-Erzählung hier und da durch (kursiv abgesetzte) Seitenblicke aus der dritten Person ("Die Bibliothekarin antwortete ...").
Doch leider wirkt dieses bunte Kaleidoskop nur zufällig zusammengewürfelt. Meist bleibt es beim name-dropping oder dem Zitat von ein paar Wörtern; die Aussagen zu all den vielen Werken, die genannt werden, weil Ian oder sonstwer sie schon gelesen habe, sind belanglos, beiläufig, blass, und sie tragen weder zu Fortgang noch Vertiefung der Ereignisse bei. Nach dem schönen Cover und den auf dem Schutzumschlag abgedruckten Lobpreisungen aus Booklist, der New York Times und dem Oprah Magazine empfand ich gerade diesen eklektischen Umgang mit Büchern und Literatur als enttäuschend flach.
Was bleibt, ist ein harmloses erzähltes Roadmovie mit einer geistig äußerst beweglichen und lebenstüchtigen jungen Bibliothekarin und einem altklugen, genialen Zehnjährigen – durchaus phantasievoll, in Maßen amüsant, vielleicht etwas zu wortreich und in jedem Fall sehr amerikanisch.