Rezension zu »Samuels Buch« von Samuel Finzi

Samuels Buch

von


Der bekannte Film- und Theaterschauspieler Samuel Finzi erzählt seine Kindheit und Jugend im sozialistischen Bulgarien der Siebziger- und Achtzigerjahre.
Autobiographie · Ullstein · 224 S. · ISBN 9783550200434
Sprache: de · Herkunft: de

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Privilegien und Humor machen den Sozialismus erträglich

Rezension vom 24.09.2023 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Samuel Finzi, 1966 in Plovdiv geboren, ist ein bulga­risch-deutscher Schau­spieler. Kaum zählbar sind die Filme, in denen er in Haupt- und Neben­rollen zu sehen ist. Am popu­lärsten wurde er wohl als ergebener Diener Carlos in der vier­teili­gen TV-Serie um den Lebemann »Allmen« (nach den Roman­vorlagen von Martin Suter). Auf den Theater­bühnen hat er bedeu­tende Rollen souverän gemeis­tert, daneben in Hör­spielen mitge­wirkt. Neben vielen weiteren Aus­zeich­nun­gen erhielt er 2016 den Deutschen Schau­spiel­preis in der Kategorie »Bester Schau­spieler in einer komö­dianti­schen Rolle« für »Worst Case Scenario«. Nun hat er seine Auto­biografie vorgelegt, worin er von seiner Kindheit und Jugend im Bulgarien der Sieb­ziger- und Acht­ziger­jahre erzählt.

Dem Einzelkind mit jüdischen Wurzeln ist das künstle­rische Talent schon in die Wiege gelegt. Der Vater, Itzhak Finzi, ist ein gefragter Schau­spieler, seine Mutter, Gina Taba­kova, eine renom­mierte Pianistin. Die Familie gehört damit zur privile­gierten Klasse in der sozialis­tischen Gesell­schaft des Landes. Abgesehen von gele­gent­lichen Seiten­hieben auf das diktato­rische Unter­drückungs­regime geht der Autor aller­dings kaum auf politi­sche Aspekte ein, sondern bleibt im Bereich privater Erleb­nisse, ohne Pathos und ohne viel Aufhebens.

Samuel, als Junge »Sancho« genannt, verbringt seine Kindheit sowohl in der Haupt­stadt Sofia, wo die Eltern arbeiten, als auch in Plovdiv, Bulga­riens zweit­größter Stadt, wo die Groß­eltern leben. Bei seinen Kumpeln ist er je nach Aufent­haltsort mal »ein kopele, ein Bastard, ein zuge­zoge­ner Angeber aus der Haupt­stadt«, mal ein »maina, ein […] Pro­vinzler«. Statt sich darüber zu ärgern, genießt er die »doppelte Staats­ange­hörig­keit« und vertei­digt die Vorteile der jeweils anderen Seite.

Die Mutter möchte ihr Kind viel­seitig fördern und lässt ihn zunächst einen fran­zösi­schen Kinder­garten besuchen. Die Schulzeit ist von ständigen Schul­wechseln geprägt, die Samuel mit unter­schied­lichen metho­disch-didak­tischen Ansätzen kon­fron­tieren. Die Grund­schul­lehre­rin merkt früh, dass er unter­fordert und gelang­weilt ist, und schlägt eine expe­rimen­telle Schule ohne Noten­gebung vor. Weil das nicht lange gut geht, wird Samuel schließ­lich an einer Elite­schule ange­meldet, wo die Kinder der Sozia­lismus-Bonzen ganz reaktio­när in Latein, Alt­grie­chisch und Sanskrit unter­rich­tet und ganz groß­bürger­lich in dicken schwarzen Limou­sinen hin und her kut­schiert werden. Die außer­gewöhn­liche Schule steht unter der Schirm­herr­schaft der Kultur­minis­terin Ljudmilla Schiwkowa, Tochter von Todor Schiwkow, Führer der Kom­munis­tischen Partei und Staats­ober­haupt von Bulgarien.

Auch wenn Samuels Eltern anderes behaupten, gehören sie natürlich zur privile­gierten Schicht der ›klassen­losen‹ Gesell­schaft, wes­wegen der Junge mehr Freiräume genießen kann als die aller­meisten Alters­genos­sen. Das erkennt man zum Beispiel in seinen Erzäh­lungen über die Sommer­ferien am Schwarzen Meer. Man fliegt dorthin, denn »Fliegen war für den einfachen sozialis­tischen Bürger er­schwing­lich und galt nicht als Luxus«. Am Ziel feiert die Bohème der Künstler­fami­lien dann wieder unter sich und unbe­obach­tet, tanzt, singt und säuft bei ausge­lasse­nen Partys, und auch die Kinder sind Herren ihrer eigenen Zeit.

Als weiteres kostbares Privileg der Elite-Familie Finzi fallen ihre Reisen in den Westen ins Auge, durch die die Mutter Samuels Weltbild gezielt erweitert. Dank hilf­reicher Freunde und Ver­wandter im Ausland fällt es nicht schwer, die strengen Vorgaben der sozialis­tischen Willkür­herr­schaft zu erfüllen, mit denen das gemeine Volk am Weglaufen gehindert werden soll: Nur wer eine Einladung vorweisen und – als Sicher­heit, dass man auch zurück­kehrt – viel Geld hinter­legen kann, darf auf gnädige Zuteilung eines Visums hoffen. Aber auch Samuels Mutter führt ein strenges Regiment. Ihr Reise­pro­gramm ist straff durch­organi­siert, damit der Junge in Venedig, Florenz, Siena, Lyon und Paris aristo­krati­sche und bürger­liche Kultur auf­saugen darf, aber keines­falls den Giften des savoir vivre oder gar den Verfüh­rungen der west­lichen Konsum­gesell­schaft erliegen soll. Als kurz vor Ende der Schulzeit eine Klassen­fahrt nach Griechen­land geht, bekommt deren Höhe­punkt – im Amphi­theater von Delphi selber ein Euri­pides-Drama im Original aufzu­führen – Konkur­renz vom heim­lichen Besuch der frei­laufen­den Jugend in einem Athener Porno­kino.

Samuel Finzis Memoiren – sein Blick zurück auf Heimat und Herkunft, auf die in alle Winde verwehte Ver­wandt­schaft, auf seine ersten Beob­achtun­gen fremder und eigener körper­licher Erre­gungen und auf viele weitere Themen – sind eine locker ver­knüpfte Reihe von Anek­doten, stil­sicher, unter­haltsam, warm­herzig und mit Esprit und Schalk im Nacken erzählt. Schon die Kapitel­über­schriften machen Appetit (»Was haben ein Schaf und ein Atten­tat gemein­sam?«).

Vor dem Wehrdienst scheinen alle jungen Männer gleich, wie das Kapitel »Von Fanfaren und Ziegen« nahelegt. Mit neunzehn wird Samuel dem Fanfaren­dienst zugeteilt. Da er von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, sind Blamagen, Demüti­gungen und Anfein­dungen unaus­weich­lich. Ein Spross der Ober­klasse sollte auch solchen Unan­nehm­lich­keiten ein Schnipp­chen schlagen können. Papas Bezie­hungen bahnen den Weg zu einer drama­tischen Diagnose (»manische Depres­sion mit Suizid­gefahr«). Das uner­bitt­liche Militär zeigt sich indes unbe­ein­druckt, so dass der Wehr­pflich­tige, nachdem eine kurze statio­näre Behand­lung in einer Psychia­trie seine Symptome etwas gebessert hat, doch noch in der vorge­sehenen Einheit landet, und die hatte »den Status einer Straf­kolonie«.

Obwohl der Autor sich als ganz normaler Typ präsen­tiert, scheinen seine Talente und sein Aus­nahme­werde­gang zwischen den Zeilen immer durch. Nach ersten Erfah­rungen in einer Jugend­theater­gruppe bewirbt er sich erfolg­reich an der Staat­lichen Theater- und Film­akade­mie in Sofia, kann dann dank eines Erbes von Tante Rosa aus São Paulo eine Theater­schule in Paris besuchen, wo ihn freilich die Arro­ganz des Direk­tors mit schnee­weißem Seiden­schal und weißen Hand­schuhen ebenso abstößt wie das Posen­hafte der Schau­spiel­schüler samt ihrer perfekten Artiku­lation (»viel Spucke«). Aus einer Phase völliger Des­orientie­rung rettet ihn schließ­lich ein inter­natio­naler Work­shop in Bonn.

Viele Jahre später landet Finzi im Dezember 1989 mit einer bulgari­schen Passagier­maschine in Berlin-Schöne­feld. Noch fühlt er sich als Fremder im Feindes­land, hat den Eindruck, als Geheim­agent in einem sowje­tischen Kinofilm über den zweiten Welt­krieg mitzu­wirken. Auf den Straßen »ver­schluckt ihn der Berliner Nebel«. Aber bald betritt der um­triebige Mann aus dem Nebel die deutschen Bühnen, um deutlich sichtbar zu werden.


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