Rezension zu »Dalee« von Dennis Gastmann

Dalee

von


Ein kleiner Junge reist mit seiner Familie und ihrem Arbeitselefanten zu einer ungastlichen Insel im Indischen Ozean. Das Einleben dort ist hart, aber die Freundschaft zu dem Tier innig und unverbrüchlich – bis es vom Alter eingeholt wird. Ein farbenprächtiger Roman voller Exotik, Abenteuer, Realismus, Poesie und Tragik.
Abenteuerroman · Rowohlt · · 416 S. · ISBN 9783737100908
Sprache: de · Herkunft: de

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Freund, Gefährte – und Gefahr

Rezension vom 03.09.2023 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Dennis Gastmann, 1978 in Osnabrück geboren, arbeitet seit vielen Jahren als Jour­nalist, Filme­macher und Reise­reporter für diverse Magazine und Formate des öffent­lich-recht­lichen Rund­funks. Seine Erleb­nisse bei unge­wöhnli­chen Reisen in der ganzen Welt veröf­fent­lichte der Aben­teurer und Welten­bumm­ler zudem in etlichen Büchern, und persön­liche Ein­drücke sind sicher auch in seinen ersten Roman einge­flossen, der 2023 erschie­nen ist. Schon der exotische Schau­platz weckt Neugier, und die Plot-Zu­sammen­fassung des Rowohlt-Ver­lages ver­spricht eine spannende Handlung voller Wagnisse, Schick­sals­schläge, Hoff­nungen, Erfolge und Verluste in einer Phase des politi­schen Umbruchs. Um das Fazit vorweg­zuneh­men: »Dalee« erfüllt all diese Erwar­tungen aufs Beste und ver­zichtet übrigens auf jegliches moralisch-sozial­pädago­gisches Begleit­programm. Wir dürfen aus der brillant und bildreich erzählten, faszi­nieren­den und anrüh­renden Geschichte unsere eigenen Schlüsse ziehen.

Die Handlung beginnt in Kalkutta und verlagert sich dann auf die Andamanen, eine Insel­kette im Golf von Bengalen. Bis zur Unab­hängig­keit Britisch-Indiens war sie eine britische Straf­kolonie für Aufstän­dische, Ver­brecher und politi­sche Gefangene. Nach der »Partition of India« (Auftei­lung der Ex-Kolonie in das hinduis­tische Indien und das islami­sche Pakistan) und ihrem millionen­fachen Blutver­gießen siedelte die indische Regierung Tausende Hindu-Flücht­linge aus Ostben­galen auf den fast menschen­leeren Inseln an.

Auch die Familie unseres elfjäh­rigen Ich-Erzählers Bellini be­schließt 1948, Kalkutta zu verlassen. Sie folgt den Verlo­ckungen, die ein reicher Visionär, Mister Ray (»Rupee«), unter die Leute brachte. Nach nur zwei, drei Tagen auf See würden sie »ein Leben ohne Sorgen« auf einer von zwei­hundert smaragd­grünen Inseln 1.300 Kilometer südöst­lich von Kalkutta erwarten.

Die Männer in Bellinis Familie sind tradi­tions­gemäß Führer von Arbeits­elefan­ten. Dies ist ein altehr­würdiger Beruf, denn so ein »Mahut« lebt sein Leben in engster Verbun­den­heit mit seinem starken, intelli­genten und sensiblen Riesen­tier, dessen Charakter er durch und durch kennen und respek­tieren muss, damit es ihm Vertrauen, Gehorsam und schwerste Arbeit schenkt. Von Anfang an steht fest, dass auch Bellini Mahut wird, und er hat bereits eine innige Beziehung zu Dalee, dem Elefanten seiner Familie.

Als es an Bord des Dampfers geht, muss daher auch Dalee mit. Wie seine elf mitrei­senden Artge­nossen wird er gefesselt und in eine enge Kiste gepfercht. Damit die Tiere die Tortur ertragen, bleiben Bellinis Vater und die anderen Mahuts Tag und Nacht bei ihnen im Bauch des Schiffes, um ständig präsent zu sein, sie aufmerk­sam zu beob­achten, zu füttern, zu pflegen und immer wieder zu beruhigen.

Die Schilderung des Treibens und der Zustände auf dem hoff­nungs­los über­ladenen Schrauben­dampfer ist ein erzähle­risches Glanz­stück und lässt ein Feuerwerk von Sinnes­ein­drücken explo­dieren. Auf und unter Deck ist jede Bevöl­kerungs­gruppe des Sub­konti­nents vertreten: »Jäger und Fährten­leser, Tischler und Zimmerer, Topf­rührer und Messer­wetzer, Reis­pflanzer und Küsten­fischer […], Land­lose aus Kerala, Versto­ßene aus Ostben­galen, Hunger­leider aus Bihar […], Mütter und Väter, Töchter und Söhne […], Säuglinge in verlaus­ten, staub­ver­dreckten Tüchern, manche ohne Namen, ohne Ursprung, fremd, entwur­zelt und heimat­los«. In der glühenden Hitze des finsteren Schiffs­bauchs halten die »Schwarzen« die lodernden Feuer in den Kessel­öfen am Leben. Ihre ver­brannten Arme sind von den Werk­zeugen ihres hölli­schen Daseins gezeich­net.

Die Ankunft im versprochenen gelobten Land sorgt für Ernüch­terung. Ein paar Inselbe­wohner, von Narben und schlecht verheil­ten Wunden entsetz­lich entstellt, rudern Mensch und Tier an Land. Sie begreifen nicht, warum man ausge­rechnet hierher gereist ist, denn »auf diesen Inseln wirst du nichts weiter finden als Monster, Menschen­fresser und Mörder«. Jetzt bestätigt sich für die Neu­ankömm­linge, was ihnen ein Besat­zungs­mitglied während der Überfahrt ausgemalt hatte: Ihr Ziel sei Kala Pani (dt. »Schwarzes Wasser«), berüch­tigt für sein grau­sames Gefängnis mitten in der Wildnis.

Statt eines Paradieses finden die Ange­reisten einen weglosen Dschungel vor, der erst einmal gerodet werden muss, ehe er den Menschen viel­leicht eines Tages ermög­licht, dort zu leben. Aber die tausend­jährigen Bäume des Regen­waldes sind von Lianen und Bromelien undurch­dring­lich umrankt, tierische Wach­posten wie Blutegel und Tiger­mücken schützen das Dickicht vor Zudring­lingen, so dass sich die Siedler vor schier unmög­liche Aufgaben gestellt sehen. Nach Wochen des Schuftens mit der uner­müdli­chen Hilfe der unver­zicht­baren Arbeits­elefanten und tatkräf­tiger Unter­stützung durch die Mörder aus dem ehe­maligen Folter­gefäng­nis von Port Blair ist eine kleine Lichtung freige­schlagen, auf der nach und nach ein­fachste Hütten errichtet werden.

Wer ist eigentlich die Haupt­person dieses so poeti­schen wie gnadenlos realis­tischen Romans – Bellini, der kleine indische Junge, oder Dalee, sein dick­häutiger Gefährte? Wir lernen die beiden gleich zu Beginn des Buches in ihrer engen Ver­bunden­heit kennen. Bellini ist ein glück­liches Kind, weil er tagtäg­lich entdecken und bestaunen darf, welche Wunder der »Große Graue« bereit­hält. Im Wasser der Lagune, wo das gewich­tige Landtier »sein wahres Element gefunden« hat, schwimmt es wie schwere­los »mit der Anmut eines Rochens«, »königlich wie eine Karett­schild­kröte«. Derweil lässt sich das Kind mit ange­halte­nem Atem auf den Grund sinken und beob­achtet, was der Riese mit seinen Beinen, den wehenden Ohren, dem Rüssel anstellt.

Doch die neue Heimat ist kein Platz für Idylle. Keiner der mittel­losen, gut­gläu­bigen Menschen ahnt auch nur annähernd, was Mister Ray, der goldbe­ringte Menschen­fänger von könig­licher Erschei­nung, mit ihnen vorhat. Das von ihm gegrün­dete Unter­nehmen soll ihm selbst­verständ­lich Reichtum bescheren, sonst nichts. In einem pompösen Aufzug flaniert der Kaufmann aus dem fernen Kalkutta eines Tages durch die zuvor noch nie besuchte Siedlung, begleitet von einem feinen Ehepaar aus Europa und ihrem umfäng­lichen Gepäck.

Die Prozession ist eine weitere Gelegen­heit für den Autor, uns tief in die sinn­lichen Erfah­rungen von Bellini und seiner armen Familie mitzu­nehmen. Die euro­päische Mistress trägt ein helles Gewand und einen Rüschen­schirm, einzig vergleich­bar mit einem »Seiden­reiher im Pracht­kleid … mit Schmuck­federn auf dem Schopf«, und hinter ihnen folgt eine »Karawane der Wunder«: eine Badewanne auf Tiger­füßen, ein Vogel­käfig wie ein Palast, Gemälde und nie gesehene, rätsel­hafte Objekte wie ein »Tischchen mit Schwung­rad und Pedal«. Auch das Aussehen der großen Weißen gibt Anlass zum Staunen und Bewundern, etwa ihre lang­fingri­gen, zarten Hände: »Ihre Innen­flächen unter­schieden sich kaum von unsern, [aber …] auf dem Hand­rücken war es, als hätte jemand die Farbe vergessen, so bläulich traten die Gefäße unter der ge­spren­kelten Haut hervor«. Mister Ray heißt das Paar »Will­kommen in Maya Bandar«, und schon bald wird es hier neue Sitten einführen.

Dennis Gastmanns Roman »Dalee« liest sich wie ein Märchen für Erwach­sene. Jede Szene ist mit Hingabe, Präzision und sprach­licher Kraft gestaltet, so dass wir in eine fremde Welt eintau­chen und unver­gess­liche Bilder entstehen.

Die Handlung erschließt ein breites Themen­spektrum. Zu den Aben­teuern der Reise, der müh­seligen Ansied­lung auf den Anda­manen, der Aus­einan­der­set­zung mit Mister Ray und seinen Ver­waltern und der interes­santen Beziehung zwischen Mensch und Tier tritt eine so origi­nelle wie tragische Entwick­lung. Ganz im Gegensatz zum sprich­wört­lichen ›Ele­fanten­gedächt­nis‹ verliert Dalee mit den Jahren sein Erinne­rungs­vermögen. Da auch sein Augen­licht nachlässt, weiß er seine Aufgaben immer weniger zu erledigen und erkennt zuletzt kaum noch seinen Begleiter. Der treue Helfer wird dadurch zur Gefahr.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2023 aufgenommen.


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