Rezension zu »Der Dirigent« von Sarah Quigley

Der Dirigent

von


Historischer Roman · Aufbau · · Gebunden · 398 S. · ISBN 9783351035020
Sprache: de · Herkunft: gb

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Die Anti-Kriegs-Sinfonie

Rezension vom 20.01.2013 · 22 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

"Ich widme meine Siebente Sinfonie unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem unabwendbaren Sieg über den Feind, und Leningrad, meiner Heimatstadt", verkündete Dmitri Schostakowitsch laut Prawda vom 29. März 1942 anlässlich der Moskauer Premiere der sogenannten "Leningrader" Sinfonie. Der berühmte Komponist hatte das programmatische Werk schon früher konzipiert, aber erst unter dem Eindruck der grausamen, unnachgiebigen Belagerung Leningrads durch Hitlers Truppen niedergeschrieben, in Kuibyschew vollendet und dort als musikalische Kampfansage erstaufführen lassen. Auf abenteuerlichen Wegen nach Leningrad und außer Landes gebracht, entwickelte sich die 7. Sinfonie in C-Dur (op. 60) dank ihrer musikalischen Kraft und Qualität schnell zu einem grandiosen Welterfolg, unabhängig von ideologischen Ausrichtungen.

Die neuseeländische Autorin Sarah Quigley (1967 geboren und seit 2000 in Berlin lebend) lässt diese Entstehungsgeschichte nun in einem Roman - "Der Dirigent" - fiktional aufleben. Das ist packende, authentische Zeitgeschichte mit Figuren, die voller Leben sind. Das Thema sollte Sie nicht von der Lektüre abhalten - die Lektüre erfordert kein musikalisches Vorwissen, wie auch die Sinfonie selbst nicht näher interpretiert wird.

Leningrad 1941: Der 2. Weltkrieg tobt. Hitlers Truppen sind weit vorgerückt und belagern die Stadt, entschlossen, sie auszuhungern. Kurz bevor der Kordon geschlossen wird, können deutsche Bürger und die russische Elite die Stadt verlassen. Auf Anweisung Stalins werden auch das Philharmonie-Orchester mit seinem Dirigenten Jewgeni Alexandrowitsch Mrawinski und das Ensemble des Kirow-Balletts evakuiert.

Der Komponist Schostakowitsch nutzt das Privileg der Flucht nicht - zum Leidwesen seiner Frau Nina, die ihre Kinder gern in Sicherheit gebracht hätte. Doch Schostakowitsch will vor Ort bleiben: "ohne Leningrad wäre ich nichts". Er bewirbt sich für den Militärdienst, wird wegen schlechten Sehvermögens ausgemustert und dient dann der Stadt in der Bürgerwehr. Vor allem aber treibt den Ruhelosen seine Musik an; sie ist "wie eine Dampflok". Wenn er von seinen Einsätzen während der schweren Bombardements zurückkehrt, erwartet ihn das häusliche Chaos: die tobenden Kinder, seine ständig mit ihm streitende Frau, und dazu toben in seinem Kopf die Tonfolgen einer Sinfonie, die er um jeden Preis niederschreiben muss.

Karl Eliasberg, 40, ist der Dirigent des Radioorchesters Leningrad. Neben dem renommierten Philharmonie-Orchester verblassen er und seine Truppe als 2. Garde, "ein Orchester von Verlierern, mich selbst eingeschlossen". Sein Neid ist unüberhörbar. Eliasberg ist pedantisch, ungelenk, stottert; Pünktlichkeit geht dem Kind eines Schumachers über alles. Immer wieder muss er sich dumme Sprüche und beleidigende Lacher seiner Musiker anhören. Auch Liebe ist dem Einzelgänger bisher versagt geblieben. Zuhause erwartet ihn seine besserwisserische, schrullige Mutter, die an den Rollstuhl gefesselt ist. Wenngleich Eliasberg die musikalische Ausdruckskraft der Kompositionen Schostakowitschs bewundert, gehört er nicht zum erlesenen Kreis rund um den Maestro.

Im Herbst 1941 wird Schostakowitsch mit seiner Familie aus der Kriegshölle nach Kuibyschew evakuiert, wo er seine 7. Sinfonie im Frühjahr 1942 vollendet. Da ist das Radioorchester in Leningrad mittlerweile aufgelöst worden. Als Leningrad fast vor dem endgültigen Zusammenbruch steht, erhält Eliasberg den offiziellen Auftrag des Kulturministeriums, die verbliebenen überlebenden Musiker zu sammeln, ein Orchester zusammenzustellen und mit ihnen die neue Sinfonie einzustudieren. Was man kaum für möglich hält, gelingt: Nachdem die Partitur trotz Luftblockade Leningrad erreicht hatte, führt am 9. August 1942 eine arg dezimierte Besetzung, ein "Saal voller Skelette", das aufrüttelnde Werk mitten in der belagerten Stadt auf. Alle sowjetischen Rundfunksender übertragen das Ereignis; auch auf die Belagerer werden Lautsprecher gerichtet. Die Musik "regnete auf die russischen und deutschen Soldaten nieder, die in ihren Schützengräben kauerten, und nahm ihnen die Angst und den Zweck ihres Tuns - und damit würde doch sicher alles wieder gut" ...

Sarah Quigleys Roman "Der Dirigent" bietet Zeitgeschichte in mehreren Facetten. Mit der "Leningrader Blockade" erleben wir eines der schlimmsten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht und seine brutalen Folgen ganz unmittelbar. Im Verlauf von 872 Tagen ließen zwischen 800.000 und eine Million Einwohner unter erbärmlichsten Umständen ihr Leben. Auch die wieder ins Leben gerufene Miniorchestertruppe ist am Rande ihrer körperlichen Belastbarkeit. Zwar erhalten sie erhöhte Lebensmittelrationen, doch kennt jeder noch Bedürftigere, denen er etwas davon abgibt. So können sie kaum ihre Instrumente halten, brechen während der Proben zusammen, fallen vor Entkräftung in Ohnmacht. Aber alle schöpfen Kraft aus der Musik: Die einen geben ihr Bestes, um ein Kunstwerk zu erschaffen, und die Zuhörer saugen die Botschaft des Durchhaltens auf.

Sich in jener Zeit und an jenem Ort künstlerisch zu engagieren ist per se eine außergewöhnliche Selbstaufopferung. Insbesondere huldigt die Autorin in dieser Hinsicht dem Dirigenten Karl Eliasberg, der "wie ein einsamer Mann vor dem Erschießungskommando" bis zum Ende durchhält und die denkwürdige Aufführung ermöglicht. An dieser Aufgabe wächst er als Persönlichkeit: Mit eisernem Regiment zieht er die Proben durch, um endlich auf dem Olymp anzukommen, gleichzuziehen mit all den weltberühmten St. Petersburger und Leningrader Dirigenten vor ihm. Er erntet nicht nur Beifallsstürme und Anerkennung, sondern entdeckt bei sich, dass er ein Herz hat; endlich kann er sich auch für seine Mitmenschen öffnen, und die lange belastende Einsamkeit schwindet.

Aus ganz anderem Holz ist Schostakowitsch geschnitzt. Seiner Fähigkeiten als Musiker bewusst, wirkt er nach außen arrogant. Natürlich wird er im stalinistischen System kritisch beobachtet und muss immer damit rechnen, urplötzlich abgeführt, verhört und verschleppt zu werden. Trotzdem hält er seine Einstellung zum Krieg nicht zurück. "Unsere Befehlshaber sind Meister des Chaos. [...] Wir sind in den Händen von Dummköpfen und Idioten." In seinen Memoiren (deren Echtheit allerdings umstritten ist) schreibt er: "Ich empfinde unstillbaren Schmerz um alle, die Hitler umgebracht hat. Aber nicht weniger Schmerz bereitet mir der Gedanke an die auf Befehl Stalins Ermordeten."

In einer historischen und menschlichen Ausnahmesituation komponiert Schostakowitsch sein Meisterwerk. Er ist ein Nervenbündel, in dessen Kopf nie Stille herrscht, der alle Geräusche und Eindrücke um ihn herum aufnimmt und in ausdrucksstarke Musik umsetzt. Dass er an einer Sinfonie arbeitet, sollte noch gar nicht bekannt werden, doch Eliasberg - vielleicht der eigentliche Protagonist des Romans - ist zufällig vor Ort, hört den Meister am Klavier und erkennt, um seine Meinung gefragt, sogleich: "Es wird Ihre Eroica werden".

Sarah Quigleys Roman "The Conductor" Sarah Quigley: 'The Conductor' bei Amazon wurde von Bettina Arbanell ins Deutsche übersetzt. Als Knüller legt der Aufbau-Verlag der limitierten Erstausgabe eine CD bei (eine Kopie der Naxos-Aufnahme von 2004 mit Dmitry Yablonsky und dem Russian Philharmonic Orchestra), so dass man auch "erhören" kann, wovon im Buch die Rede ist.


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