Rezension zu »Power« von Verena Güntner

Power

von


Der Hund einer alten Frau verschwindet. Eine Elfjährige macht sich auf die Suche nach ihm und geht dabei eigenwillige Wege. Als auch alle Kinder des Dorfes abhanden kommen, brechen archaische Zustände aus.
Belletristik · Dumont · · 254 S. · ISBN 9783832183691
Sprache: de · Herkunft: de

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Nichts wie weg

Rezension vom 02.05.2020 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Es ist zu schön, dieses grasgrüne Cover! Der Wald steht still und schweiget, die Natur ist kern­gesund, kein Mensch stört ihren Frieden, zwei Rehe äugen auf die Lichtung hinaus.

Ein Naturidyll?

Der Schauplatz dieser Romanhandlung mag arglose Städter mit einer Verspre­chung dieser Art locken, hält sie aber mit­nichten. Das Dorf im Süd­deut­schen macht bei nüch­terner Betrach­tung einen verwahr­losten Eindruck. Kein Wunder, denn viele Häuser, von frus­trierten Bewohnern verlassen, stehen seit Langem leer. Ver­blieben sind Kirche, Schule, Edeka. Neu zuge­zogene Familien über­nehmen rasch den Brauch, eine dichte Hecke anzu­pflanzen und sich dahinter abzu­schotten.

Der König im Dorf ist der Huberbauer. Ihm gehören groß­flächige Lände­reien, auf denen Saison­arbeiter aus Polen und Rumänien die Ernte ein­bringen. Nur einer von denen ist vor Jahren hier geblieben und wurde toleriert, »weil er sich gut einge­gliedert hat und doch auf Distanz blieb«.

Dagegen hat Markus, der Hubersohn, schlechte Karten bei seinem Vater. Als er elf war, verschwand seine Mutter von jetzt auf gleich, und seither, so findet der Vater, tickt der Junge nicht normal und bringt nichts zustande. Nur die Dorf­kinder bewundern Markus, wenn sie von der Schule nach Hause laufen. Genauer gesagt: Sie halten am Hof inne, um den kraft­strot­zenden Fendt 1000 Vario zu bestaunen, und wenn sie Glück haben und der alte Huber nicht hinschaut, hebt der Markus den ein oder anderen seiner Fans hinauf auf den Traktor­sitz in schwin­delnder Höhe.

Das weitere Personal lernen wir gleich in der Anfangs­szene kennen, die dann auch die nachfol­gende Handlung bestimmt. Da rennt die alte Hilde (»Hitschke«), so gut es ihre Fuß­behin­derung erlaubt, mit hochrotem Kopf hinter einer Göre her und fängt an zu heulen. Jammern kann die resolute Elfjäh­rige schon gleich nicht ausstehen, wider­strebt es doch zutiefst ihrer eigenen zu­packen­den Natur. Wenn sie eine Aufgabe übernimmt, ruht sie nicht, bis sie erfüllt ist. Aus Respekt vor ihrer Tatkraft und Zuver­lässig­keit nennt sie jeder im Dorf bei dem Namen, den sie sich selbst ausge­sucht hat: »Kerze«, »ein Licht in dieser raben­schwarzen Welt«, wie sie sagt. Nun ist seit gestern Hitschkes Hund »Power« ver­schwun­den, das Einzige, was die Hitschke noch im Leben hat, und Kerze will sich kümmern.

Das Mädchen geht die Suche systema­tisch an und führt akribisch Tagebuch darüber. Zunächst befragt sie die Hitschke nach Powers Gewohn­heiten, Lieblings­futter und der­gleichen, dann knöpft sie sich jeden Tag auf dem Fahrrad ein neues Areal des Dorfes vor. Manchmal bricht sie schon vor der Schule auf, so viel gibt es zu tun. Zuletzt war der Hund, mit seinem Jäckchen bekleidet, beim Edeka angeleint. Sie hängt einen ausführ­lich gestal­teten Steck­brief auf. Am proble­matisch­sten ist die Ungeduld der alten Hitschke. Die tägliche dämliche Nachfrage, ob es »etwas Neues« gibt, verbittet sich Kerze ein für alle mal: »Jetzt reiß dich zusammen.«

Ein Kinderbuch?

Von dieser Annahme rückt man schnell ab. Zwar mag man sich an den Schauder in mancher Kinder- und Jugend­literatur erinnern, ange­sichts schlich­ter, präg­nanter Aussage­sätze im Präsens, wunder­licher Namen (»Lungeroma«), Kerzes respekt­losen, unver­schämt selbstbe­wussten Umgangs mit der bemit­leidens­werten Hitschke (»Du kannst mich auch Gott nennen, wenn dir das hilft.«) und skurriler, die Fantasie heraus­fordern­der Über­legungen und Formulie­rungen (Kerze betet zu »Keingott«, fürchtet sich vor Geistern und der »Nicht­stille« im Wald).

Doch unaufhaltsam drängt sich Monströses in den Vorder­grund der vermeint­lichen Pippi-Lang­strumpf-sucht-Hund-Ge­schichte. Deren desil­lusionie­rende Auflösung erfährt der Leser bereits auf Seite 12: Nach sieben Wochen findet Kerze den Hund, und »natürlich war er tot und von Maden zerfressen«. Dass die Sache so enden kann, ist dem erschre­ckend realisti­schen Mädel von Anfang an klar. Um die alte Frau mit dem schlich­ten, leicht verwirr­ten Gemüt »auf das Schlimm­ste vorzube­reiten«, fordert sie sie auf (gleich auf Seite 18), im Wald einem sterben­den Käfer beizu­stehen, »bis er tot ist«.

Kerzes eigener Weg, Power aufzu­spüren, ist denn auch ein ganz anderer als der im munteren Drei-Frage­zeichen-Stil, mit dem man zunächst rechnet. Wenn es eine Chance gibt, das Tier zu finden, dann durch eine Art mystische Eins­werdung mit ihm. So beginnt Kerze, seine typischen Verhaltens­weisen nachzu­ahmen. Sie bellt, läuft, kriecht auf allen vieren, frisst zum Entsetzen der Mutter vom Teller, schleckt ihr durchs Gesicht. In den Sommer­ferien schart sie ein Rudel um sich – alle Kinder wollen schließ­lich bei der Suche helfen – und zieht mit ihnen in den Wald, der ihr Lebens­raum wird. Tagsüber trai­nieren sie nach Kerzes unbarm­herzigem Kommando: Sie kriechen auf allen Vieren, bis Hände und Knie bluten, sie nehmen Gerüche auf, schnup­pern am Po der Artge­nossen und müssen für kleinste Vergehen drako­nische Strafen fürchten. In der Nacht kuscheln sie in ihrem neuen Zuhause, einem Bomben­trichter, eng beiein­ander, während abwech­selnd einer Wache hält.

Von der anfänglichen Landidylle bleibt kein Krümel, wenn der unbeschreib­lich kraft­volle Sog des Mysteriös-Anima­lisch-Skur­rilen den Leser erst einmal erfasst, nicht mehr los lässt und in manchen Szenen bis an die Schmerz­grenze führt.

Mit dem spurlosen Verschwinden ihrer Kinder bricht bei den Erwach­senen – in der Mehrzahl ohnehin kalt­herzige Figuren – die nachbar­schaft­liche Solida­rität zusammen, jegliche Mit­mensch­lich­keit weg und Aggres­sion hervor. Jeder ist sich selbst der Nächste, und alle sind sich schnell einig, wen die Schuld trifft, dass die Kinder weg sind: die alte Hitschke, der vor Jahren schon der Mann davon­gelau­fen ist. Zuerst werfen die Erwach­senen Müll in den Garten der Alten, dann ergreift man drasti­schere Maßnahmen. Als Wort­führer geriert sich der Hubersohn und setzt ein Zeichen der Eska­lation, indem er »Hitschke raus« an ihre Hauswand schmiert. An vor­derster Front spielt er mit dem Feuer, als er der Alten droht: »Du holst die Kinder jetzt zurück, du sorgst dafür, dass wieder alles normal wird, und wenn nicht, dann zünde ich dein Haus an, ich zünde es an mit dir drin. Dann brennst du lichter­loh«.

Ein dystopisches Lehrstück?

Im Mikrokosmos dieses fiktiven Dorfes ist die mensch­liche Zivilisa­tion abhanden­gekommen. Ver­ständnis und Mitgefühl sind selbst zwischen Eltern und Kindern ver­trock­net. Kälte, Demüti­gung, Aus­gren­zung und Gewalt nehmen den Raum ein. Wer kann, sucht das Weite, wenn nötig im Nachthemd und ohne etwas mitzu­nehmen (wie die Frau vom Huber). Die Zurück­bleiben­den – der Huber­sohn, die alte Hitschke, Kerzes allein­erzie­hende Mutter Ellen, die für ihre Tochter nur Stummheit und Leere übrig hat, und auch Kerze selbst – sind alle irgendwie emotional gestört, sei es aus Leid und Schmerz, sei es aus Schwäche und Macht­losig­keit, sei es aus vergeb­licher Suche nach einem Sinn in ihrem Dasein. Vorder­gründig motiviert durch die Suche nach Power (auch er ein Flüch­tiger) ent­fliehen auch die Kinder des Dorfes. In einer irrealen archai­schen Lebens­gemein­schaft schenken sie sich gegen­seitig ein Ziel, Halt und Wärme. Zurück wollen sie nicht: Sie trauen den Erwach­senen nicht mehr.


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