Die jungen Bestien
von Davide Longo
An einer Baustelle werden Knochenreste von zehn Leichen gefunden. Commissario Arcadipane muss aufklären, was es mit ihnen auf sich hat. Die Ermittlungen führen in die Anfänge des Terrorismus der Siebzigerjahre und in unerfreuliche politische Zusammenhänge.
Die dunklen Schatten der Geschichte
Entlang der Schnellbahntrasse zwischen Turin und Mailand werden Kabel verlegt. In einer vom heftigen Regen gefluteten Baugrube entdecken Arbeiter die Reste mehrerer Skelette und verständigen die Turiner Polizei. Commissario Vincenzo Arcadipane, 49, fährt zum Tatort bei Chivasso. Doch bevor er seine Ermittlungen richtig aufnehmen kann, rücken Spezialisten der Spurensicherung aus Mailand an. Für die Routiniers ist die Sache schnell klar: »ein Fall von tausend ... das Übliche: Partisanen, Faschisten, Abrechnungen während des Kriegs oder danach«.
Ehe die Kollegen alles abräumen, hat Arcadipane ein paar der Fundstücke für sein Kommissariat aus dem Verkehr gezogen. Dort stellt man an einem Beinknochen einen Bruch fest, der mit einer modernen chirurgischen Methode behandelt wurde. Das passt nicht zur flotten Hypothese eines Kriegsmassakers, und Arcadipane lässt seiner Mitarbeiterin Isa, 32, zehn Tage für eine Recherche in Turiner Krankenhäusern, bei Ärzten, in Archiven.
Tatsächlich wird Isa fündig. Der Beinknochen gehört Stefano Aimar, 1953 geboren, 1972 nach einem Motorradunfall operiert, 1974 mit seiner Freundin und zwei weiteren Studenten an einem Brandanschlag auf das Turiner Zentralbüro einer neofaschistischen Partei beteiligt und zu Haftstrafen verurteilt. Nach 2004 verlieren sich die Spuren der Täter. Mag sein, dass sie einer Vergeltungsaktion rechter »Faschos« zum Opfer fielen und im heutigen Kabelkanal bei Chivasso verscharrt wurden. Wer sind dann aber die anderenToten darin?
So kommt der Protagonist aus Davide Longos erstem Kriminalroman von 2015 [› Rezension] ins Spiel. Commissario Corso Bramard war in den Siebzigerjahren als junger Anfänger für ein paar Wochen der Politischen Polizei in Turin zugeteilt und hatte die Ermittlungen um den Brandanschlag hautnah miterlebt. Berühmt wurde er, als er später einen Frauenmörder zur Strecke brachte, dem auch seine Frau und Tochter zum Opfer gefallen waren. Vincenzo Arcadipane war damals die rechte Hand Bramards, bis der vor 27 Jahren aus dem Dienst schied. Nun schaut Arcadipane selbst auf drei Jahrzehnte erfolgreicher Tätigkeit als Mordermittler zurück, in denen er so schnell nicht locker ließ. In der Hoffnung, sein früherer Chef könne ihm wertvolle Hinweise geben, bittet er den zurückgezogen lebenden Pensionär um Mithilfe.
Arcadipanes Ermittlungen im Umfeld Stefano Aimars führen zu einem Gehöft, in dessen Keller man Zellen für Gefangene, Ketten und Folterwerkzeuge findet. Hier hielt sich eine Gruppe Linksradikaler auf, die zuvor in palästinensischen Camps ausgebildet worden waren und sich dann für den bewaffneten Kampfeinsatz bereit hielten. Offenbar wurden sie allerdings von Geheimdiensten und der Politischen Polizei genau beobachtet.
Damit gewinnt der Kriminalfall um ein paar zufällig entdeckte Knochen aus alter Zeit politische Brisanz. Die »Roten Brigaden« versetzten Italien in den Siebziger- und Achtzigerjahren ebenso in Angst und Schrecken wie die »Rote-Armee-Fraktion« Deutschland. Allerdings fanden die »Brigate Rosse« – auch weil sie sich auf den bewaffneten antifaschistischen Widerstand und die Partisanen des Krieges beriefen – anfangs größeren Rückhalt in der linken Arbeiterschaft als die Terroristen in anderen Ländern. Die KPI war bis 1991 stets stärkste Oppositionspartei und wurde auch an Regierungen beteiligt; sie erzielte Wahlergebnisse von durchschnittlich 27 Prozent und war die mitglieder- und einflussreichste Partei des Eurokommunismus. Die konservativen Westmächte fürchteten, Italien entwickle sich zu einem Vorposten des Kommunismus in Europa, und gemäß der Dominotheorie könnten weitere Staaten ›umkippen‹, wenn das Eis erst einmal gebrochen sei. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, kooperierten westliche Geheimdienste klammheimlich miteinander, aber auch mit Neofaschisten und anderen dubiosen Organisationen und benutzten sogar terroristische Verbrechen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Was damals alles hinter den Kulissen inszeniert und arrangiert wurde, um das instabile Italien auf dem demokratisch-kapitalistischen Weg zu halten, wurde bis heute nicht ganz aufgeklärt, unter der Decke gehalten oder in Archiven versenkt.
So ist Davide Longos fiktionaler Plot aus der Frühzeit der sich radikalisierenden linksextremistischen Szene und dem sich formierenden politischen Kampf gegen die Terroreinheiten mehr als ein spannender Krimi von privater Relevanz. Der Politik wäre es nur recht gewesen, wären die Leichenteile für immer im Erdreich verblieben oder wenigstens ihr Fund nicht publik gemacht worden.
Faszinierend oder umständlich? Nicht jedermanns Sache ist Davide Longos eigenwilliger, durchaus gewöhnungsbedürftiger Erzählstil (Barbara Kleiner hat die Übersetzung gefertigt). Mancher Kapitelanfang lässt den Leser erst einmal ratlos, worum es gehen mag, mancher Satz will seinen Sinn nicht preisgeben, manch im Grunde einfacher Sachverhalt ist in eine ungewöhnliche Beschreibung verpackt. Erst im Nachhinein – beim Weiterlesen oder Zurückblättern – stellt sich ein erfrischender Aha-Effekt ein, und diverse rätselhafte Puzzlesteinchen fügen sich zu einem Bild zusammen. Die Dialoge sind direkt und knapp, der Umgangston ist rüde, aber auch oft charmant und geistreich-witzig (»Geh immer davon aus, dass die anderen intelligenter sind als du, und du wirst sehen, du täuschst dich nur selten.«).
Bei der Zeichnung seiner Protagonisten beweist der Autor (mit einer Ausnahme) ein feines Gespür. Alle haben ihr Päckchen zu tragen, aber das Private drängt sich nicht in den Vordergrund. Lässt die Aufmerksamkeit des Lesers einmal nach, schlüpfen ihm womöglich wichtige Details unbeachtet durch.
Der wortkarge Corso Bramard hat eine neue Familie gegründet, seinen Beruf als Lehrer wieder aufgenommen und wirkt zufrieden und ausgeglichen. Die Hoffnung, Stefano Aimar jemals zu finden, hatte er längst aufgegeben. Umso stärker erschüttert die unerwartete Wendung des cold case den Sechzigjährigen.
Die mit Abstand gebeuteltste Figur ist Vincenzo Arcadipane, der in einer allzu tiefen Midlife Crisis steckt (inklusive Erektionsstörungen und einer Familie, die nichts als Verachtung für ihn übrig hat). Lakritzbonbons und unkontrollierbare »Weinkrämpfe« können ihm nicht wirklich heraushelfen, beeinträchtigen allerdings schwer die Überzeugungskraft der Charakteranlage. Vollends in einem anderen Genre wähnt man sich, wenn der bedauernswerte Commissario, um seine verlorene Libido wiederzugewinnen, Rat bei einer skurrilensexwütigen Psychologin sucht. Ihre teuer zu bezahlende Therapie (fünf vereinbarte Termine) besteht darin, dass sie den Patienten zum Zuschauen animiert, während sie sich vom Pförtner befriedigen lässt. Nichts wäre dem Roman abgegangen, hätte der Autor diese absonderlichen Passagen ersatzlos gestrichen.
Netter sind die Episoden um »Trepet«, den dreibeinigen Terrier aus dem Tierheim, den Arcadipane als Herzenswunsch seiner beiden Kinder ins Haus holt. Da sich die Versprechungen von Sohn und Tochter, sich um das von Durchfall geplagte Tier zu kümmern, als wenig nachhaltig erweisen, hat Papa es mitsamt seinen Ausscheidungen und Ausdünstungen an der Backe, unter dem Bürotisch oder auf dem Beifahrersitz im Auto.
Der insgesamt komplexe Roman voller Anspruch schließt unspektakulär, versöhnlich, zart anrührend. »Da bin ich«, sagt Arcadipane leise, indem er seine Filzpantoffeln anzieht und seine Frau Mariangela am Küchentisch sitzen sieht. »Wartest du schon lang?« »Schon eine Weile«, antwortet sie.