Rezension zu »Meine Männer« von Victoria Kielland

Meine Männer

von


Die sensibel erzählte Lebensgeschichte eines unfassbaren Menschen, der amerikanischen Serienmörderin Belle Gunness.
Belletristik · Tropen · · 192 S. · ISBN 9783608501834
Sprache: de · Herkunft: no

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Annäherung an ein Monster

Rezension vom 15.12.2023 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Brynhild Størset lebte vor über einem Jahrhundert, zu Zeiten, als ein Menschenleben noch keine umfas­sende Daten­matrix für die Nachwelt hinter­ließ und erst recht das Innen­leben eines Indivi­duums mit dem Tod für immer ver­schwand. Was man von ihr sicher weiß, erstellt das dürre Gerüst eines nicht untypi­schen Lebens: 1859 in Norwegen geboren, 1881 nach Amerika ausge­wandert, 1884 Familien­grün­dung in Chicago, 1900 Tod des Mannes und Umzug nach Indiana, Wieder­verheira­tung und weitere Kinder, 1902 erneut verwitwet, 1908 gestorben. Was jeden, der sich mit ihrer Vita befasst, bis heute schaudern lässt, sind die merk­würdi­gen Todes- und Unglücks­fälle auf ihrem Weg, die zusammen mit Ver­dächti­gungen und Indizien, Zeugen­aus­sagen und Gerüchten aus ihrer Umgebung das verstö­rende Bild einer Frau umreißen, deren Seelen­leben man sich kaum vor­stellen kann. Sie gilt als erste amerika­nische Serien­mörderin.

Die norwegische Schriftstellerin Victoria Kielland (1985 geboren) hat sich der schwie­rigen Aufgabe gestellt, das Leben dieser Frau zu erfor­schen und ihr rätsel­haftes Wesen fiktional aufzu­bereiten. Pro­blema­tisch ist nicht nur die Fakten­lage, sondern insbe­sondere, welche Haltung die Autorin gegenüber ihrer Protago­nistin ein­nehmen soll. Die war mit großer Wahr­schein­lich­keit eine brutale, voll­kommen skrupel­lose Massen­mörde­rin, deren Handeln und Fühlen nur in Ansätzen zu begreifen, ge­schweige denn zu erzählen ist. Victoria Kielland verzich­tet darauf, abscheu­liche Züge auszu­gestal­ten und die Frau für nahe­liegen­de mora­lische Entrüs­tung freizu­geben. Sie macht aber auch keinen Versuch, ihre Taten zu ent­schul­digen. Es kommt ihr darauf an, nach­zuvoll­ziehen, was das Mädchen Brynhild Størset zum Monster Belle Gunness werden ließ.

Das Buch erschien 2021 in Norwegen, in neutrales Blau gebunden, unter dem ironisch-harm­losen Titel »Mine menn«, der an eine launige Revue wech­selnder Liebes­bezie­hungen denken lässt. Die Kritiken fielen von Anfang an hymnisch aus, und mehrere Preise folgten. Für die deutsch­spra­chige Ausgabe (in der kon­genialen Über­setzung von Elke Ran­zinger) ergänzte man den Titel um ein hinter­sinnigeres Umschlag­bild.

Nach ihrer Ankunft in Amerika findet Brynhild Størset, eine unschein­bare Magd aus Norwegen, eine erste Bleibe bei ihrer älteren Schwester in Chicago. Die Wahl eines neuen, ein­gängi­geren Vor­namens – Belle (oder auch Bella) – symbo­lisiert ihre Ent­schlossen­heit, sich ein besseres Leben aufzu­bauen, und zunächst mag sich das viel­leicht auch einge­stellt haben. 1884 heiratet sie Mads Sørensen, ebenfalls aus Norwegen, sie bekommen zwei Kinder und eröffnen 1896 eine Kondi­torei. Doch dann folgt Unglück auf Unglück. Nur ein Jahr später brennt das Geschäft ab. Von der Ver­siche­rungs­summe können die Sørensens ein Haus kaufen, aber dann sterben binnen zwei Jahren ihre beiden Kinder. Belle bringt zwei weitere Kinder zur Welt, dann stirbt ihr Mann. Obwohl all diese Toten Ver­giftungs­symp­tome aufweisen, legen sich die Ärzte auf natür­liche Todes­ursa­chen fest.

Für uns Leser scheinen nun Muster wieder­zu­kehren. Wieder erhält Belle Ver­siche­rungs­geld. Sie zieht mit ihren Kindern nach La Porte, Indiana, kauft dort eine Farm, heiratet den norwegi­schen Witwer Peter Gunness, wird schwanger, und wieder – nach kaum neun Monaten Ehe – verstirbt der Ehemann. Dass er, wie Belle behauptet, einem Unfall zum Opfer gefallen sei, will das Haus­mädchen der Familie nicht glauben, und sie macht ihre Zweifel auch publik. Einige Zeit später ist sie spurlos ver­schwun­den.

Im weiteren Verlauf bekommen wir den Eindruck, dass Belle Gunness alle Hemmungen abwirft. Für die Farm­arbeit stellt sie Land­strei­cher ein, die nach kurzem Aufent­halt angeblich weiter­gezo­gen sind. Per Kontakt­anzei­gen lockt sie etliche norwe­gische Heirats­interes­senten an, die mit Bargeld auf der Farm erschei­nen und von denen man danach nie wieder hört. Mit dem regen Publi­kums­verkehr erweckt sie aller­dings das Miss­fallen eines Farm­arbei­ters, der ihr seit 1906 ambitio­niert zur Seite steht, sich in sie verliebt hat und ihr schließ­lich zum Verhäng­nis wird. Am 28. April 1908 brennt die Farm ab, angeblich von ihm verur­sacht. Unter den Trümmern und auf dem Gelände findet man die zer­stückel­ten Über­reste zahl­reicher Leichen. Im Rück­blick nimmt man an, dass Belle Gunness in Amerika zwischen zwanzig und vierzig Menschen getötet hat.

Indem Victoria Kielland der Reihe nach die bekannten histori­schen Ereig­nisse und für unvor­einge­nom­mene Außen­stehende furcht­baren Schick­sals­schläge behandelt, taucht sie tief in die Psyche ihrer Protago­nistin ein, und erst nach und nach werden uns die Abgründe an hem­mungs­loser Gewalt und emotio­naler Beses­sen­heit bewusst. Einer­seits brennt in Belle das Feuer einer unstill­baren sexuellen Lust und Begierde auf Männer. Anderer­seits schlach­tet sie ihre männ­lichen Opfer mit einer Grau­sam­keit ab, die jegliche Vor­stellung sprengt.

Kiellands Fiktion bietet uns einen möglichen Auslöser für die schauer­liche Entwick­lung an. Wir begegnen der sieb­zehn­jähri­gen Brynhild zu Anfang der Erzählung als gut­gläubige, fleißige Dienst­magd in einem reichen Haushalt. Hin­gebungs­voll und leiden­schaft­lich gibt sie sich dem Erben des Hofes hin. Was sie für Liebe hält, ist aller­dings für ihn nur ein Akt der Befrie­digung. Als sie schwanger wird, lässt er seine Wut darüber mit Fuß­tritten und Schlägen an ihr aus.

Lebenslang leidet Brynhild unter einem nicht be­herrsch­baren Komplex von Kon­flikten zwischen unerfüll­baren Wünschen, schmerz­lichen Erfah­rungen wie Einsam­keit, Scham und Ängsten und den in ihr selbst wider­strei­tenden Emotionen. Einer­seits getrieben von Lust und Sehnsucht nach Liebe und Befrie­digung, anderer­seits immer wieder nieder­geschla­gen durch seelische und körper­liche Verlet­zungen, Ent­täuschun­gen und Demüti­gungen, brechen sich gewalt­same Aktionen Bahn. Dass ihre Taten unent­deckt beiben und sogar finan­zielle Vorteile ein­bringen, bestärkt sie, während sie sich gleich­zeitig des schlimmen Unrechts bewusst ist (»Was bist du für ein Mensch?«). Sie sucht »Vergebung« bei Gott, doch da seine Antworten aus­bleiben, kann sie keine Erlösung finden, verliert den »Halt«. Ihre Religio­sität nimmt eksta­tische Formen an. Sie wartet »auf Gottes läu­tern­des Feuer«, gelangt zu der Ansicht, ein Werk­zeug Gottes zu sein und gegeben zu haben, »was sie geben konnte«.

Die erzählerische Leistung der Autorin ist außer­gewöhn­lich und mit­reißend. Die personale Erzähl­haltung aus der Per­spek­tive der Haupt­person lässt die Gescheh­nisse der äußeren Handlung von einem atemlosen, verzwei­felten Monolog begleitet dahin­rasen und ent­wickelt, indem Brynhilds Innen­leben Schicht für Schicht bloß­gelegt wird, einen unge­heuren Sog. Was geht in ihrem Kopf vor sich, was sieht und hört sie alles, was andere nicht wahr­nehmen? Welch fiebrige Gefühle toben und quälen sie? Kaum hat sich der nach Erfül­lung verzeh­rende Körper etwas abge­kühlt, sucht er schon ein neues Objekt für seine Begierde. »Die Flammen waren uner­sättlich, immer bereit für mehr.«

Die rauschhafte Intensität der sprach­lichen Gestal­tung nimmt den Leser gefangen – ehe sich ange­sichts des Horrors erst später Ernüch­terung einstellt und kritische Distanz aufbaut. Die unver­blümte Drastik der bild­reichen Be­schrei­bungen von Körper­lichkeit, Bruta­lität und seeli­schem Leid kann für manchen Leser zur Heraus­forde­rung werden. Zarte Poesie (»als würde jemand Schlitt­schuh über ihr Herz fahren«, der »pri­ckelnde Sternen­himmel«, »Brynhild barg die Grau­sam­keit der Welt unter der Haut, aber auch deren Schönheit«) und absto­ßender Realis­mus (»Sabber« aus dem Mund, »Geruch von feuchtem Heu, Blut und Urin kroch in alles hinein«, »zwei Haare an der Wand [sind] der Abfall zweier Menschen«) haben gleich wichtige Funk­tionen.

Nicht einmal über das Ende von Belle Gunness herrscht Gewiss­heit. Die Leichen­reste auf der nieder­gebrann­ten Farm sind unvoll­ständig, passen nicht zusam­men und reichen nicht aus, um sie zu identi­fizieren. So kommen Gerüchte auf, sie habe sich insgeheim abgesetzt und anderswo weiter gemordet. Tat­sächlich wurde über zwanzig Jahre später in Kali­fornien eine Frau angeklagt, weil sie aus Geldgier einen Ein­wan­derer aus Norwegen vergiftet habe. Gerade weil das Leben der Belle Gunness so viel­schich­tig, abstoßend, mitleid­erregend und voller Rätsel war, hat es Chro­nisten seit jeher faszi­niert. Es gibt Balladen, Filme, Doku­menta­tionen, Sach­bücher und Bro­schüren über die berühmt-berüch­tigte Frau, und Victoria Kiellands Roman ist nicht nur der jüngste Beitrag, sondern auch der un­konven­tionell­ste und litera­risch Aufsehen erre­gendste.


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