Die wir liebten
von Willi Achten
In kraftvollen Bildern lässt der Autor den Mikrokosmos ländlichen Lebens in den Siebzigerjahren aufleben und zeichnet gleichzeitig ein bedrückendes Soziogramm der Nachkriegszeit. Zwei Brüder müssen sich schmerzvoll einen Weg zwischen scheinbarer Idylle, Umbruch und den üblen Schatten der Vergangenheit erkämpfen.
Eine Welt neben der Welt
Auf den ersten Blick reiht sich dieser Roman ein in die Reihe derer, die in den letzten Jahren das Lebensgefühl der frühen Bundesrepublik detailgetreu, mit viel Zeitkolorit und einem Schuss Melancholie beschwören. Doch der Eindruck dieser scheinbar nostalgischen Oberfläche trügt. Darunter geht der Autor gesellschaftlichen Missständen nach, die Jahrzehnte lang vertuscht wurden, obwohl sie Tausenden von Menschen lebenslanges Leid gebracht haben. Dies ist ein gesellschaftspolitischer Roman, der gleichwohl durch seine einfühlsame, bildstarke Erzählkunst besticht. Das gibt es nicht oft.
Willi Achten wurde 1958 in Mönchengladbach geboren und wuchs in Niederkrüchten-Elmpt am linken Niederrhein auf. Er kennt aus eigener Anschauung die Gegend und die Zeit, in der seine fiktiven Figuren leben. Das sind vor allem die Brüder Edgar und Roman Wollissen, die mit ihren Eltern, der Großmutter, einer Großtante und einem unverheirateten kriegsversehrten Vetter der Großmutter unter einem Dach wohnen. Roman, zu Beginn zwölf Jahre alt, ist robuster, mutiger, aufmüpfiger und voller Flausen. Edgar, elf, macht alles mit. Die Handlung, die er aus der Rückschau erzählt, trägt sich 1971 bis 1976 zu.
Die frühen Siebziger waren eine Phase politischer Krisen, des Auf- und Umbruchs. Viele mehr oder weniger bedeutsame Ereignisse aus Politik und Kultur kolorieren Willi Achtens Roman, obwohl die Wollissens in ihrer provinziell-biederen Parallelwelt von all dem (Ostpolitik, RAF-Terrorismus, Fahrverbote, Redeschlachten im Bundestag, Hippies, Rockmusik …) kaum tangiert werden. Nur wenn die Kampfjets von den britischen Militärflugplätzen in der Nähe übers flache Land donnern, ist nicht zu überhören, dass der Frieden fragil ist.
Das erste der drei Kapitel schildert, was man für den Inbegriff eines sorglosen Kinderparadieses auf dem Lande halten möchte. Doch von Beginn an brechen kleine Risse auf. Dem jugendlichen Tatendrang der Jungen werden kaum Grenzen gesetzt, und so schlagen sie ordentlich über die Stränge. Nicht einmal wenn sich Nachbarn über fragwürdige Streiche beschweren, können sie Vater Emils langmütiges Wesen sonderlich aus der Ruhe bringen. Ihm liegt das Florieren seiner Bäckerei am Herzen, er liest gern (Heinrich Böll), begeistert sich für das frische Spiel der aufstrebenden Kicker aus Mönchengladbach und ist sich im Übrigen selbst genug. Mutter Gertrud arbeitet tagsüber in ihrem Lottogeschäft, führt abends die Bücher und den Haushalt und ist damit ausgelastet. Einzig die Großmutter schenkt den Jungen Zeit und Liebe, und sie hält schützend ihre Hand über alles, was die beiden anstellen.
Im Hause Wollissen nimmt somit keiner wahr, wie die Buben zusehends den Halt verlieren, die Idylle zerbröckelt und sich eine Schlinge zuzieht: Der gestrenge Dorfpolizist Buhnke hat die Jungen ins Visier genommen und das Jugendamt informiert.
Die emotionale Distanz in seiner Familie registriert Edgar mit kindlicher Sensibilität, und diffus spürt er auch die Tragweite des Zwischenfalls beim Tanz in den Mai, mit dem das Schicksal seinen Lauf nimmt: Vater wendet sich der attraktiven Tierärztin zu, zieht zu Hause aus, Mutter betäubt ihre Verzweiflung mit Alkohol. Das alles bleibt Episode, die Eheleute trennen sich nicht, aber die Auswirkungen auf die Söhne sind gravierend. Die Katastrophe bricht herein, als die Großmutter, die engste Vertraute, ihrem Krebsleiden erliegt und die unkontrolliert irrlichternden Jungen sich selbst überlassen bleiben. Buhnke verpasst ihnen den Stempel »verwahrlost« und »asozial«, die Jugendamtsmitarbeiterin erledigt das Formale, bis das Jugendgericht die Einweisung des Brüderpaares in eine nahegelegene katholische Erziehungsanstalt anordnet.
Was sich in jener Institution zuträgt, erwartet uns in der zweiten Romanhälfte, und es ist eine wahre Hölle, wie man sie kaum mehr für möglich gehalten hätte in einer Zeit, die doch bereits von Zeichen der Aufgeklärtheit und der Moderne geprägt scheint. Aber wer mag schon nachschauen, was sich hinter den Wänden eines von Nonnen geführten, also »frommen« Heimes voller widerspenstiger Zöglinge abspielt? So konnten in einem abgeschotteten Reservat Charaktere und Methoden aus finsteren Jahrzehnten überleben, die den jugendlichen Schutzbefohlenen lebenslange Traumata bescheren. Im Jahr 1976 kommen die beiden Wollissen-Brüder einem Schlüsselgeheimnis auf die Spur, stellen mutig einen Verantwortlichen und können schließlich fliehen.
Willi Achtens fiktionale Handlung hat einen historischen Ort. Der Franziskanerorden begründete um 1912 das St. Josefsheim Waldniel, einen weitläufigen Komplex aus Kloster, Kirche, Schule, Werkstätten, Wohn- und Verwaltungsgebäuden, wo bis zu sechshundert behinderte und lernschwache Menschen betreut wurden. Mit der Machtübernahme des NS-Regimes galten die Insassen als »unwertes Leben«, wurden für medizinische Versuche missbraucht, zwangssterilisiert oder unter dem euphemistischen Begriff »Gnadentod« umgebracht.
Bereits 1962 sammelt die katholische Kirchengemeinde Erkenntnisse über die beschämende Vergangenheit der Anstalt, einige Jahre später wird im Stillen ein Gedenkkreuz erichtet, aber erst im Jahr 2010 rüttelt eine offizielle Publikation eine breitere Öffentlichkeit auf und inspiriert auch Willi Achten zu seinem Roman. Darin schildert er nicht etwa die unmenschlichen Vorgänge während der Nazi-Zeit, sondern Geschehnisse lange danach. Viele der NS-Ärzte und Pflegekräfte waren nämlich in ihren Ämtern verblieben, und zwar unter Beibehaltung ihrer Gesinnung, Arbeitsweise und Aufgaben. Teils im Auftrag der Pharmaindustrie wurden Patienten weiterhin für Versuche »benutzt«.
Während es also erste Bemühungen gab, die nationalsozialistischen Greuel in der »Kinderfachabteilung Waldniel« aufzuarbeiten, agierte am selben Ort immer noch Personal aus jener Zeit, teilweise in maßgeblichen Positionen. So bekommen Edgar und Roman Wollissen im »Gnadenhof« (so der vielsagende Name der Anstalt im Roman) drakonische Erziehungsmethoden zu spüren, die zum alleinigen Ziel haben, die fehlgeleiteten Jungen durch Härte, Demütigung, Bestrafung, Mangel und Mitleidlosigkeit zu brechen. In kratzender Anstaltskleidung und mit rasiertem Schädel werden sie und ihre Leidensgenossen mit sadistischer Willkür misshandelt.
Komplette Isolation ist Teil des unmenschlichen Konzepts. Zwar schreiben die Jungen verzweifelte Briefe an ihre Eltern und berichten über täglichen Hunger, Strafen wie Folter und Zwangsarbeit statt Schulunterricht, aber nie erreichen sie ihre Adressaten. Gleichzeitig werden die Anträge der Eltern auf Kontakt zu ihren Kindern vom Jugendamt abgelehnt: So etwas sei »nicht erziehungsförderlich«.
Kaum nachvollziehbar, kaum glaublich die Divergenz des Zeitgeschehens – dessen, was sich gleichzeitig, parallel und gegenläufig im Land und in der Welt entwickelt. Aus Großbritannien und den USA schwappen revolutionäre Theorien und Praktiken herüber, die Repressionsfreiheit und die Abschaffung überholter Strukturen fordern (antiautoritäre Erziehung, freie Liebe, neue Formen des Zusammenlebens) – eine Rebellion gegen den Mief nicht nur in den Talaren von Würdenträgern und Autoritätspersonen, sondern im ›Bürgerlichen‹ insgesamt, die sich in Musik, Sprache, Kleidung und Haartracht äußert, in manchen Familien tägliche Auseinandersetzungen verursacht und selbst ländliche Gegenden in Unruhe versetzt. Zur selben Zeit werden Kinder wie im Mittelalter und während der NS-Barbarei der Willkür mitleidloser »Erzieher« ausgeliefert, wie seelenlose Tiere gehalten und abgerichtet. Erst nach Jahren der Scham finden Zeugen der Geschehnisse den Mut, den Weg an die Öffentlichkeit zu beschreiten und von dem Durchlittenen zu berichten.
Achtens vielschichtiger Roman ist ein aufrüttelnder literarischer Beitrag, der das höchst reale Unrecht, das unzähligen Heimkindern in der Nachkriegszeit angetan wurde, nicht ungeschehen machen kann, aber die Erinnerung daran wach hält.