Rezension zu »Mädchen« von Edna O’Brien

Mädchen

von


Was den zweihundert Schülerinnen widerfuhr, die Barbaren der Boko Haram 2014 in Nigeria verschleppten, erzählt Edna O’Brien beispielhaft und (scheinbar) kunstlos. Das Schicksal ihrer fiktiven Stimme erschüttert auch ohne Effekte zutiefst.
Belletristik · Hoffmann und Campe · · 257 S. · ISBN 9783455008265
Sprache: de · Herkunft: gb

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Allahs Töchter?

Rezension vom 12.07.2020 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Die Aktion am 14. April 2014 im Norden Nigerias löste weltweit Empörung aus. Ein Trupp bewaff­neter Islamis­ten hatte über den Tag 170 Häuser in einem Ort nieder­ge­brannt und sich ein Gefecht mit einer halben Hundert­schaft von Soldaten der Armee geliefert, aber ihr Taten­durst war offenbar noch lange nicht gestillt. In der Nacht drangen sie gewaltsam in eine christ­liche Mäd­chen­schule ein und trieben über zwei­hundert der Schüle­rinnen aus dem Wohnheim auf ihre Lastwagen. Infamer­weise gaben sie vor, die Fünfzehn- bis Acht­zehn­jährigen beschüt­zen zu wollen – vor Boko Haram, eben der Terror-Organi­sation, der sie selbst ange­hörten. Dann brachten sie die Mädchen in unbe­kannte Verstecke.

Über das weitere Schicksal der Entführten gibt es unter­schied­liche Berichte. In einem Bekenner­video ließ Boko Haram Anfang Mai verlauten, man werde die Mädchen (»Sklaven«) verkaufen. In einem weiteren Video kurz danach rezi­tierten rund 130 Hidschâb tragende junge Frauen Koran­verse. Nun lautete die Botschaft, dass man die zwangs­konver­tierten Mädchen gegen inhaf­tierte Boko-Haram-Kämpfer eintau­schen werde.

Derweil hatten sich die Verzweiflung der ihrer Töchter beraubten Familien und die inter­natio­nale öffent­liche Entrüs­tung formiert. Der Hashtag #Bring­Back­Our­Girls ging mit bewegen­den Fotos demon­strie­render Mütter und Frauen um die Welt.

Auch der irischen Autorin Edna O’Brien ließen die Berichte und Bilder von ent­führten und gefangen gehal­tenen jungen Frauen, die der Willkür gewalt­täti­ger Fanatiker ausge­liefert sind, keine Ruhe. Sie beschloss, sich selbst vor Ort ein Bild zu machen. Ihr Alter (86) hinderte sie nicht daran, 2016 und 2017 nach Nigeria zu reisen. Dort sprach sie mit Ärzten und Trauma­thera­peuten, vor allem aber mit Mädchen, denen die Flucht aus den Händen der Isla­misten gelungen war, und sie schaffte es, ihr Vertrauen zu gewinnen.

Die Ergebnisse ihrer Recherchen hat Edna O’Brien im Herbst 2019 in einem Roman mit dem schlichten Titel »Girl« Edna O’Brien: »Girl« bei Amazon veröf­fent­licht, der nun in der Über­setzung von Kathrin Razum auf Deutsch vorliegt. Die Autorin konzen­triert ihren Stoff geschickt, indem sie in einer fiktiven Protago­nistin bündelt, was vielen der Opfer geschah. Maryam, die Ich-Erzäh­lerin, spricht sozusagen als Stell­vertre­terin ihrer realen Leidens­genos­sinnen.

Der Roman beginnt mit dem nächt­lichen Überfall der Boko-Haram-Terro­risten auf die Schule. Sie haben den Auftrag, im Lager Brauch­bares wie Benzin, Werk­zeuge oder Ersatz­teile aufzu­treiben. Da sie nichts derglei­chen finden, aber nicht mit leeren Händen zurück­kehren wollen, verfallen sie auf die Idee einer anderen Beute: »Mädchen tun’s doch auch.« Nachdem sie zwei Sicher­heits­kräfte umge­bracht haben, stürmen sie in den Schlaf­raum der Mädchen, verfrach­ten sie auf ihre Lastwagen und schaffen sie an einen Ort im unweg­samen Dschungel.

Der Kommandant des Lagers (der »oberste Emir«) heißt die Verschlepp­ten »willkommen«. Seine Ansprache verdeut­licht eindring­lich, wohin die Reise gehen wird: Dankbar sollen sie sein, denn seine Männer hätten sie »gerettet« aus der durch und durch verderb­ten Welt der Ungläu­bigen. Die Regie­rungs­macht sei korrupt, die welt­liche Ober­schicht hohlem Materia­lismus verfallen, sie behänge ihre fetten Frauen mit Gold und prasse in noblen Villen. Selbst Muslime seien mit dem »Pest­hauch der Korrup­tion« infiziert. Die bisher erhaltene Erziehung und die ange­strebte akade­mische Ausbil­dung seiner Zuhöre­rinnen seien grund­falsch. All dies »dürfe nicht sein«.

Folgerichtig werden die Mädchen fortan radikal umerzogen, um ihnen ihre bisherige Lebens- und Denkweise auszu­treiben. Ihre Kleidung wird verbrannt, sie werden in einheit­liche dunkle Kaftane gehüllt. Fünf Mal täglich kommen sie unter einem Baum zusammen, um Suren aufzu­sagen, in einer Sprache, die ihnen fremd ist. Die systema­tische psychi­sche Indok­trina­tion nimmt ihren Lauf, um aufge­schlosse­nen jungen Frauen eine anti­frei­heit­liche, anti­indivi­dualis­tische, vor­aufkläre­rische Gesin­nung zu inji­zieren, damit sie zu beliebig einsetz­baren »Kriege­rinnen Allahs« ohne eigenen Willen mutieren. Be­schöni­gend nennt sie der Emir »die wer­denden Töchter Allahs«.

Maryams Berichte aus dem Alltag sind sachlich und lassen doch keinen Zweifel an der Drastik dessen, was sie und ihre Mit­schüle­rinnen sehen, hören und selbst durch­leben – ver­ständnis­lose Unter­werfung, herz­lose Strenge, mitleid­lose Grau­sam­keit, verzwei­felte Flucht. Demüti­gung, Ein­schüch­terung und die ständige Verbrei­tung von Angst sind die domi­nanten Erzie­hungs­mittel, um die Mädchen gefügig zu machen. Öffent­liche Bestra­fungen (schlagen mit dornigen Zweigen, die Zunge aus dem Mund schneiden, steinigen, lebendig in einem Erdloch vergraben) brechen jeden Wider­stand.

Um die Kriegskasse zu füllen, werden die schönsten Mädchen an reiche Männer verkauft; um den Kampf­geist zu beflügeln, werden sie mit Dschiha­disten verhei­ratet. Auch Maryam wird gegen ihren Willen zur Ehefrau und entbindet bald eine Tochter. Das »Frei­heits­geld«, das ihr Mann nach jeder blutigen Schlacht erhält, verdient seine Bezeich­nung in gänzlich uner­warte­tem Sinne, denn mit seiner Hilfe wird Maryam gelingen, was niemand für möglich hält: die Flucht aus der Hölle.

Boko Haram wurde in den Neunzigerjahren als musli­mische Sekte in Nigeria gegründet. Ihr Name drückt ihr Programm aus: den Kampf gegen westliche Bildung. Ziel ist die Errich­tung eines islami­schen Staates auf der Grundlage der Scharia. Mit zuneh­mender Radikali­sierung forderten Anschläge, vor allem auf christ­liche Religions­einrich­tungen und Lebens­gemein­schaf­ten, und gewalt­same Ausein­ander­setzungen mit nigeria­nischen Militär­einhei­ten und der Polizei unzählige Opfer. Boko Haram trug damit erheblich zur weiteren Zersplit­terung und Destabili­sierung des bevölke­rungs­reichen Landes (über 200 Millionen Einwohner) bei, das tradi­tionell zwischen muslimi­schem Norden und christ­lichem Süden gespalten ist.

Ob Extremisten tatsächlich von reli­giösen oder sons­tigen Über­zeugun­gen zu ihren Verbre­chen ange­spornt werden oder von einem über­mäch­tigen Trieb zu sinn­loser Gewalt, sei dahin­gestellt (und macht einen inhuma­nen Akt moralisch weder besser noch schlechter). Dieser Roman führt die verab­scheuungs­würdigen Untaten von Islamisten vor Augen, aber eine gereifte Schrift­stellerin wie Dame Edna O’Brien verfällt deswegen nicht in undif­feren­zierte Schwarz-Weiß-Malerei. Sie blendet nicht aus, dass religiöse oder ideolo­gische Anschau­ungen auch anderswo das Handeln und Denken der Menschen beherr­schen, so dass Vernunft und Mit­mensch­lich­keit durch rigide Prinzi­pien verhin­dert werden.

Nachdem Maryam, schwer traumatisiert von der Gefangen­schaft, auf der Flucht mit ihrer Tochter eine Zeitlang Schutz und Zuwendung bei Nomaden gefunden hat, hofft sie, bald wieder in den Armen ihrer eigenen Familie aufge­nommen zu werden. Doch dort gerät sie sozusagen vom Regen in die Traufe. Auch im christ­lichen Hause herrscht eine strenge Moral, die das Opfer erneut zur Schuld­belade­nen stempelt. Eine unver­heira­tete Mutter, überdies von einem Muslim miss­braucht, bringt Schande über die auf ihren Ruf bedachte christ­liche Familie. Mehr als zeitweise Duldung kann eine Terro­risten-»Hure« nicht erwarten, und ihr Kind, mit dem »Stigma« des »schlech­ten Bluts« behaftet (»Sie wird eine von denen werden.«), muss sie abgeben. Maryams Weg in ein selbstbe­stimm­tes Leben wird hart und steinig.


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