Mädchen
von Edna O’Brien
Was den zweihundert Schülerinnen widerfuhr, die Barbaren der Boko Haram 2014 in Nigeria verschleppten, erzählt Edna O’Brien beispielhaft und (scheinbar) kunstlos. Das Schicksal ihrer fiktiven Stimme erschüttert auch ohne Effekte zutiefst.
Allahs Töchter?
Die Aktion am 14. April 2014 im Norden Nigerias löste weltweit Empörung aus. Ein Trupp bewaffneter Islamisten hatte über den Tag 170 Häuser in einem Ort niedergebrannt und sich ein Gefecht mit einer halben Hundertschaft von Soldaten der Armee geliefert, aber ihr Tatendurst war offenbar noch lange nicht gestillt. In der Nacht drangen sie gewaltsam in eine christliche Mädchenschule ein und trieben über zweihundert der Schülerinnen aus dem Wohnheim auf ihre Lastwagen. Infamerweise gaben sie vor, die Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen beschützen zu wollen – vor Boko Haram, eben der Terror-Organisation, der sie selbst angehörten. Dann brachten sie die Mädchen in unbekannte Verstecke.
Über das weitere Schicksal der Entführten gibt es unterschiedliche Berichte. In einem Bekennervideo ließ Boko Haram Anfang Mai verlauten, man werde die Mädchen (»Sklaven«) verkaufen. In einem weiteren Video kurz danach rezitierten rund 130 Hidschâb tragende junge Frauen Koranverse. Nun lautete die Botschaft, dass man die zwangskonvertierten Mädchen gegen inhaftierte Boko-Haram-Kämpfer eintauschen werde.
Derweil hatten sich die Verzweiflung der ihrer Töchter beraubten Familien und die internationale öffentliche Entrüstung formiert. Der Hashtag #BringBackOurGirls ging mit bewegenden Fotos demonstrierender Mütter und Frauen um die Welt.
Auch der irischen Autorin Edna O’Brien ließen die Berichte und Bilder von entführten und gefangen gehaltenen jungen Frauen, die der Willkür gewalttätiger Fanatiker ausgeliefert sind, keine Ruhe. Sie beschloss, sich selbst vor Ort ein Bild zu machen. Ihr Alter (86) hinderte sie nicht daran, 2016 und 2017 nach Nigeria zu reisen. Dort sprach sie mit Ärzten und Traumatherapeuten, vor allem aber mit Mädchen, denen die Flucht aus den Händen der Islamisten gelungen war, und sie schaffte es, ihr Vertrauen zu gewinnen.
Die Ergebnisse ihrer Recherchen hat Edna O’Brien im Herbst 2019 in einem Roman mit dem schlichten Titel »Girl« veröffentlicht, der nun in der Übersetzung von Kathrin Razum auf Deutsch vorliegt. Die Autorin konzentriert ihren Stoff geschickt, indem sie in einer fiktiven Protagonistin bündelt, was vielen der Opfer geschah. Maryam, die Ich-Erzählerin, spricht sozusagen als Stellvertreterin ihrer realen Leidensgenossinnen.
Der Roman beginnt mit dem nächtlichen Überfall der Boko-Haram-Terroristen auf die Schule. Sie haben den Auftrag, im Lager Brauchbares wie Benzin, Werkzeuge oder Ersatzteile aufzutreiben. Da sie nichts dergleichen finden, aber nicht mit leeren Händen zurückkehren wollen, verfallen sie auf die Idee einer anderen Beute: »Mädchen tun’s doch auch.« Nachdem sie zwei Sicherheitskräfte umgebracht haben, stürmen sie in den Schlafraum der Mädchen, verfrachten sie auf ihre Lastwagen und schaffen sie an einen Ort im unwegsamen Dschungel.
Der Kommandant des Lagers (der »oberste Emir«) heißt die Verschleppten »willkommen«. Seine Ansprache verdeutlicht eindringlich, wohin die Reise gehen wird: Dankbar sollen sie sein, denn seine Männer hätten sie »gerettet« aus der durch und durch verderbten Welt der Ungläubigen. Die Regierungsmacht sei korrupt, die weltliche Oberschicht hohlem Materialismus verfallen, sie behänge ihre fetten Frauen mit Gold und prasse in noblen Villen. Selbst Muslime seien mit dem »Pesthauch der Korruption« infiziert. Die bisher erhaltene Erziehung und die angestrebte akademische Ausbildung seiner Zuhörerinnen seien grundfalsch. All dies »dürfe nicht sein«.
Folgerichtig werden die Mädchen fortan radikal umerzogen, um ihnen ihre bisherige Lebens- und Denkweise auszutreiben. Ihre Kleidung wird verbrannt, sie werden in einheitliche dunkle Kaftane gehüllt. Fünf Mal täglich kommen sie unter einem Baum zusammen, um Suren aufzusagen, in einer Sprache, die ihnen fremd ist. Die systematische psychische Indoktrination nimmt ihren Lauf, um aufgeschlossenen jungen Frauen eine antifreiheitliche, antiindividualistische, voraufklärerische Gesinnung zu injizieren, damit sie zu beliebig einsetzbaren »Kriegerinnen Allahs« ohne eigenen Willen mutieren. Beschönigend nennt sie der Emir »die werdenden Töchter Allahs«.
Maryams Berichte aus dem Alltag sind sachlich und lassen doch keinen Zweifel an der Drastik dessen, was sie und ihre Mitschülerinnen sehen, hören und selbst durchleben – verständnislose Unterwerfung, herzlose Strenge, mitleidlose Grausamkeit, verzweifelte Flucht. Demütigung, Einschüchterung und die ständige Verbreitung von Angst sind die dominanten Erziehungsmittel, um die Mädchen gefügig zu machen. Öffentliche Bestrafungen (schlagen mit dornigen Zweigen, die Zunge aus dem Mund schneiden, steinigen, lebendig in einem Erdloch vergraben) brechen jeden Widerstand.
Um die Kriegskasse zu füllen, werden die schönsten Mädchen an reiche Männer verkauft; um den Kampfgeist zu beflügeln, werden sie mit Dschihadisten verheiratet. Auch Maryam wird gegen ihren Willen zur Ehefrau und entbindet bald eine Tochter. Das »Freiheitsgeld«, das ihr Mann nach jeder blutigen Schlacht erhält, verdient seine Bezeichnung in gänzlich unerwartetem Sinne, denn mit seiner Hilfe wird Maryam gelingen, was niemand für möglich hält: die Flucht aus der Hölle.
Boko Haram wurde in den Neunzigerjahren als muslimische Sekte in Nigeria gegründet. Ihr Name drückt ihr Programm aus: den Kampf gegen westliche Bildung. Ziel ist die Errichtung eines islamischen Staates auf der Grundlage der Scharia. Mit zunehmender Radikalisierung forderten Anschläge, vor allem auf christliche Religionseinrichtungen und Lebensgemeinschaften, und gewaltsame Auseinandersetzungen mit nigerianischen Militäreinheiten und der Polizei unzählige Opfer. Boko Haram trug damit erheblich zur weiteren Zersplitterung und Destabilisierung des bevölkerungsreichen Landes (über 200 Millionen Einwohner) bei, das traditionell zwischen muslimischem Norden und christlichem Süden gespalten ist.
Ob Extremisten tatsächlich von religiösen oder sonstigen Überzeugungen zu ihren Verbrechen angespornt werden oder von einem übermächtigen Trieb zu sinnloser Gewalt, sei dahingestellt (und macht einen inhumanen Akt moralisch weder besser noch schlechter). Dieser Roman führt die verabscheuungswürdigen Untaten von Islamisten vor Augen, aber eine gereifte Schriftstellerin wie Dame Edna O’Brien verfällt deswegen nicht in undifferenzierte Schwarz-Weiß-Malerei. Sie blendet nicht aus, dass religiöse oder ideologische Anschauungen auch anderswo das Handeln und Denken der Menschen beherrschen, so dass Vernunft und Mitmenschlichkeit durch rigide Prinzipien verhindert werden.
Nachdem Maryam, schwer traumatisiert von der Gefangenschaft, auf der Flucht mit ihrer Tochter eine Zeitlang Schutz und Zuwendung bei Nomaden gefunden hat, hofft sie, bald wieder in den Armen ihrer eigenen Familie aufgenommen zu werden. Doch dort gerät sie sozusagen vom Regen in die Traufe. Auch im christlichen Hause herrscht eine strenge Moral, die das Opfer erneut zur Schuldbeladenen stempelt. Eine unverheiratete Mutter, überdies von einem Muslim missbraucht, bringt Schande über die auf ihren Ruf bedachte christliche Familie. Mehr als zeitweise Duldung kann eine Terroristen-»Hure« nicht erwarten, und ihr Kind, mit dem »Stigma« des »schlechten Bluts« behaftet (»Sie wird eine von denen werden.«), muss sie abgeben. Maryams Weg in ein selbstbestimmtes Leben wird hart und steinig.