In dunklen Gewässern und Zeiten
Erst hörte er den Knall, dann nahm er die Explosion wahr, und wenige Minuten später war die »Struma« in den Wellen des Schwarzen Meeres versunken. Die Geräusche und der Anblick blieben fest in seinem Gedächtnis. Fünfzig Jahre später kehrte Maximilian Wagner an den Ort des Untergangs zurück, um sich von seiner Frau zu verabschieden. Denn Nadja Wagner war an Bord gewesen.
Die »Struma« war einmal ein richtiger Überseedampfer. Jetzt, in ihren alten Tagen, befördert sie Vieh auf der Donau. Am 12. Dezember 1941 aber geht sie noch einmal auf große Fahrt. Sie verlässt das rumänische Konstanza mit dem Ziel Palästina. Die Chancen, dass sie dort jemals ankommt, sind minimal. Das Schiff ist ein Seelenverkäufer, hoffnungslos überladen, und immer wieder bleibt es auf dem Schwarzen Meer mit Motorschaden liegen.
Einflussreichen Kreisen ist das nur recht. Politisch ist es nicht gewollt, dass das Schiff auch nur den Bosporus erreicht. Unter General Antonescu hatte Rumänien 1940 antisemitische Gesetze erlassen und sich am Jahresende den Achsenmächten angeschlossen. 1941 kämpft das Land an der Seite Deutschlands gegen die Sowjetunion und liefert wichtige Rohstoffe wie Rohöl und Getreide. Da war die »Struma« ein Lichtblick für Juden, die den Repressalien, Verfolgungen und Todesgefahren entfliehen wollten. 769 Juden jeden Alters sind jetzt an Bord. Sie hatten es im September 1941 geschafft, sämtliche Auswanderungsformalitäten zu erfüllen und für eine Fahrkarte den horrenden Preis von tausend Dollar zu bezahlen.
Als ein Schlepper den Pott in den Bosporus zieht und man endlich Istanbul vor Augen hat, ist die Not an Bord so groß geworden, dass bereits einige der Passagiere an Hunger, Durst und Krankheit verstorben sind. Fahruntüchtig liegt das Schiff jetzt vor der nahen Stadtkulisse. Jüdische Hilfsorganisationen bemühen sich um die Rettung der Menschen, bringen Güter an Bord und berichten von den menschenunwürdigen Zuständen dort. Doch die türkische Regierung lässt aus Furcht vor Spionen keinen Passagier von Bord, und Winston Churchill verweigert die weitere Passage durch den Bosporus, denn mit der Einwanderungswelle in ihr Protektorat Palästina droht den Briten Ärger mit den benachbarten Arabern.
Nach zwei Monaten kann der Motorschaden behoben werden, doch soll die »Struma« jetzt nach Konstanza zurückkehren. Dazu wird sie wieder ins Schwarze Meer geschleppt. Am 24. Februar 1942 wird das Schiff vom Torpedo eines sowjetischen U-Boots getroffen, explodiert und versinkt – vor den Augen Maximilian Wagners.
Wagner lebte und arbeitete seit 1939 in Istanbul. Er gehörte zu einer Gruppe illustrer Intellektueller, Akademiker und Geschäftsleute, die hierher ins Exil gegangen waren und sich in Sicherheit vor Nazi-Verfolgung hofften. Doch im Treffpunkt »Teutonia-Haus« schleichen sich auch Spione ein. Ist Wagner einer von ihnen? Den Arier umgibt eine Aura rätselhafter Undurchschaubarkeit.
Februar 2001. Literaturwissenschaftlerin Maya Duran, 36, wartet am Flughafen Istanbul auf den Gast, den sie im Auftrag der Universität betreuen soll. Der 87-jährige Harvard-Professor Maximilian Wagner wird im Audimax einen Vortrag halten und als »Wegbereiter einer modernen türkischen Universitätsausbildung« gewürdigt werden. Von Anfang an spürt Maya eine geheimnisvolle Melancholie bei dem zurückhaltenden, schmächtigen Herrn, der sich unter keinen Umständen von dem Geigenkasten trennen möchte, den er mitgebracht hat. Später, im Hörsaal, fallen Maya drei Männer auf, die ihnen in einem weißen Kleinwagen zum Hotel gefolgt waren.
Ehe Wagner wieder in die Staaten zurückfliegt, äußert er Maya gegenüber diskret den Wunsch, zu dem Badeort Şile ans Schwarze Meer gebracht zu werden. Selbstverständlich erfüllt sie ihm dieses Anliegen und begleitet ihn.
Mit Ich-Erzählerin Maya erfahren wir nun nicht nur Wagners private Geschichte, sondern auch von historischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die seit Langem ein Mantel des Schweigens verhüllt, die offiziell vertuscht werden. Es geht um den Umgang mit Flüchtlingen und insbesondere um Minderheiten, die kein Land aufnehmen wollte.
Der türkische Autor Zülfü Livaneli ist ein vielseitiger Mann: Musiker, Filmemacher, Parlamentarier. Zeitweise war er inhaftiert. In seinem Roman »Serenad« (2010; Gerhard Meier hat ihn übersetzt), wirft er, indem er Vorgänge aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gestaltet, brisante Fragen auf, die heute wieder hochaktuell sind. Wie »gleich« sind die Menschen? Richtet sich ihre Würde nach ihrem Nutzen für die Gemeinschaft?
Mit offenen Armen begrüßte die Türkei die 190 jüdischen Emigranten, die 1939 in Istanbul eintrafen. Die Professoren, Mediziner, Spezialisten ihres Fachs waren hoch willkommen, um Kemal Atatürks Reformpolitik zu stärken und das Hochschulwesen zu modernisieren. Viele von ihnen blieben über Jahre, manche ihr ganzes Leben.
Anders die Passagiere der »Struma« (stellvertretend für zahlreiche ähnliche Flüchtlingsgruppen): Das waren hauptsächlich unqualifizierte, arme und verhämte Menschen, Juden aus der Ukraine, aus Rumänien und Bessarabien. Sie sind nirgends willkommen, und gleich mehrere Regierungen und Länder sind sich einig, ihnen keine Chance einräumen zu wollen.
In der Figur Mayas bindet Livaneli ein besonders finsteres Kapitel türkischer Vergangenheit ein, das bis heute hochoffiziell tabuisiert wird. Mayas Großmutter war Armenierin und eine der wenigen, die das Massaker an ihrer Volksgruppe (1915/1916) überlebten. Die offizielle Sicht auf diesen Genozid repräsentiert Mayas staatstreuer Bruder Necdet. Um seine Militärkarriere nicht zu gefährden, würde er die unliebsamen Eigenschaften seiner Vorfahren am liebsten auslöschen. Dass in seinen Adern »schmutziges Blut« – sowohl armenisches als auch das der muslimischen Krimtartaren – fließt, darf niemand erfahren. Doch immer wieder holt die Vergangenheit die Gegenwart ein. Die Wunden verheilen nicht, der Hass wird weitergetragen, das Blutvergießen nie vergessen.
Gleichzeitig schlägt Livaneli einen versöhnlichen Bogen zur Gegenwart. Während der Fahrten durch Istanbul zeigt Maya ihrem Gast eine moderne, pulsierende und weltoffene Metropole. Und Maximilian Wagner setzt sich in seinem Vortrag in der Universität mit verschiedenen Theorien zwischen »Religionskriegen«, »Kampf der Kulturen«, »Kampf der Vorurteile«, unterschiedlichen »Zivilisationsformen« und der »globalen Kommunikation« auseinander.
Maya schreibt all dies während eines Fluges nach Amerika auf. Sie bringt dem im Sterben liegenden Professor Wagner eine DVD mit Tiefseeaufnahmen der »Struma« und die seit Jahren verschollenen Noten einer Serenade, die er einst für Nadja komponiert hatte. Eingewoben in die tragische Liebesgeschichte zwischen Wagner und Nadja entsteht ein Mosaikbild der Türkei als Konglomerat vieler Kulturen, weit zurückliegender politischer Ereignisse und internationaler Verflechtungen. Gleichzeitig erleben wir die Alltagsprobleme einer modernen gebildeten Türkin: alleinerziehende Mutter eines computersüchtigen Sohnes, berufstätig an einem anspruchsvollen Arbeitsplatz, in permanenten Auseinandersetzungen mit ihrem Exmann und ihrem konträren Bruder.
Insgesamt eine lohnende, bewegende Lektüre; ein etwas reduzierter Themenumfang, eine etwas straffere Gestaltung hätte den Roman allerdings nur noch besser gemacht.