Arcipelaghi
von Giovanni Colombu
Sühne eines Kindesmordes
Der elfjährige Giosuè wird von seiner Mutter auf dem Bauernhof einer befreundeten Familie in der Nähe von Nuoro zurückgelassen. In der Nacht wird er dort unfreiwillig Zeuge, wie drei Männer aus dem Dorf fünf Pferde aus dem Stall stehlen. Der Eigentümer der Tiere bedrängt das Kind unter Androhung grausamster Strafen, immer bei der Wahrheit zu bleiben und ihm die Namen der Diebe zu nennen. Einmal bekannt, müssen die Ganoven ihre Beute zurückgeben, beschließen aber, dem Jungen für seinen Verrat eine Lektion zu erteilen. Sie kehren auf den Bauernhof zurück und nehmen mitleidlos Rache an dem verängstigten, wehrlosen Kind. Flores, der brutalste der drei, verliert völlig die Kontrolle über seine Aggressionen und schlitzt mit einem Glasscherben die Kehle des Jungen auf. Als die Mutter mit Oreste, Giosuès vierzehnjährigem Bruder, eintrifft, ist ihr kleiner Sohn bereits verblutet.
Alle im Dorf wissen, wer die Tat begangen hat, doch alle halten sich an l’omertà: Die unausgesprochene traditionelle Schweigepflicht, aus prinzipiellem Misstrauen entstanden, bewahrt den Einzelnen vor Scherereien und schließt jede Kooperation mit der Obrigkeit aus. Der Dorfpfarrer rät der Mutter, den Tätern zu vergeben, um die Angelegenheit zu einem Ende zu führen; die Polizei ermuntert sie, selbst Beweise zu beschaffen, um die Mörder zu überführen.
Während des ausgelassenen nächtlichen Karnevalsumzugs (kirchliche Prozession, dabei treibende Wechselgesänge zwischen Vorsänger und vielstimmiger Gemeinde, dann ein orgiastisches Treiben von maskierten und schwarz beschmierten Menschen um ein riesiges Feuer) wird Flores aus nächster Nähe erschossen.
»Gli arcipelaghi« (1995)
von Maria Giacobbe
(*1928)
Der Tat angeklagt wird Oreste, aber die Verwandten stellen ihm ein Alibi aus, so dass der Prozess vor dem Jugendstrafgericht mit seinem Freispruch endet. Wieder sorgt das allgemeine Stillschweigen, das Zurückhalten und Zurechtbiegen der Wahrheit, dafür, dass der Mord ungesühnt bleibt. Es war Giosuès Mutter, die ihn aus Schmerz, Reue und Ehrgefühl ausgeführt hat, um sich in aller Stille und ganz privat an den Mördern ihres Kindes, das sie unverzeihlicherweise alleingelassen hatte, zu rächen.
Diese Geschichte erzählt der Film auf unglaublich packende, vielgestaltige Weise. Giovanni Colombus wichtigstes Stilmittel ist die Montagetechnik. Während in der personell erheblich differenzierteren Romanvorlage von Maria Giacobbe der Gerichtsprozess am Ende steht, nachdem mehrere Erzähler das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven aufgerollt haben, entwickelt Colombu die Ereignisse aus dem Verlauf des Prozesses, der wie ein Dokudrama dargeboten wird: Der Richter befragt einen Zeugen nach dem anderen, und jede Aussage geht in die szenische Wiedergabe der betreffenden Episode über, als gäbe der Zeuge ihr Gestalt oder erlebte sie erneut. Erst am Ende setzt sich aus all den Szenen das Gesamtbild zusammen.
Während im Gerichtssaal und in den sozial besser gestellten Familien (gut verständliches) Italienisch gesprochen wird, sprechen die meisten Dorfbewohner Sardisch miteinander. Nur dank der italienischen Untertitel können wir folgen.
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