
David und Goliath im Nordirland-Konflikt
Sean Duffy glaubt, er habe die troubles hinter sich. Vor sich wähnt er einen friedlichen Ruhestand im sonnigen Spanien, jedenfalls weit weg von Nordirland. Da klopfen Tom und Kate an seine Tür, und die Vergangenheit hat ihn wieder.
Seans Vergangenheit – das ist im Wesentlichen eine unselige Verbindung mit Dermot McCann, die als Schulfreundschaft begann und tief verwurzelt ist in der ebenso unseligen Geschichte ihrer Insel. Während deren größter Teil 1949 als Republik Irland (Eire) unabhängig wurde, verblieb der nördliche Teil im United Kingdom, was die seit Jahrhunderten ausgetragene Feindschaft zwischen den katholischen Kämpfern für eine Loslösung von London und den protestantischen Unionists, den Befürwortern der Zugehörigkeit zu Großbritannien, in den Siebziger Jahren zu ungeahnter Heftigkeit und Brutalität anheizte. Vor allem die militante IRA (Irish Republican Army) verübte grausame Bombenattentate, auf die die schwer bewaffneten britischen Polizei- und Militärbehörden mit kompromissloser Härte reagierten.
Nach der Schule schloss sich Dermot der IRA an, wo er zum Sprengstoffexperten und Bombenbauer ausgebildet wurde. Als Sean später ebenfalls aufgenommen werden wollte, verweigerte Dermot ihm seine Unterstützung, wohl weil er ihn für zu wenig nervenstark, zu akademisch erachtete. Da trennten sich die Wege der beiden für immer: Sean Duffy machte Karriere als Detective Inspector beim Criminal Investigation Department (CID), Dermot McCann wurde zu einem der führenden Köpfe und gefährlichsten IRA-Terroristen.
Da ein Spitzel McCann verriet, wurde er verhaftet und zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt. Doch nachdem er fünf Jahre verbüßt hatte, gelang ihm am 25. September 1983 gemeinsam mit 37 anderen IRA-Kämpfern der Ausbruch aus dem Hochsicherheitsgefängnis in Maze. Die Hälfte der flüchtigen Männer wurde gefasst, nicht aber McCann. Man vermutete, er halte sich in einem Ausbildungslager der IRA in Libyen auf.
Nach diversen spektakulären und konfliktbeladenen Einsätzen fand Sean Duffys Karriere ein jähes Ende. Er hatte »einer Menge Leute ans Bein gepisst«, u.a. einem »hochrangigen FBI-Agenten«. Er wurde degradiert und wieder ins Polizeirevier im Süden von Armagh versetzt, um Streife zu schieben. Den endgültigen Rausschmiss nach neun Jahren Dienstzeit bei der Royal Ulster Constabulary (RUC) bescherte ihm ein Autounfall mit Todesfolge, den man ihm böswillig anhängte.
Da klopfen Tom und Kate an seine Tür. Die beiden, hohe Tiere beim Geheimdienst MI5, wissen Seans Talente, vor allem aber seine persönlichen Beziehungen zu McCann und seiner Familie zu schätzen und möchten ihn rekrutieren, um den Flüchtigen endlich zu stellen.
Sean Duffy soll seinen ehemaligen Klassenkameraden dem Geheimdienst Ihrer Majestät ausliefern? Sollte sich der Frührentner in spe jemals auf so einen Deal einlassen, wird er die Briten teuer zu stehen kommen. Sein kühner Forderungskatalog: Wiedereinsetzung in die Position eines Detective Inspectors, voller Lohnausgleich, Streichung aller Hinweise auf Fehlverhalten in seinen Akten, und schließlich für die miese Behandlung durch seine Dienstherren eine »Entschuldigung von oben«. (Damit ist nicht etwa der Chief Constable gemeint, sondern Mrs Thatcher persönlich ...)
Wiewohl Tom und Kate seinen Wunschzettel ordentlich zusammenstreichen, kann Duffy der kriminalistischen Herausforderung nicht widerstehen: McCann, so weiß der Geheimdienst, plant seine Rückkehr auf die Britischen Inseln und eine »groß angelegte IRA-Bombenkampagne«.
Duffys Aufgabe gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Das Heu ist das umfangreiche Material, das der Geheimdienst angehäuft hat, indem er Verwandte, Freunde, Bekannte und Knastgenossen des Terroristen abhörte. Duffy klingelt zunächst bei McCanns Exfrau Annie, dann bei Mutter Maureen und Schwester Fiona, die gemeinsam in einem versifften Wohnblock leben. Hinsichtlich Dermots Aufenthaltsort erfährt er nichts, dafür Unfassliches über Orla, seine zweite Schwester. Wie konnte sie trotz eines derart mächtigen Bruders in die Fänge eines Drogendealers, eines Zuhälters gelangen? Schert sich McCann denn gar nicht um das Schicksal seiner Familie? Sean Duffy weiß, was zu tun ist. Er holt Orla aus dem Sumpf der Prostitution heraus und bringt sie in den Schoß ihrer Familie zurück. Fiona, eine Krankenschwester, ist fachkundig.
Auch bei McCanns Ex-Schwiegermutter Mary Fitzpatrick beißt Duffy zunächst auf Granit: »Sehe ich aus wie eine Informantin?« Doch er spürt, dass irgendetwas nicht stimmt, und lässt nicht locker, bis Mary schließlich mit einer alten Geschichte herausrückt. Jetzt kann er noch einen Deal abschließen: Wenn er Mary den Mörder ihrer jüngsten Tochter Lizzie bringt, serviert sie ihm ihren Ex-Schwiegersohn auf dem Silbertablett ...
Dadurch wird der polit-terroristisch basierte Ausgangsplot um eine reizvolle Nebenhandlung mit dem klassischen »Verschlossene-Räume«-Motiv bereichert, denn nur ein begnadeter Trickkünstler vom Schlag eines Harry Houdini konnte sich Zugang zu der hermetisch abgeriegelten Kneipe verschaffen, in der Lizzie tot aufgefunden wurde. Zwar ist des Lesers Nase schnell auf der richtigen Spur, aber dennoch sind beide Fälle kurzweilig und unterhaltsam gestaltet. Das Lesevergnügen ist großenteils dem Protagonisten Sean Duffy geschuldet, der in seiner schnoddrigen, coolen, selbstironischen Art von seiner Suche nach McCann und seinen Recherchen nach Lizzies Mörder erzählt. Wenn ihn die Vergeblichkeit seiner Mühen allzu depressiv stimmt, sucht er Trost bei Joints, Alkohol und Musik von Velvet Underground über Leonhard Cohen bis zu Haydn, Schubert und Wagner.
Der in Belfast geborene Adrian McKinty hat über seinen Helden schon vier Bände verfasst (siehe Zusammenstellung weiter unten). Sie versetzen den Leser in die brisante politische Lage im Nordirland der Achtziger Jahre, als weiße Linien auf der Straße katholische und protestantische Viertel trennen – wer sich auf der falschen Seite bewegt, muss damit rechnen, von Heckenschützen aufs Korn genommen zu werden –, und sie vermitteln authentisch die Alltagsatmosphäre blinden Hasses und trister Hoffnungslosigkeit. Wer es irgendwie schafft, verlässt Nordirland; die anderen müssen sich weiter durchschlagen in den verslumten Städten mit Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Streiks, Straßenkämpfen.
Etliche der erzählten Ereignisse sind historisch. In London regierte seit 1979 Margaret Thatcher mit eiserner Hand. 1982 eroberte »Mrs T« die Falkland-Inseln zurück, dann brach sie die Macht der Gewerkschaften, indem sie einen Bergarbeiterstreik bis zur bitteren Niederlage der Arbeiter ausbluten ließ. Es versteht sich, dass sie mit allen, die Nordirland aus dem United Kingdom lösen wollten, nicht zimperlich umsprang und sich auch von einem gegen sie persönlich gerichteten Bombenattentat der IRA nicht schrecken ließ.
Am hochexplosiven Ende dieses lesenswerten Kriminalromans zeigt die »Eiserne Lady« jedoch einen sympathischen Zug, nachdem Sean Duffy, unser kleiner David, den übermächtigen Goliath besiegt hat. Dieser showdown ist recht unglaubwürdig konstruiert, aber das – und eine gesunde, lebensrettende Paranoia – bewahrt uns den Protagonisten für zukünftige Fälle. Gut, dass er nie in sein Auto steigt, ohne sich zu vergewissern, dass keine Sprengstoffladung unterm Bodenblech angebracht wurde. So klappt er unversehrt seinen Mantelkragen hoch, steigt ein und macht sich »bereit für den kommenden langen, langen Krieg ...«
Die Bände der Reihe mit Detective Inspector Sean Duffy (alle deutschen Ausgaben sind bei Suhrkamp erschienen und wurden von Peter Torberg übersetzt):
1. »The Cold Cold Ground« | »Der katholische Bulle«
2. »I Hear the Sirens in the Street« | »Die Sirenen von Belfast«
3. »In the Morning I’ll be gone« | »Die verlorenen Schwestern«
4. »Gun Street Girl« | »Gun Street Girl«
(24. Oktober 2015)