Die Ästhetik des Verbrechens
Zwanzig Jahre ist es her, dass der talentierte Kommissar Corso Bramard überraschend seinen Job an den Nagel hängte. Dabei hätte ihm jeder eine glänzende Karriere prognostiziert, so rasant, wie »der jüngste Kommissar Italiens« in seinen Beruf eingestiegen war. Zu diesem Schritt getrieben hatte ihn die Tat eines Mörders, der sein grausames Metier offenbar feinsinnig sublimiert und sich auch nach Bramards Rückzug noch als dessen persönlicher Gegenspieler gebärdet.
Nicht einmal dem jungen Star war es gelungen, die Reihe brutaler Verbrechen an Frauen aufzuklären, die damals das Piemont erschütterten: sechs Entführungen, fünf mit tödlichem Ausgang, alle im Herbst und Winter, weswegen Täter und Akte »Autunnale« benannt wurden. Doch dann griff der Mörder den Kommissar selbst an und brachte »sein Herz zum Stillstand«: Auf dem Boden einer Waldhütte fand Bramard eine weitere Leiche, auch ihre Kehle durchschnitten, ihre Zehen amputiert, ihr Rücken mit kunstvollen Zeichen, einem Muster von Messerschnitten versehen. Es war der Körper von Bramards geliebter Ehefrau Michelle. Doch damit nicht genug: Seither fehlt auch von seiner Tochter Martina jede Spur, und man muss fürchten, dass der bestialische Mörder sie ebenfalls getötet hat.
Hatte der Polizist auf der Suche nach dem Plan des Täters – zweifellos »ein groß angelegter, durchdachter, entwickelter« Plan – bislang »Blut und Schmerz [...] immer nur von weitem betrachtet«, distanziert analysierend wie ein Feldherr auf seinem Hügel, war jetzt »die Schlacht, die er anderswo vermutete, still auf seine Anhöhe vorgerückt, hatte an der Wohnungstür geklopft und Michelle und Martina verschluckt«.
Das »Öffnen der Tür zu dieser Hütte« hatte für Corso den gleichen Effekt wie der Anprall einer Billardkugel an die Bande, nur war er unvorhersehbar gewesen. Es war der »Dreh- und Angelpunkt« seines Lebens, das »Ende der Unschuld«. Denn wo »der Mensch, der er zu sein glaubte, nur Grauen hätte sehen können«, entdeckte der erstaunte Corso die »Schönheit« der stilvoll aufbereiteten Leiche. Entsetzt, die Ästhetik des Mörders seiner Frau zu teilen, räumte er das Feld und kündigte.
Corso wandte sich von der lauten Welt der Menschen ab, suchte die Einsamkeit, zog in ein heruntergekommenes Bauernhaus in einem abgelegenen kleinen Dorf, umgeben von Weinbergen und Wäldern. Das geringe Salär als Teilzeit-Lehrer am Gymnasium reicht ihm. Wenn die seelische Verzweiflung übermächtig wird, klettert er auf die Gipfel der Dreitausender. Doch auch dort kann er den Erinnerungen an seine vermisste Tochter, ihre Locken, »den leisen Hauch zwischen ihren Lippen« nicht entfliehen, und ihn überkommt die Sehnsucht, in die Tiefe zu springen, um allem ein Ende zu machen.
Im Dorf hat Corso nur wenige Gesprächspartner. Einer wird nur »der Onkel« genannt, ein anderer ist der zehn Jahre ältere Witwer Elio, Besitzer einer Weinkellerei. Sein Sohn kämpft als Soldat in Afghanistan, seine Tochter ist in Luxemburg verheiratet. Kürzlich sind die beiden Männer »in einer Angelegenheit« vorbeigekommen. Es geht um Elena, die Rumänin, die in der Bar arbeitet und ihren gesamten Verdienst zu Mann und Kindern in der Heimat schickt. Jetzt ist ihr Mann mit dem Geld abgehauen, und da möchte sie gern ihre Kinder nach Italien holen. Elio wäre bereit, die kleine Familie bei sich aufzunehmen; ob Corso ihr das vielleicht schmackhaft machen könnte? Doch Corso weist das Ansinnen von sich – und lässt natürlich unausgesprochen, dass er insgeheim selber ein Auge auf die Rumänin geworfen hat.
Ohnehin ist Wortkargheit ein Charakteristikum der Menschen jener Gegend im Piemont. So herrscht jetzt »im Raum eine Stille, wie drei Männer sie verbreiten können, die sich viel zu sagen hätten, aber keine ihnen gemäße Art finden, das zu tun«. Und auch wenn Corso bei Cesare, dem Osteria-Wirt, einkehrt, um ihm Bücher zu bringen und einen Tamarindensaft zu trinken, schweigt man sich lieber an, als unnütz Worte zu verschwenden – es »bestand die stillschweigende Übereinkunft, dass nur wenige Themen es verdienten, wiederaufgenommen zu werden«.
Nachdem Corso seinen Posten im Turiner Kommissariat aufgegeben hatte, rückte sein fähiger Kollege Arcadipane nach. Seither hält Corso ihn auf dem Laufenden über die rätselhafte Verbindung, die der eigenwillige Serienmörder zu ihm pflegt. Denn seit zehn Jahren sendet er Corso in unregelmäßigen Abständen Briefe. Abgeschickt aus verschiedenen Ländern, die Umschläge stets mit ein und derselben Olivetti-Schreibmaschine von 1972 (einer Design-Ikone) adressiert, die Botschaften unterschiedlichen Umfangs handgeschrieben mit einem Montblanc-Füllhalter, zitiert jeder Zeilen aus Leonhard Cohens melancholisch-kritischem Lied »Story of Isaac« (1969). Darin spricht Isaak davon, wie ihn sein Vater Abraham, um Gottes Befehl zu gehorchen, zur Opferstätte führt und zu töten bereit ist.
Nun ist der dreizehnte Brief eingegangen. Es könnte der letzte sein, denn er enthält die Schlusszeilen von Cohens Song (»And mercy on our uniform, / man of peace or man of war, / the peacock spreads his fan«) sowie ein Haar. Die Laboruntersuchung ergibt, dass es von Clara Pontremoli stammt, die der Ritualmörder als Erste entführt hatte. Sie wurde im Februar 1981 aufgefunden, als einziges seiner Opfer lebend, aber so schwer traumatisiert, dass ihre Befragungen keinerlei Hinweise ans Licht brachten. Der Täter muss das Haar wie eine Reliquie sorgfältig konserviert haben.
Bramard nimmt die Recherche wieder auf und besucht Clara Pontremoli im Heim. Er überrascht sie mit einer unerwarteten Frage, und ihre heftige Reaktion bündelt seine bis dahin ungeordneten Vermutungen in eine bestimmte Richtung: Clara muss ihren Entführer gekannt haben.
»Autunnale« ist natürlich ein perfider Allmachtspsychopath, ein perfektionistischer Ästhet, der Kamelien und japanische Kunst liebt und »den Weg zur Schönheit« sucht. Er will nichts weniger als die »Symbole der Vollkommenheit« nachahmen und verliert im Bestreben, »deren exakte Formen zu erkunden, bis er zum Meister wurde«, alle moralischen Hemmungen. Es ist ihm ein intellektueller Reiz, mit den Menschen zu spielen, sogar die Rollen zu vertauschen. Den Polizisten, der ihn jagt, macht er zu seinem Objekt, wie der Buchtitel impliziert: »Il caso Bramard« (»Der Fall Bramard«). Der Mörder lenkt den Kommissar, will ihm etwas mitteilen. Seine Briefe sind Botschaften. Umgekehrt muss Bramard diese entschlüsseln. Um sein Gegenüber besser verstehen zu können, zieht er unter anderem den Roman »Die schlafenden Schönen« von Kawabata Yasunari, Literaturnobelpreisträger 1968, zu Rate.
Davide Longos neuester Roman – Barbara Kleiner hat ihn übersetzt – ist ein ungewöhnlicher, sachlicher, intelligenter Krimi voller Anspielungen, Zitate und Spiegelungen. Dies ist tatsächlich ein Buch, das sich zwei Mal zu lesen lohnt, weil einige rätselhafte Stellen erst beim zweiten Durchgang verständlich werden, weil manch nebensächliches Detail erst jetzt seine Relevanz erkennen lässt, weil im Nachhinein strukturelle Konzepte klarer hervortreten. Eine vollständige Aufklärung zu allen Fragen, die Sie sich stellen werden, kann Ihnen jedoch auch die wiederholte Lektüre nicht bieten – der Autor lässt manches im Dunklen.