Doppelleben
von Alain Claude Sulzer
Die Lebensläufe der adligen Brüder de Goncourt und ihrer Hausangestellten Rose im Paris von Napoleon III. – drei Leben und eine Epoche voller Widersprüche, voller Geheimnisse, voller Skandale.
Gemischtes Doppel
Jeder, der sich ein wenig für Literatur interessiert, hat schon einmal vom Prix Goncourt gehört. 1903 erstmals verliehen, ist es der bedeutendste Literaturpreis Frankreichs und der älteste. Seine Historie ist weniger bekannt. Er geht auf die Stiftung einer Akademie zurück, die Edmond de Goncourt (1822-1896) auch im Sinne seines früh verstorbenen Bruders Jules (1830-1870) testamentarisch verfügt hatte. Den verdienstvollen Begründern widmet der Schweizer Autor Alain Claude Sulzer seinen Roman »Doppelleben«.
Die beiden Brüder waren engagierte Schriftsteller aus Berufung und Wegbereiter des Naturalismus. Sie lebten sehr zurückgezogen, abseits der Öffentlichkeit. Seit Ende 1851 führten sie gemeinsam ein freimütiges Tagebuch, und nach Jules’ Tod setzte Edmond es alleine und mit unverminderter Schärfe fort. Die Veröffentlichung einiger Bände um 1890 brachte ihm trotz Abmilderung brisanter Inhalte Skandale und Feindschaften ein. Heute sind die »Journale« ein kunsthistorisches Zeugnis ersten Ranges. Dank dieser soliden, umfangreichen Quelle kommt Sulzers Roman einer Biografie sehr nahe. Er wächst jedoch darüber hinaus, indem der Autor das wahre Leben der Goncourts mit dem einer weiteren Person verquickt, deren Außenperspektive es kommentiert und relativiert.
Rose Malingre stand bis zu ihrem Tod 1862 in Diensten der Familie Goncourt, erst der Eltern, dann der Gebrüder. Die schätzten sie als treue, zuverlässige, verschwiegene Person. Doch so hochsensibel sie waren, wenn es um ihre eigenen alltäglichen Malaisen, ihr Ansehen, ihre Sehnsucht nach Anerkennung ihrer innovativen Literatur in der gehobenen Gesellschaft ging, so blind waren sie für das Nächstliegende: Rose führte unbemerkt ein Doppelleben.
»Doppelleben« ist ein mehrschichtiger, intensiver Roman. Er malt zunächst ein feinsinniges Sittengemälde der Zeit, welches das Bühnenbild für die Geschichte um die beiden adligen Exzentriker und ihre einfache Dienstmagd liefert. Sulzers moderner Sprachstil und die diskontinuierliche Erzählweise entrücken es dem Pathos und dem Muff, an die wir heute denken mögen, wenn es um das Fin de Siècle geht, und fokussieren uns auf die psychologische Ebene.
Durch Erbschaft aller Alltagssorgen enthoben, können sich die beiden sensiblen jungen Männer ausschließlich ihrem Innenleben widmen. Insbesondere Jules ist extrem geräuschempfindlich (»Hunde, spielende Kinder, Rauschen der Bäume, Klappern von Fensterläden, Krächzen der Krähen, Quaken der Frösche«). Sich gegenseitig stimulierend, entwickeln sie sich zu seltsamen, auf sich konzentrierten, fragilen Wesen, die unzertrennlich in symbiotischer Harmonie existieren, nach Laune zeichnend, lesend, schreibend, »als hätten sie ein Herz, eine Seele, einen Verstand, eine Hand, selbst der Augenblick sexuellen Verlangens übermannte nicht selten beide zur gleichen Zeit«.
Ihr sozialer Status einerseits und ihre privaten Interessen andererseits bedingen eine gespaltene Existenz. Sie bewegen sich nicht nur in der Pariser Künstler- und Literatenszene, wo sie sich mit Flaubert, Zola und anderen namhaften Persönlichkeiten austauschen, sondern werden auch zu den turbulenten Festen eingeladen, die die Tochter von Napoléons jüngstem Bruder Jérôme, Prinzessin Mathilde Bonaparte veranstaltet. In der Intimität ihres Heims spötteln die beiden genauen Beobachter über ihre Zeitgenossen und halten ihre Erlebnisse höchst detailliert in ihren Tagebüchern fest. Dass sie dabei kein Blatt vor den Mund nehmen, keine Häme scheuen, kein indiskretes Detail auslassen, macht sie zu ungewöhnlichen Chronisten ihrer Zeit – als scharfzüngige Skandalreporter wie als ernstzunehmende Kulturkritiker.
Was derweil mit ihrer getreuen Dienstmagd vor sich geht, nehmen die sonst so aufmerksamen Brüder nur nebenbei wahr. Was sie kocht, schmeckt unzumutbar, sie ist oft krank, sie verfällt sichtlich. Aus der gesellschaftlichen Distanz erscheint ihnen so etwas als Problem proletarischer Herkunft und des allgemein Weiblichen. Erst nach und nach erschließt sich ihnen Roses Tragödie, die Alain Claude Sulzer wie einen eigenständigen Roman im Roman einflicht. Es geht um eine unsterbliche Liebe zu einem nichtswürdigen Mann, für den sie sich bis zur völligen Selbstaufgabe erniedrigt, mit Schuld belädt und zerstört, bis der Tod sie erlöst. Ihr Niedergang geht einher mit einem moralisch verwerflichen Abstieg, wie ihn die Doppelmoral der Zeit unnachsichtig aburteilt. Tief erschüttert arbeiten die Brüder posthum Roses Vita literarisch auf und veröffentlichen drei Jahre nach Roses Tod den Roman »Germinie Lacerteux«.
Das Buch wird höchst kontrovers aufgenommen. Der Naturalist Émile Zola ist einer der sehr wenigen, die sich für die unverfälschte, durch keinerlei literarische Überhöhung beschönigte Darstellung der grausamen Lebensweise sozialer Unterschichten begeistern. In bürgerlichen und adligen Kreisen dagegen erntet der Roman Ekel, Spott und Hass angesichts seiner schamlosen Präsentation eines lasterhaften Lebens und einer perverierten Liebesbeziehung. Von Prinzessin Mathilde Bonaparte wird erzählt, sie habe sich nach der Lektüre übergeben.
Es ist eigenartig, dass die Gebrüder de Goncourt für die Tragödie ihrer Untergebenen zu deren Lebzeiten keinen Sinn entwickelten. Hat ihr hoher gesellschaftlicher Status sie derart isoliert? Andererseits hätte sie der minutiös verfolgte Leidensweg des jüngeren Bruders Jules durchaus auch für den eines so nahestehenden Mitmenschen wie Rose sensibilisieren können.
Der begabte Jules, vor Ideen nur so sprühend, hatte sich mit der weit verbreiteten Syphilis angesteckt, für die es kaum eine Rettung gab. Im Gegensatz zu weniger wohlhabenden Kranken konnte Jules reisen und sich in Sanatorien kostspieligen Behandlungsmethoden unterziehen, die freilich nichts als unsägliche weitere Qualen einbrachten. Seine letzten Jahre gestaltet Sulzer in einem weiteren eindringlichen, berührenden Erzählstrang. Edmond nimmt die unübersehbaren Symptome des geistigen und körperlichen Verfalls seines Bruders wahr, dessen Persönlichkeit sich nahezu auflöst, ihm immer fremder wird, ihn in machtlose, unerträgliche Verzweiflung treibt. Andererseits verdrängen beide die Wahrheit um die schändliche Ursache der Krankheit. Jules, so wird verlautbart, sei »an Überanstrengung im Dienst der Kunst gestorben [...]: für die Literatur, für das richtige Wort, für die Wahrheit auf dem Papier«.
»Doppelleben«, der Titel von Alain Claude Sulzers melancholisch-empathischem Roman, schlägt darin mehrere Saiten an. Nicht nur Rose führt konkret zwei Existenzen, auch die Brüder, die wie Zwillinge stets im Doppel auftreten, leben privat ganz anders als öffentlich. Roses Siechtum spiegelt das ebenso geheime, ebenso erbärmliche, ebenso tödliche von Jules, doch seines wird kaschiert und mit einem Glorienschein umhüllt, ihres ist unrühmlich und muss sich einsam in Löchern verkriechen. Innerhalb der gesellschaftlichen Möglichkeiten ist Roses hilfloses Dahinvegetieren bis zum Sterben ein erschütternder Kontrapunkt. Und allem zu Grunde liegt die Doppelmoral der Gesellschaft.