Jahre mit Martha
von Martin Kordić
Die Erlebnisse eines aus Bosnien-Herzegowina zugewanderten Jungen und seiner Familie. Er hat den Ehrgeiz, alles sehr viel besser zu machen als es die Vorurteile gegen ihn erwarten lassen. Eine Gönnerin spielt dabei eine schillernde Rolle.
Ankommen und Fernbleiben
Zwanzig Jahre ist es her, dass die Familie Kovačević aus Bosnien-Herzegowina nach Deutschland kam. Nun, mit Mitte dreißig, blickt der Sohn Željko zurück, weil er »die Irrwege meines jungen Erwachsenenlebens in eine Dramaturgie sortieren will, die auf ein versöhnliches Ende zusteuern soll«. Der ausgeprägte Gestaltungswille ist eines seiner Persönlichkeitsmerkmale.
Auch die Eltern wollten sich in ihrer neuen Umgebung nicht passiv treiben lassen oder gängige Vorurteile bestätigen. Sie haben alles getan, um als »gute Ausländer« angesehen zu werden. Sie bezogen eine bescheidene Zweizimmerwohnung im Vorderhaus der Gemeinde, mietfrei, doch als Gegenleistung betätigte sich der Vater als Hausmeister, und die Mutter hielt das Gebäude sauber. Fürs Überleben und eine bessere Zukunft der drei Kinder rackerte der Vater auf Baustellen und die Mutter bei weiteren Putzjobs. Den Wellensittich der Familie nannten sie »Lothar Matthäus«. Auch Željko mochte nirgendwo anecken, nicht einmal beim Diktieren seines hierzulande sperrigen Vornamens. Lieber nennt er sich viele Jahre lang »Jimmy« – das Allerweltswort wurde ihm in der ersten Englischstunde zugeordnet.
In der Schule entwickelt der Junge eine starke Motivation, sich vor allem sprachlich hervorzutun. In der Stadtbücherei hat er ein Abo. Auf Pappkarten notiert er Vokabeln, die außergewöhnlich und schlau klingen. Er findet sie in »guten« Zeitungen, die er aus Müllcontainern klaubt. Wer »Die Leiden des jungen Werther« liest, so ist er überzeugt, muss davon doch so wortgewandt werden, dass er »verbale Auseinandersetzungen führen kann«. Kurzum: »Ich wollte einer werden, den man nicht herumschieben kann.«
All sein Bemühen, in der deutschen Gesellschaft voranzukommen, ist freilich vom Wohlwollen anderer abhängig. Darauf aber kann niemand bauen. Željkos Realschullehrerin erkennt Potenzial und Ehrgeiz ihres Zöglings und ebnet ihm den Weg aufs Gymnasium. Dagegen rät ihm der Berater im Berufsinformationszentrum, ungeachtet seiner dokumentierten Qualifikationen »nach der 10. Klasse abzugehen und eine Ausbildung zum Gärtner zu beginnen«. Entsetzt vernimmt Željko die Prognose, »dass mein Weg nicht über ein Studium gehen, aber trotzdem viele interessante Chancen bieten werde«. Leider allzu handgreiflich sträubt er sich gegen die Bevormundung – und handelt sich damit neben einer Schulstrafe vor allem Sympathieverluste bei der Lehrerschaft und den Eltern ein, die einem »Mann vom Amt« mehr Glauben schenken als der verwegenen Selbsteinschätzung ihres Sohnes. Der beharrt nämlich auf seinem Ziel, Abitur zu machen – das beste, um genau zu sein. Den Eltern fordert das weiterhin größte Einschränkungen ab. Am Ende schafft er, was er will, und widerlegt damit das pragmatisch-resignative Credo seines großen Bruders (»Das ist nichts für Kinder wie uns.«). Er wird seinen ambitionierten Weg mit Stipendium und Studium fortsetzen.
Den Anfang von Željkos Erzählung macht die Feier zum vierzigsten Geburtstag der Mutter. Neben seinem älteren Bruder Kruno und seiner jüngeren Schwester Ljuba sind Verwandte und Kolleginnen aus der Krankenhaus-Putzkolonne zugegen. Für sie alle wurden Kekse und andere Leckereien vorbereitet, doch für ihren Ehrengast hält Mutter derlei für zu »minderwertig«. Frau Martha Gruber, der sie die Wohnung putzt, ist Professorin und »ein feinerer Mensch«. Da muss schon eine Schwarzwälder Kirschtorte aus der Tiefkühltruhe her, um Eindruck zu schinden.
Mit der Titelfigur kommt das eigentliche Thema des Romans ins Spiel und weitet die Welt des Fünfzehnjährigen beträchtlich und vielschichtig. Seine erste Lektion ist Peinlichkeit. Die kultivierte Dame ist befremdet, dass sie, auf der Toilette sitzend, nur ein Vorhang von dem Jungen trennt, der auf seinem Bett die Zeitung liest. Doch ein Funke der Zuneigung scheint von Anfang an übergesprungen zu sein. Bei einer zufälligen Begegnung in der Stadt lädt »Frau Gruber«, wie Željko sie stets respektvoll nennt, ihn zum Eis ein, für die Sommerferien beschäftigt sie ihn in Haus und Garten und öffnet ihm ihre umfängliche Bibliothek zum Staunen und zur Ausleihe. Die Professorin wird zur großzügigen Mäzenin des Jungen.
Was motiviert die weltgewandte, kluge Frau wohl, sich so zu engagieren für einen zwanzig Jahre jüngeren Heranwachsenden? Es ist eine sehr seltsam anmutende Liebesgeschichte, die lange mit der Spannung zwischen sexueller Anziehung, Hinauszögern und Verweigerung spielt. Martha bemerkt sehr wohl, dass der ansehnliche junge Gärtner ihr Bad im Pool und ihre freizügige Gymnastik auf dem Rasen verstohlen beobachtet, und legt es wohl darauf an, ihn zu stimulieren. Genießt sie seine Verlegenheit und ihre Überlegenheit? Will sie, die vom Vater ihrer Tochter getrennt lebt, herausfinden, ob ihre Reize noch wirken, und sucht sich dafür sicherheitshalber ein unerfahrenes Versuchskaninchen heraus? Oder provoziert sie den Jungen selbstbewusst, indem sie sich der Konkurrenz der Mädchen seiner Altersgruppe stellt?
All das mag sein, doch keinesfalls ist Željko nur Spielball einer gelangweilten Akademikerin. In ihren Gesprächen wird deutlich, dass sie seine Reife, seine Interessen, seinen Wissenshunger schätzt und neugierig ist auf ihn, sein Wesen, seinen familiären und kulturellen Hintergrund. Sie meint es ernst mit ihm, nimmt ihn für voll, thematisiert auch die körperliche Begehrlichkeit. »Hättest du keine Bedenken, wenn wir uns küssen würden?«, fragt »Frau Gruber« unvermittelt und rückt das Thema damit ins Bewusstsein. Željko erweist sich als vernünftig und abgeklärt. Er erkennt an, dass »Frau Gruber eine sinnvolle Übereinkunft zwischen Wesen und Körper ausstrahlte«, »ein schöner Mensch« ist, aber er bleibt vorerst beim »Sie« und der förmlichen Anrede. Die späteren, durchaus konkreten sinnlichen Begegnungen entwickeln sich aus ihrer Situation heraus.
So zieht sich eine unregelmäßige Fernbeziehung mit Postkarten und Telefonaten über Jahre hin. Dies als »Liebesgeschichte« zu bezeichnen fällt schwer, denn Liebe ist nicht wirklich das tragende Fundament. Entscheidender sind Machtspiele und, damit verknüpft, gewissermaßen verdiente oder erkaufte, jederzeit abrufbare Erotik. Die gut betuchte Intellektuelle bestimmt die Regeln, entwirft die Choreografie und lässt Željko, mit raffiniert dosierter Begierde abhängig gemacht, am ausgestreckten Arm baumeln.
Nicht einmal das Wort »Romanze« will so recht passen, schon weil es eine »Vereinbarung« gibt, dass keiner dem anderen verpflichtet ist. So bleiben zwei Pole, die einander anziehen, sich aber der Vereinigung verweigern. Die Professorin weiß ihre Position subtil auszuspielen, etwa wenn sie dem jungen Studenten eine Kreditkarte zur freien Verfügung überreicht oder ihn zu einem Wochenende in ihr nobles Ferienhotel auf Juist einlädt. Hier genießen sie endlich, was sie sich so lange verweigert haben.
Als erwachsener Mann und Erzähler wirkt Željko abgeklärt. Er trägt seine Erlebnisse recht sachlich vor, oft klingt Süffisanz durch, Hass aber nicht, auch nicht, wenn es um die schiere Unmöglichkeit seines sozialen Aufstiegs geht. Wenn er trotz allen Bemühens ewig am Rand stehen zu müssen droht, nehmen die Frustrationen überhand, Resignation stellt sich ein, die Kraft zum Kämpfen schwindet.
Tatsächlich ist Martin Kordićs Roman ein etwas unentschlossener Genremix. Er verbindet eine Art Sozialkritik des deutschen Wohlstandsbürgertums mit einer Coming-of-Age-Story und einer Migrationsgeschichte. Dem letzteren, wohl aktuellsten Thema haben sich andere Autoren (z.B. Sven Pfizenmaier, › Rezension) schon profilierter gewidmet und die Probleme offengelegt, die aufkommen, wenn Migranten sich um Integration mühen, indem sie in all ihrem Streben besser als die Deutschen sein, vor allem angesehen werden wollen. Dies ist hier nur der Hintergrund, vor dem sich die eigenartige Beziehungshandlung entwickelt.