
Verbrenn all meine Briefe
von Alex Schulman
Als die jungvermählte Ehefrau sich in einen anderen Mann verliebt, brechen in ihrem Gemahl die schlimmsten Charakterzüge durch und vergiften das Leben der ganzen Familie bis hin zu den Enkeln.
Toxisches Erbe
Alex Schulman entstammt einer überaus renommierten Familie. Sein Großvater war Sven Johan Stolpe (1905-1996), ein fruchtbarer Schriftsteller, hochgebildeter Literaturkritiker und Übersetzer, dazu Journalist und engagierter Kommentator des politischen Zeitgeschehens, der sich gegen die Unterdrückung im Nationalsozialismus und in der Sowjetunion wandte. 1931 heiratete er die Autorin und Übersetzerin Karin Maria von Euler-Chelpin (1907-2003), Tochter des Chemikers und Nobelpreisträgers Hans von Euler-Chelpin und der Naturwissenschaftlerin Astrid Cleve. Aus der Ehe gingen zwischen 1933 und 1951 vier Kinder hervor, als jüngstes Lisette Schulman, Alex Schulmans Mutter.
Was bedeutet es, als junger Spross in einen solchen Stammbaum hineingeboren zu werden? Ein genetischer Segen, ein gesellschaftliches Privileg, eine besondere Chance auf Selbstverwirklichung – oder bedeutet es Verengung, ist es ein Fluch von Druck und Erwartungen?
Alex Schulman, 1976 geboren, ist selbst ein erfolgreicher Schriftsteller geworden. Mit seinem Roman »Die Überlebenden«, in dreißig Sprachen übersetzt, hatte er seinen bislang größten Erfolg [› Rezension]. Es ist eine erschütternde fiktionale Erzählung von familiärer Lieblosigkeit und Gefühlskälte. Wie wir nun in seinem neuen Buch lesen, beobachtet der Autor beunruhigende Eigenschaften aber auch in sich selbst. Da sind eine unerklärliche tiefe Wut und Neigung zu Aggression, die ihn selbst, seine Kinder und seine Frau in Angst versetzen und das Zusammenleben der Familie gefährden. Woher kommen diese Züge, fragt er sich, und wie kann er sie beherrschen?
Schulman beginnt bei sich selbst und unterzieht sich acht Jahre lang einer Therapie. Parallel dazu forscht er nach Spuren des Bösen in seiner Kindheit und seiner Familie. Auf mütterlicher Seite findet er chaotische Zustände. Lisette Schulman und ihre drei Geschwister »hassten einander in wechselnden Konstellationen … über Jahrzehnte hin … ein Schlachtfeld … von Streit, Trennungen und Auseinandersetzungen. Niemand wurde verschont«. Was dem Kind zunächst unverständlich ist, gewinnt für den Jugendlichen durchaus an Attraktivität.
Ebenso starke Erinnerungen lenken Schulmans Nachforschungen zu den Eltern seiner Mutter. Besuche beim Großvater riefen bei allen Enkelkindern Ängste und Wut hervor. Eigentlich beschränkten sie sich auf eine schweigsam zelebrierte Respektbezeugung, nach deren Entgegennahme der Mann wieder ins Nebenzimmer entschwand. Das Ritual war die größte Nähe, die Sven Johan Stolpe zuließ. So war er für den Enkel noch zu Beginn seiner Recherchen ein Unbekannter, über den zwar Anekdoten kursierten, dessen Wesen aber ein »Mythos« blieb. Vielleicht gerade deshalb ging von dem autoritären, abweisenden Großvater, einem der »gebildetsten Männer Schwedens«, der in vier Sprachen fließend Diskurse führen konnte und von sich wie von anderen permanent intellektuelle Höchstleistung einforderte, eine eigenartige Anziehung auf den Enkel aus, »ein geheimnisvolles Kraftfeld, selbstleuchtend und unergründlich«, das ihn stets die Nähe des Großvaters suchen ließ. Dennoch mochte Alex Schulman kein einziges seiner fast einhundert Bücher lesen.
Ein Besuch im Jahr 1988 wird zu einem prägenden Ereignis und liefert Alex Schulman den Schlüssel zu allem Folgenden. Dabei entdeckt er eine Pistole (ein gut gehütetes Geheimnis) und einen Briefwechsel zwischen Karin, seiner Großmutter, und einem jungen Mann. Durch die Beschäftigung damit lernt der Enkel die Großeltern in neuem Licht zu sehen, und es erschließen sich ihm mögliche Wurzeln für seine eigene Verfassung.
Der junge Mann ist eine weitere illustre Persönlichkeit der schwedischen Kulturgeschichte. Olof Gustaf Hugo Lagercrantz (1911-2002) war ebenfalls Schriftsteller, Publizist und Kritiker und wird später zu Sven Stolpes erbittertem Gegenspieler. Die Leidtragende dieser exzessiven Feindschaft ist Stolpes Ehefrau Karin.
Gut ein Jahr nach ihrer Vermählung mit Sven Stolpe begegnet die Fünfundzwanzigjährige dem vier Jahre jüngeren Literaten Olof Lagercrantz. Es ist für beide Liebe auf den ersten Blick. Beide werden sie zeitlebens in ihren Herzen tragen, und sie wird beider Leben bestimmen. Olof gibt ihr in Gedichten und Texten Ausdruck, aber Karin weiß, dass ihr Ehemann sie niemals freigeben würde, schon gleich nicht an den verhassten Rivalen Lagercrantz. Seine despotische, narzisstische, boshafte Natur würde eine solche Niederlage niemals zulassen, eher würde er bis zum Äußersten gehen, um das Verhältnis zu unterbinden. Die Konsequenzen sind fatal: Obwohl Karin sich unterwirft und in ihr Schicksal fügt, wird sie »aus Stolpes Narrativ wie ausradiert«, bleibt für ihn auf ewig eine treulose, verdorbene »Hure«, nie wieder erachtet er sie der geringsten Zärtlichkeit für würdig. Sie »selbst aber schweigt all die Jahrzehnte hindurch«.
Wie nachhaltig Eifersucht und verletzter Stolz die exzentrische Psyche des Mannes gestört haben, schlägt Alex Schulman in vielen beklemmenden Briefen seines Großvaters an die Ehefrau entgegen. Immer wieder spukt dort noch Jahrzehnte später »OL« als ewiger Dämon und Erzfeind durch Sven Stolpes Gedanken und Albträume (»Dies Leben, eine ewige Dunkelheit«). In den Siebzigerjahren ist auch das Verhältnis zu seinen Kindern vergiftet, wie erschütternde Briefwechsel belegen. So formuliert einer der Söhne an Sven Stolpe, er hätte jeden anderen, der ihm so etwas angetan hat wie sein Vater, »mit bloßen Händen erwürgt« – worauf der Vater entgegnet, er wolle alles Weitere dazu in einem Roman mit dem Titel »Ein Sohn« niederschreiben, und »wir werden uns in diesem Leben nicht wiedersehen«.
Alex Schulmans Roman ist im Wesentlichen die Erzählung seiner Recherchen und die Ausgestaltung der persönlichen Beziehungen, wie sie sich ihm daraus enthüllen. Zum Beispiel hat der Autor den Ort der schicksalhaften Begegnung zwischen Karin und Olof aufgesucht. Neben familieninternen Dokumenten hat er Olof Lagercrantz’ Tagebuch von 1932 sowie dessen Briefe und Gedichte für Karin Stolpe einbezogen. Schulman betont, dass sein Material »authentische Begebenheiten« wiedergebe, die er jedoch leicht verändert habe, und er legt Wert darauf, dass sein Werk dank der fiktionalen Gestaltung ein Roman sei.
In der Tat ist die im Mittelpunkt stehende Dreiecksgeschichte literarisch hochwertig aufbereitet. Ereignisse und Emotionen sind sehr berührend beschrieben, menschliche Abgründe ebenso. Karins letzte Bitte an Olof, mit verzweifelter Todesangst formuliert, lautet »Verbrenn all meine Briefe« – ein markanter Titel, dessen tiefe Tragik sich erst beim Lesen erschließt. Das lange im Raum stehende Geheimnis bindet unsere Aufmerksamkeit und Neugier wie ein spannender Kriminalroman.
So enthusiastisch »Bränn alla mina brev« oft gefeiert wird (Hanna Granz hat das Buch übersetzt), so stellen sich beim Lesen doch auch Bedenken nicht unbedingt literarischer Art ein.
In seinem Roman, dessen Nähe zum Biografischen er selber einräumt, enthüllt Alex Schulman nicht nur sein eigenes Privatleben, seine Neigung zu Aggressionen gegen engste Vertraute, sondern demaskiert auch seine Vorfahren. Als rein fiktionales Konstrukt haben solche Themen einen anderen Stellenwert, aber die schmerzlichen Einblicke in familiäre Interna (wenn sie denn wahr sind) bringen uns Leser in die Rolle von Voyeuren. Bedient sich Schulman seines Romans nicht auch als einer Art Waffe, ebenso wie Stolpe es mit »Ein Sohn« androhte, aber dann doch unterließ?
Zweifellos hat Alex Schulman mit seinem Roman das Bild des hochangesehenen Großvaters gehörig beschädigt. Ob die Einblicke in dessen Wesen neu sind und wie weit sie Wahrheit wiedergeben, sei dahingestellt. Gewiss war die Demontage intendiert und kein zufälliger Nebeneffekt – schließlich suchte Schulman ja den Quell seiner eigenen Makel. Erzwingen Schulmans Enthüllungen nun eine Neubewertung von Sven Johan Stolpes Leistungen auf zahlreichen Gebieten? Das entspräche den Auffassungen heutiger Haltungsapostel, die gern die Werke längst verstorbener Menschen verbannen, weil deren Ansichten oder Handeln den hehren Maßstäben späterer Generationen nicht genügen. Oder hält Schulman es mit François-Xavier Roth, dem Dirigenten der Bayerischen Staatsoper, der über Richard Wagner sagt: »Der Mann interessiert mich nicht. Mich interessiert, wie er als Komponist unsere Welt verändert hat.«
Unterm Strich schenkt dieses Buch uns Kleinbürgern eine triviale, aber tröstliche Erkenntnis: Halbgötter aller Art, die dafür verehrt werden, dass sie der Welt Würde und Weisheiten schenken, sind auch nur Menschen.