Unter Wölfen
von Alex Beer
Im März 1942 bietet sich für Isaak Rubinstein eine winzige Chance, der Deportation zu entgehen. Dazu muss der Antiquar in eine Rolle schlüpfen, die ihm viel zu groß ist und keinen einzigen Fehler verzeihen wird. Mitten im Rudel von Nazi-Wölfen muss der Jude den Mord an einem Filmstar aufklären – und noch mehr erledigen.
Undercover bei der Gestapo
Seinen Laden haben die Nazis geplündert und enteignet. Mit seinen Eltern, seiner verwitweten Schwester und deren zwei kleinen Kindern wurde er aus der Wohnung vertrieben. Wie die meisten noch in Nürnberg verbliebenen Juden wurden sie in sogenannten »Judenhäusern« zusammengepfercht. Der frei gewordene Wohnraum wurde deutschblütigen »Herrenmenschen« zugeteilt. Jetzt schuftet Isaak Rubinstein, bislang Antiquar, mit vielen anderen Zwangsarbeitern in einer Munitionsfabrik.
Nürnberg ist eine der politischen Hochburgen Nazi-Deutschlands. In der Stadt der Reichsparteitage mit ihren einschüchternden Massenaufmärschen sind die Spuren jüdischen Lebens im Frühjahr 1942 fast völlig aus dem Alltag verbannt. Längst ist Hass geschürt, ruft man ohne Scham zynisch-verächtliche Beschimpfungen, sind Gesetze erlassen, Befehle erteilt, Deportationen organisiert. Dass Juden mit gepackten Koffern plötzlich aus dem Straßenbild verschwinden, ist allgemein zu beobachten. Trotz allem finden die Gerüchte, die Nazis wollten die Juden »vom Antlitz der Erde tilgen«, keinen Glauben. Auch Isaak Rubinstein denkt, man könne doch nicht auf seine Leistung in der Fabrik verzichten. Doch der schriftliche »Evakuierungsbescheid« belehrt ihn eines Besseren. Am Samstag, dem 21. März 1942, habe er sich um 13.00 Uhr mit genau definiertem Gepäck zur Abholung bereitzuhalten. Wohin es geht, sagt der Brief nicht.
Auf der Suche nach einer Möglichkeit, der Deportation zu entkommen, wendet sich Isaak an Clara, mit der er vor dem Krieg ein Verhältnis hatte. Sie wäre damals mit ihm aus dem Nazi-Reich fortgezogen, doch er wollte seine Familie nicht in Unsicherheit zurücklassen. Tatsächlich ist Clara bereit, Isaak und seine Verwandten zu verstecken und über ihre Kontakte außer Landes zu schaffen. Allerdings hat die Widerstandsgruppe, mit der sie in Verbindung steht, ihre besten Kräfte durch eine Verhaftungswelle verloren und wünscht für diese gefährliche Mission eine Gegenleistung. Doch was kann ein Büchermensch wie Isaak schon anbieten? Materiell hat man ihm alles genommen, und er ist kein geborener Kämpfer. Sein wertvollstes Kapital sind seine geistigen Fähigkeiten, und die reizt seine Schöpferin, die Autorin Alex Beer (Pseudonym der Wienerin Daniela Larcher), nun aus: Sie wandelt ihren Protagonisten zum Star-Ermittler und schmuggelt ihn in Nazi-Kreise ein.
In der Fiktion mag alles erlaubt sein, aber überzeugen muss es schon. Als wäre es nicht bereits ein tolles Husarenstück, einen dem Tod geweihten Juden so geschickt bei seinen Erzfeinden unterzubringen, dass nicht einmal die aus Profession misstrauischen Kollegen Lunte riechen, setzt die Autorin kühn noch eins drauf. In eine Art Falle gelockt, übernimmt Isaak die Identität des Berliners Adolf Weissmann, 38, des fähigsten Sonderermittlers des Deutschen Reiches. Während der Widerstand den wahren SS-Sturmbannführer auf seiner Dienstreise nach Nürnberg kaltstellt, startet dort sein Doppelgänger durch in höchste Kreise, um ein Verbrechen von nationaler Relevanz aufzuklären: Die berühmte und beliebte Filmschauspielerin Lotte Lanner wurde im Wohntrakt der traditionsreichen Nürnberger Burg mit aufgeschlitzter Kehle aufgefunden. Auf allerhöchsten Befehl soll Weissmann den Mörder der populären Diva finden und darf sich dazu freiweg bis in die Machtzentrale der Gestapo bewegen. Genau dort kann er für die Widerständler Nützliches tun – nicht etwa irgend welchen Kleinkram, nein, er soll nichts weniger als das Protokoll einer Konferenz herausschmuggeln, damit die Pläne für die drohende Massenermordung der Juden ins Ausland geschafft werden können.
Wer sich nun nicht weiter über die Hürden der Plausibilität quält, sondern einfach drunter durchschlüpft und sich großmütig in das Beersche Maximalprogramm plumpsen lässt – ein Agent des Widerstands wird eingeschleust, um den Holocaust zu verhindern –, darf sich auf eine spannende Lektüre freuen. Böse Mordverdächtige gibt es genug, doch wer den Filmstar niedergemetzelt hat, ist angesichts der historischen Aufgabe des couragierten Ermittlers und seines minenfeldähnlichen Aktionsbereiches geradezu sekundär.
Was den Leser an den wendungsreichen Handlungsgang fesselt, ist vielmehr die beständige Sorge um Isaaks Sicherheit. Als Schaf »unter Wölfen« auf sich allein gestellt, kann seine prekäre Tarnung jederzeit auffliegen, auch wenn die Behauptung eingefleischter Nazis, sie könnten einen Juden am Geruch erkennen, bis heute nichts von ihrer Dämlichkeit verloren hat. Aber glücklicherweise steht die Autorin ihrem Helden zur Seite und hilft ihm mit Fantasie und literarischen Winkelzügen aus der Patsche. Wenn es brenzlig wird – wenn er etwa zu Gesellschaften eingeladen, nach seiner beeindruckenden Karriere in Berlin befragt oder von ehemaligen Studienfreunden überrascht wird –, hält er sich klug zurück, und in der Not kann er über sich hinauswachsen.
Alex Beer hat eine Gratwanderung riskiert, als sie beschloss, einen auf Unterhaltung und Spannung ausgerichteten Krimiplot in der beklemmenden Atmosphäre der Judenverfolgungen 1942 anzusiedeln, als in einer Villa am Wannsee die Unvorstellbarkeit europaweiten millionenfachen Mordens gerade organisatorisch und technisch in Angriff genommen wurde. Auf der Grundlage ihrer Recherchen hat die Autorin ihr abenteuerliches Handlungsgerüst entwickelt und in leicht konsumierbarem Erzählstil zu Papier gebracht. Indem sie den Mut ihres Protagonisten und die Waghalsigkeit seiner Unternehmung bis jenseits aller Wahrscheinlichkeit übertreibt, wappnet sie ihre Geschichte vielleicht gegen den denkbaren Vorwurf, sie verharmlose die tragischen historischen Vorgänge der Zeit für einen schlichten Krimi. Indem sie die Ängste, Nöte und Bedrohungen der Verfolgten, die mitleidlose Grausamkeit der Verfolger und die eiskalte Unmenschlichkeit der Organisatoren der »Endlösung der Judenfrage« realistisch darstellt, macht sie anschaulich, was manche heute gern vergessen lassen möchten.