Goldkind
von Claire Adam
Ein infames Verbrechen zwingt einen Vater in einen unerträglichen Konflikt. Er muss über den weiteren Lebensweg seiner beiden ungleichen Zwillinge entscheiden – und zwischen ihnen.
Eine unmenschliche Zwangslage
Obwohl sie Zwillinge sind, unterscheiden sich Peter und Paul erheblich. Peter kann schon vor seiner Einschulung lesen, wird gefördert und geht zielstrebig seinen Weg. Paul, der während der Geburt nicht genug Sauerstoff bekam, wirkt durch Verhalten und Aussehen auf manche etwas zurückgeblieben. Aber sie halten zusammen wie Pech und Schwefel.
Die beiden leben auf der Karibikinsel Trinidad, die man bei uns gemeinhin mit einem Traum-Urlaub im Paradies assoziiert. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Drogenbosse, Gangs und Kleinkriminelle bevölkern ein dichtes Milieu, in dem Politik und Polizei lieber mitmachen als Ordnung schaffen, denn jeder will sein Stück vom Kuchen abschneiden. Selbst aus Kolumbien kommen Banden auf die Insel herüber, um in der Hauptstadt Port of Spain mitzumischen.
Nicht so Clyde, der Vater der Zwillinge. Er weiß genau, »wie die Dinge in diesem Land laufen«, lässt sich aber nicht anstecken. Seine moralischen Maßstäbe sind klar und fest. Er wuchs unter einfachsten Verhältnissen in einem Dorf am Meer auf. Seine Schulbildung endete mit dem zwölften Lebensjahr. Auch Joy, das Mädchen, das er heiratete, hatte es »nicht so mit Büchern«. Anfangs verdient Clyde den Lebensunterhalt als Bauhelfer, später bei einer Ölfirma, die besser zahlt. In ihrem von Busch und Kakaoplantagen umgebenen Dorf, gut vier Stunden von Port of Spain entfernt, lebt man ehrlich, bescheiden und gemächlich. So können sich Clyde und Joy eines glücklichen Familienlebens erfreuen. Ihr größtes Glück sind die Zwillinge, die sie liebevoll und streng erziehen.
Mit aller Ruhe führt uns die Autorin durch die Geschichte von Clydes und Joys Clan. Verglichen mit den Verwandten seiner Frau ist Clyde ein »Hungerleider« und »Habenichts«. Ihr Onkel Vishnu ist Arzt, ihr älterer Bruder Philip Richter und Romesh, ihr jüngerer Bruder, Pilot. Alle residieren in den besseren Wohnvierteln der Hauptstadt – Romesh zum Beispiel in einer wehrhaft gesicherten Villa, die sein reicher Schwiegervater finanziert hat.
Onkel Vishnu, selbst genügsam lebend, hat die armen Verwandten gern materiell unterstützt. Als Joys Geburtshelfer hat er an der Entwicklung der Jungen besonderen Anteil genommen. Nachdem er Peters Intelligenz frühzeitig erkannt hatte, versprach er Clyde, ihm einmal ein Studium zu finanzieren. Als der Arzt vorzeitig stirbt, hinterlässt er Peter ein beträchtliches Vermögen.
Dann tritt Onkel Philip in seine Fußstapfen als Förderer der Jungen. Da keiner der beiden ohne den anderen leben könnte, bringt Philip dank seiner Beziehungen nicht nur Peter, sondern auch den lernschwachen Paul an einem katholischen Privatcollege in Port of Spain unter. Dort findet Paul tatkräftige Unterstützung bei einem jungen irischen Pater.
Die Beziehung zwischen Clyde und Paul ist nicht so problemlos wie die zu Peter, der jede Prüfung mit Bravour meistert, schulische Spitzenplätze erobert und alle Erwartungen des zu jedem Opfer bereiten Vaters auf eine internationale akademische Karriere erfüllt. Clydes Liebe zu Paul ist ebenso groß und unverbrüchlich, auch wenn er ihn nicht selten für einen nichtsnutzigen Tagträumer hält und ihm in Momenten größter Verzweiflung damit droht, ihn in ein Heim für geistig Behinderte zu stecken. Mit Pater Kavanagh aber glaubt zum ersten Mal jemand an den Jungen, und sein Selbstwertgefühl wird gestärkt. Er rackert sich ab, macht einige Fortschritte, stößt aber, da andere Schwächen bleiben, an seine Grenzen. Schließlich akzeptiert Paul die Aussichtslosigkeit seines Kampfes. Er erwägt, den Vater jetzt damit zu beeindrucken, dass er sich Arbeit sucht und sein eigenes Geld verdient – oder notfalls so weit wegläuft, dass Daddy ihn niemals mehr findet.
In dieser Lage beginnt Claire Adams ergreifender Roman und stürzt uns in eine Szene, die jede Familie in Unruhe versetzen würde. Paul ist noch »unterwegs«. Vielleicht treibt er sich im dichten Busch oder irgendwo am Fluss herum, wie er das gerne tut. Man könnte gelassen abwarten, bis er irgendwann eintrudelt, hätten nicht zwei Wochen zuvor bewaffnete Gangster das Haus überfallen, Joy und die Jungen gefesselt und bedroht, die ganze armselige Hütte durchwühlt und verwüstet. Unter diesen Vorzeichen entwickelt die Autorin einen aufwühlenden Entführungsfall, der Vater Clyde in eine schier unlösbare und menschlich unerträgliche Notlage treibt. Denn während er die Lösegeldforderung für Pauls Freilassung aus eigener Kraft niemals aufbringen könnte, liegt Onkel Vishnus Vermögen abrufbereit auf einer britischen Bank. Doch es ist dem »Goldkind« versprochen, um seine goldene Zukunft in Harvard zu sichern.
Eingebettet in das dörfliche Treiben der Karibikinsel Trinidad, deren Lebensweise und Alltag die Autorin anschaulich beschreibt, stellt Claire Adam einen liebenden, gewissenhaften, pflichtbewussten Vater in einen existentiellen Konflikt, den er nicht aus eigener Kraft lösen kann, aus dem es keinen Ausweg gibt und der nur Opfer hinterlassen kann.
Den Rahmen dafür bildet die schwierige, sozial und charakterlich breit gespreizte Großfamilie. Alle Verwandten, die Kinder voran, besuchen die armen Schlucker auf dem Land gern und zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Dort wird gegessen, getrunken und gestritten, vor allem um Geld. Während Ramesh, dem es zwischen den Fingern zerrinnt, beständig bei Onkel Vishnu um Nachschub vorspricht, tut sich Clyde schwer, Zuwendungen des Arztes anzunehmen – sein Ehrenkodex fordert, dass einem nur das wirklich zustehe, was man selbst geschaffen habe.
Die eindrucksvollste Charakterzeichnung gilt Paul und seiner Andersartigkeit. Wer ihn (wie gelegentlich sein Vater) für schlicht, dumm oder »zurückgeblieben« hält, wird dem Jungen nicht gerecht. Paul hat Interessen, die Clyde mit Befremden wahrnimmt, und Stärken, von denen er nichts ahnt. Ganz bei sich ist Paul in der Natur, wenn er Tiere, Mond und den Sternenhimmel beobachtet und sich um die Hunde der Familie kümmert. Bei dem Überfall auf das Haus setzt er sich mutig zur Wehr (»Erschießen Sie mich!«). Mit seinem Bruder ist er in untrennbarer Liebe verbunden. Wenn sie nebeneinander im Bett schlafen, horcht er auf die Geräusche der Nacht und fühlt sich geborgen. Dass Peter sich gern im Bett breitmacht, stört Paul nicht. Vielmehr bewegt er sich »ganz vorsichtig, um seinen Bruder nicht zu wecken«.
Trotz des selbstlosen Einsatzes seines gesamten Besitzes gelingt es Clyde nicht zu verhindern, dass das Schicksal die Wege seiner Zwillinge trennt. Peter muss seinen Weg zum Studium in Amerika alleine gehen, verliert Paul aber nie aus seinem Herzen. Folgerichtig und stimmig endet der Roman hoch emotional.
Claire Adam wuchs in Trinidad auf, studierte Physik in den USA und lebt heute in London. »Golden Child« , ihr Debütroman, erhielt 2019 den Desmond Elliott Prize, und die BBC nahm ihn im November 2019 als Neuzugang in die Liste der »100 most inspiring novels« englischer Sprache auf (die mit Jane Austens »Pride and Prejudice« von 1813 beginnt). Marieke Heimburger und Patricia Klobusiczky haben ihn kraftvoll und prägnant ins Deutsche übersetzt. Es ist ein Thriller, dessen Strukturprinzip die Aussparung ist. Die Abbrüche von Erzählsträngen bewirken jedoch nicht einfach Neugier auf die spätere Lösung von Rätseln, sondern lösen vielmehr beim Leser Beklemmungen aus, die sich wie Bänder um die Psyche legen und sie zusammenschnüren, bis endlich die Schlusspassage Emotionen evoziert, denen sich selbst der coolste Leser wie eine Befreiung hingeben wird.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2019/20 aufgenommen.