Rezension zu »Nacht in Caracas« von Karina Sainz Borgo

Nacht in Caracas

von


Die meisten Bürger darben in Armut. Banden marodieren. Niemand schafft Ordnung. Jeder ist sich selbst der Nächste. So stellt man sich das Leben in der Hölle vor. Dabei ist es das erdölreichste Land des Planeten.
Belletristik · Fischer · · 224 S. · ISBN 9783103974614
Sprache: de · Herkunft: es

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Leben in der Hölle

Rezension vom 09.02.2020 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Venezuela, im Norden des südamerikanischen Kontinents gelegen, gehört zu den reichsten Nationen der Erde. Denn nirgendwo in der Welt wurde mehr Erdöl nachge­wiesen als hier. Der natürliche Schatz ist aller­dings zum Fluch geronnen, wie dies auch anderen Ölstaaten widerfuhr. Die Quellen sprudeln, aber die Einnahmen ver­sickern im Einfluss­bereich einer Clique von Politi­kern, Bossen und Firmen, während weit über die Hälfte der Bevöl­kerung para­doxer­weise in Armut vegetiert und die Ordnung sich auflöst. Die wech­selnden Führungen des Landes, häufiger Dikta­toren als Demo­kraten, oft durch Putsche oder Revolu­tionen an die Macht gelangt, konnten ihre Pfründe über Jahre und Jahr­zehnte sichern, während das Land durch krasse Miss­wirt­schaft, Korrup­tion, Inflation, Aus­lands­schul­den und die Ab­hängig­keit vom Öl als einzigem Wirt­schafts­zweig verfiel und verelen­dete. Benzin gab es im Überfluss und nahezu gratis, Nahrungs­mittel und sauberes Wasser nur als über­teuerte Mangel­ware.

Die venezolanische Autorin Karina Sainz Borgo, 1982 in Caracas geboren und mit 25 Jahren nach Spanien emigriert, schildert in ihrem Debüt­roman (den Susanne Lange übersetzt hat) Eindrücke und Ereig­nisse vom Leben in ihrem Heimat­land. Sie erzählt eine kaum zu ertra­gende Realität, einen düsteren Weg durch Sozia­lismus und Militär­diktatur, Mangel und Macht­losig­keit, Gewalt und Chaos. Die Ich-Erzäh­lerin, die uns all dies vermit­telt, ist Adelaida Falcón, die als Seelen­ver­wandte der in etwa gleich­altrigen Autorin verstan­den werden kann. Voller Hass und Abscheu – beides mehr als nach­voll­zieh­bar – beschreibt sie die poli­tisch herbei­geführ­ten Zustände eines ganzen Landes, das trotz seiner natür­lichen Segnungen im Elend versinkt.

Die Familie Falcón stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe des Meeres. Adelaidas Groß­tanten, inzwi­schen achtzig Jahre alte Zwillinge, betreiben dort eine Pension, obwohl sie längst herunter­gewirt­schaftet ist und sie kaum noch ernähren kann. Adelaidas Mutter verließ den Ort früh­zeitig, um in Caracas Pädagogik zu studieren. Als Erste in der Familie erreichte sie einen aka­demi­schen Abschluss. Als sie schwanger wurde, nahm der Kindes­vater, wie es geradezu üblich ist, umgehend Reißaus. Mit Nach­hilfe­stun­den brachte die Mutter sich und ihr Kind in der Haupt­stadt über die Runden. All die Jahre blieben die beiden eine einander genügende, wenn auch nicht immer probl­emlos funk­tionie­rende Einheit. Ab und zu besuchten sie das armselige Dorf und die Tanten.

Der Roman beginnt mit der tristen Beerdigung der an Krebs gestor­benen Mutter. Adelaida (die für einen Verlag arbeitet) sinniert, wie sich »der Tod als Erstes in der Sprache vollzieht«. Die Verbform des Präteri­tums vermag »die Personen aus der Gegenwart zu reißen und in die Ver­gangen­heit zu pflanzen. Sie in abge­schlos­sene Hand­lungen zu verwan­deln. In Dinge, die in einer erlosche­nen Zeit begannen und endeten«. So wird ihr die End­gültig­keit bewusst, mit der sie nun alleine und auf sich gestellt bleiben wird. Damit ist der deprimie­rend triste, lakoni­sche Grundton des Abge­sangs gesetzt.

Die Tanten erscheinen nicht zur Trauerfeier. Aber überall begegnen Adelaida Spuren ihrer unbe­schwer­ten, aben­teuer­lichen Kindheit in den Acht­ziger­jahren, die nicht anders verliefen als die hundert Jahre davor. Wie leuchtend auf­blin­kende Punkte werden die Erinne­rungen sie durch die immer finsterer und bedroh­licher wer­dende Gegenwart der Handlung begleiten. Die zarte, in ihren Augen mickrige, viel zu dürre Nichte war das Ein und Alles der Tanten. Sie sorgten und küm­merten sich und kom­mentier­ten unent­wegt ihr Wohl und Wehe. »Iss nur«, tönte es bestän­dig. Dabei war es dem Mädchen schon zum Früh­stück schlecht: »knusprig gebra­tene Schweine­schwarten«, Gemüse, dazu »Kaffee mit Zucker­rohr­saft und Zimt«, gefiltert durch einen Strumpf.

Für Idylle und Zuneigung ist in Adelaidas brutaler Gegenwart kein Raum mehr. Allent­halben muss man gewärtig sein, von maro­dieren­den Banden verprü­gelt, miss­handelt, einge­sperrt zu werden. Viele von ihnen halten ein ideologi­sches Deck­mäntel­chen hoch, schlagen aber grausam und will­kür­lich zu. Die »Hijos de la Revolución« « haben demons­trie­rende Studenten ver­schleppt und rücken nicht einmal gegen Bezahlung damit heraus wohin. Besonders berüch­tigt sind die »Motorizados de la Patria« «. Ehemals eine Schutz­truppe des Revo­lutions­führers (»Coman­dante Presi­dente«), sind diese Motor­radmän­ner in roten T-Shirts längst außer Kontrolle geraten und kassieren, quasi mit einem Frei­fahrt­schein ausge­stattet, Maut, plündern, brechen ein, freveln und töten nach Belieben, und »jeder, der Lust zum Töten und Sterben hatte, konnte sich bei ihnen ein­schrei­ben«. Selbst auf dem Friedhof veran­stalten sie und ihre vor ordinärem Selbst­bewusst­sein strot­zenden Begleite­rinnen einen barbari­schen, vulgären, gott­losen Toten­tanz, eine »Art Hexen­sabbat«. Adelaida macht ihre eigenen bitteren Erfah­rungen mit den sadis­tischen Frauen.

Die Autorin betont die Fiktionalität ihrer Erzählung. Fakten und Figuren der Realität, an die sie angelehnt ist, »lösen sich von der Wirk­lich­keit«, denn ihre »Absicht ist eine literari­sche, keine doku­menta­rische«. Es geht ihr um die Dar­stel­lung dessen, was wir Mittel­euro­päer uns kaum vor­stellen können: wie das Leben in einer Gesell­schaft von­statten gehen kann, in der jegliche Ordnung aufge­hoben scheint, Gesetze ihre Gültig­keit und die Menschen jeden Halt und jede Orien­tierung verloren haben. Die Vielfalt der Nöte des Alltags ist unüber­schau­bar: Hunger, Armut, Schwarz­markt, Strom­aus­fälle, Gewalt, Angst, Krimi­nalität, Terror, Hyper­infla­tion bis zur völligen Ent­wertung des Geldes (»eine Serviette war wert­voller als einer der Hunderter, die auf dem Gehweg wie ein Menetekel brannten«). Wo jeder jeden fürchten muss, ist sich jeder selbst der Nächste, schnüf­felt mit »Ratten­äug­lein […], ob der Nachbar etwas hatte, was knapp gewor­den war«, und so »redu­zierte sich […] das Leben: auf die Jagd gehen und lebendig zurück­kehren«. Derlei schmerz­volle Erleb­nisse und ihre verhee­renden Auswir­kungen auf das Seelen­leben der Protago­nistin und ihrer Mitbürger schildert Karina Sainz Borgo mit einer Mischung aus drasti­schem Realis­mus und bisweilen poetisch anmu­tender Bild­lich­keit, die unter die Haut geht.

Wie kann man in solch einem desaströsen, zerrissenen, dahin­darben­den Land ohne Ordnung und Perspek­tive (über-) leben? Was Karina Sainz Borgo in ihrem hochge­lobten, sprach­lich außer­gewöhn­lichen und in mehr als zwanzig Sprachen über­setzten Roman ausmalt, lässt keiner­lei Hoffnung erkennen. Das Bild bestimmen verrohte, empathie­lose Menschen, vorder­gründige Gewalt­szenen, erbärm­liche Lebens­bedin­gungen, hohle Fassaden im »Reser­vat einer kosmeti­schen Republik«. In der »zusammen­gewürfel­ten Gesell­schaft, in der alle ihre Zambos und Schwarzen im Blut hatten«, scheinen alle Werte und jeder Zusam­men­halt über die Grenze der Kern­familie hinaus aufgelöst.

Auch die Ich-Erzählerin ist keine Heldin. Auch sie ver­schanzt sich gegen das feind­liche Draußen, schämt sich ihrer feigen Verwei­gerung, eine Petition zur Freilas­sung der Demons­tranten zu unter­schreiben, schweigt lieber, als den Tod zu riskieren. Allein und mutlos zieht sie sich in die innere Emigra­tion zurück. Durch einen makabren Glücks­fall, den sie kühn beim Schopfe packt, gelingt es Adelaida, sich auf gewagte Weise aus dem Lande zu befreien. Sie nimmt die Identität einer verstor­benen Nachbarin an, einer gebür­tigen Spanierin (darauf verweist der Original­titel »La hija de la española« « Karina Sainz Borgo: »La hija de la española« bei Amazon ), und riskiert mit deren Pass die Flucht. Dem Grauen der Hölle entkommen zu sein löst kein trium­phales Hoch­gefühl aus, sondern Verzweif­lung: »An dem Tag wurde ich von mir selbst ent­bunden. Mit zu­sammen­gepress­ten Zähnen brachte ich mich zur Welt, ohne Blick zurück.«


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