Das Holländerhaus
von Ann Patchett
Die Geschichte einer pompösen Villa und der Familien, die ihr Glück darin nicht finden.
Glück und Glas
Da die Familie VanHoebeek ursprünglich aus Holland stammt, nannte man ihre Residenz im ländlichen Elkins Park (bei Philadelphia) naheliegenderweise »das Holländerhaus«. Im Ersten Weltkrieg und danach hatte Mr VanHoebeek mit dem Großhandel von Zigaretten »ein glänzendes Geschäft« gemacht und konnte es sich leisten, für seine Familie eine repräsentable Prunkvilla in Auftrag zu geben. Als sie 1922 fertiggestellt war, staunten die Leute sprachlos, nicht nur angesichts der beeindruckenden Dimensionen, sondern auch der ungewöhnlichen Stilelemente, die an niederländische Herrenhäuser erinnern. Die gläserne Eingangstür und die Fenster daneben gestatten freien Durchblick ins Hausinnere und weiter geradewegs in den Garten dahinter. Die Delfter Kacheln an den offenen Kaminen sind die deutlichsten Reminiszenzen an die europäischen Wurzeln.
Nur »sieben gute Jahre« sind den VanHoebeeks in diesem dreistöckigen »Wunderwerk« der Architektur vergönnt, bis die Geschichte auch sie einholt. Unaufhaltsam ist der schleichende Niedergang. Um Schulden zu tilgen, verkaufen sie Parzelle um Parzelle des gigantischen Grundstücks. Die Great Depression überstehen sie mit Mühe, doch dann schlägt der Tod zu: Die Söhne fallen im Krieg, der Vater erliegt einer Lungenentzündung, die Mutter stirbt als Letzte. »Staub zu Staub.«
1946 erwirbt der Immobilienkaufmann Cyril Conroy das aparte »Holländerhaus«, um seiner Familie ein ganz besonderes Zuhause zu bieten. Doch Ehefrau Elna fühlt sich in dem übergroßen Anwesen mit dem kompletten Originalinventar von Anfang an erdrückt und am falschen Platz. Gleich in der Eingangshalle blicken lebensgroße Einzelporträts der VanHoebeeks in Öl, schwarz gekleidet und bedrohlich aufrecht, von der Wand über dem Kamin herab und verfolgen jedes eintretende Lebewesen mit strengen Augen. Dreimal flieht Elna aus diesem Haus, bis sie sich schließlich endgültig absetzt und ihre beiden Kinder Maeve und Danny bei den Dienstboten zurücklässt.
Ist es Liebe, oder suchte Cyril Conroy eine gute Ersatzmutter für seine Kinder? Jedenfalls heiratet er alsbald eine Frau namens Andrea Smith, die zwei eigene, noch jüngere Kinder mitbringt. Schon gleich nach ihrem Einzug und erst recht nach der Hochzeit übernimmt sie das Regiment. Die Angestellten, die Elna wie eine »Heilige« in Ehren halten, drangsaliert sie, Maeve muss ihr Zimmer für eine der Stiefschwestern räumen, und Danny wird in ein Internat abgeschoben. Als Cyril mit 53 Jahren an einem Herzinfarkt verstirbt, gibt es für Andrea kein Halten mehr, zumal er ihr sein komplettes Vermögen vermacht hat. Jetzt entlässt sie das Personal und verweist ihre Stiefkinder für immer des Hauses. Nur dank eines Fonds, den Cyril zugunsten aller Conroy-Kinder aufgelegt hatte, kann Danny studieren und Maeve eine kaufmännische Ausbildung absolvieren.
Jahrzehnte später treffen sich die beiden Geschwister regelmäßig, fahren gemeinsam zum »Holländerhaus«, parken in gutem Beobachtungsabstand, stecken sich ihre Zigaretten an, und Maeve hat unendlich viel zu erzählen. So bewegen wir uns, von der Autorin geschickt inszeniert, auf zeitlich getrennten Bahnen, die sich jedoch immer wieder sanft berühren und ineinander übergehen: die Phasen der Geschichte des Hauses, die Schicksale der Personen, schließlich das Geschehen an dem ungewöhnlichen Erzählort des geparkten Autos.
All dies vermittelt Ann Patchett durch die Erzählstimme von Danny, inzwischen 60, verheiratet und in New York lebend. Als Teenager im Internat interessierten ihn die innerfamiliären Vorgänge und das Verhalten der bösen Stiefmutter kaum, jedoch sorgte er sich ernsthaft um die Gesundheit seiner Schwester, die nach dem abschiedslosen Verschwinden der Mutter schweren Schaden genommen hatte. Bis in die Gegenwart bricht Maeve in Stresssituationen unterzuckert zusammen. Teilweise ist Danny, der Ich-Erzähler, für uns Sprachrohr seiner Schwester mit ihrer tief verletzten Seele. Als sieben Jahre Ältere hat sie die Entwicklung der Eltern aus ärmlichen Anfängen in Brooklyn über den finanziellen Boom bis zum Umzug in das »gottverfluchte Haus« miterlebt und trägt den Hass gegen die fremde Zerstörerin tief im Herzen.
Danny selbst ist abgeklärter. Längst würde er die Vergangenheit ruhen lassen. Ihn treibt einzig die Frage um, warum seine Mutter (an die er keine Erinnerung hat) ihre beiden Kinder im Stich gelassen hat. Aber er weiß, dass Menschen dazu neigen, »die Vergangenheit mit der Gegenwart zu überlagern. Wir betrachten sie durch die Linse unseres heutigen Wissens, sodass wir nicht die Menschen sehen, die wir damals waren, sondern die wir inzwischen sind, und das bringt eine radikale Veränderung der Vergangenheit mit sich«.
Ann Patchetts »The Dutch House« , für den Pulitzer-Preis 2020 nominiert und von Ulrike Thiesmeyer ins Deutsche übersetzt, ist im weiteren Sinne ein Gesellschaftsroman über das Amerika der Fünfziger- bis Siebzigerjahre. In epischer, manchmal auch langatmiger Breite erzählt er von Familien, die an ihrem übergroßen und übermächtigen Besitz innerlich zerbrechen. Ab und zu blitzen Ironie und soziopolitische Spitzen auf (»Bücher über Emanzipation standen damals [1969] bei Frauen hoch im Kurs, mit der praktischen Umsetzung aber haperte es bei den meisten noch«). Doch der Grundton ist ein mild-versöhnlicher.
Denn obwohl die innig verbundenen Geschwister hauptsächlich mit den Wunden der kaum verarbeiteten Vergangenheit beschäftigt sind und Maeve unvermindert ihren Hass auf die Usurpatorinnen Andrea und ihre Töchter nährt, bleiben neben einem Finale später Rache, wie man es aus guten Gründen erwarten darf, noch andere Varianten offen. Empathie, Vergebung und Versöhnung sind menschliche Optionen, die man sich nicht nur in der Literatur, sondern auch im Leben wünscht.