Rezension zu »Das Holländerhaus« von Ann Patchett

Das Holländerhaus

von


Die Geschichte einer pompösen Villa und der Familien, die ihr Glück darin nicht finden.
Familienroman · Berlin Verlag · · 400 S. · ISBN 9783827014177
Sprache: de · Herkunft: us

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Glück und Glas

Rezension vom 15.11.2020 · 9 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Da die Familie VanHoebeek ursprünglich aus Holland stammt, nannte man ihre Residenz im länd­lichen Elkins Park (bei Phila­delphia) nahe­liegender­weise »das Hollän­derhaus«. Im Ersten Weltkrieg und danach hatte Mr Van­Hoebeek mit dem Groß­handel von Ziga­retten »ein glän­zendes Geschäft« gemacht und konnte es sich leisten, für seine Familie eine reprä­sentable Prunk­villa in Auftrag zu geben. Als sie 1922 fertig­gestellt war, staunten die Leute sprachlos, nicht nur ange­sichts der beein­drucken­den Dimen­sionen, sondern auch der ungewöhn­lichen Stilele­mente, die an nieder­ländische Herren­häuser erinnern. Die gläserne Eingangs­tür und die Fenster daneben gestatten freien Durch­blick ins Haus­innere und weiter gerade­wegs in den Garten dahinter. Die Delfter Kacheln an den offenen Kaminen sind die deut­lichsten Reminis­zenzen an die europä­ischen Wurzeln.

Nur »sieben gute Jahre« sind den Van­Hoebeeks in diesem drei­stöckigen »Wunder­werk« der Archi­tektur vergönnt, bis die Geschichte auch sie einholt. Unauf­haltsam ist der schlei­chende Nieder­gang. Um Schulden zu tilgen, verkaufen sie Parzelle um Parzelle des giganti­schen Grund­stücks. Die Great Depression über­stehen sie mit Mühe, doch dann schlägt der Tod zu: Die Söhne fallen im Krieg, der Vater erliegt einer Lungen­entzün­dung, die Mutter stirbt als Letzte. »Staub zu Staub.«

1946 erwirbt der Immobilienkaufmann Cyril Conroy das aparte »Holländer­haus«, um seiner Familie ein ganz beson­deres Zuhause zu bieten. Doch Ehefrau Elna fühlt sich in dem über­großen Anwesen mit dem kom­pletten Original­inventar von Anfang an erdrückt und am falschen Platz. Gleich in der Eingangs­halle blicken lebens­große Einzel­porträts der Van­Hoebeeks in Öl, schwarz gekleidet und bedroh­lich aufrecht, von der Wand über dem Kamin herab und verfolgen jedes eintre­tende Lebewesen mit strengen Augen. Dreimal flieht Elna aus diesem Haus, bis sie sich schließ­lich endgültig absetzt und ihre beiden Kinder Maeve und Danny bei den Dienst­boten zurück­lässt.

Ist es Liebe, oder suchte Cyril Conroy eine gute Ersatz­mutter für seine Kinder? Jeden­falls heiratet er alsbald eine Frau namens Andrea Smith, die zwei eigene, noch jüngere Kinder mitbringt. Schon gleich nach ihrem Einzug und erst recht nach der Hochzeit übernimmt sie das Regiment. Die Ange­stellten, die Elna wie eine »Heilige« in Ehren halten, drang­saliert sie, Maeve muss ihr Zimmer für eine der Stief­schwes­tern räumen, und Danny wird in ein Internat abge­schoben. Als Cyril mit 53 Jahren an einem Herz­infarkt verstirbt, gibt es für Andrea kein Halten mehr, zumal er ihr sein kom­plettes Vermögen vermacht hat. Jetzt entlässt sie das Personal und verweist ihre Stief­kinder für immer des Hauses. Nur dank eines Fonds, den Cyril zugunsten aller Conroy-Kinder aufgelegt hatte, kann Danny studieren und Maeve eine kaufmän­nische Ausbil­dung absol­vieren.

Jahrzehnte später treffen sich die beiden Geschwister regel­mäßig, fahren gemeinsam zum »Holländer­haus«, parken in gutem Beobach­tungsab­stand, stecken sich ihre Ziga­retten an, und Maeve hat unendlich viel zu erzählen. So bewegen wir uns, von der Autorin geschickt insze­niert, auf zeitlich getrenn­ten Bahnen, die sich jedoch immer wieder sanft berühren und inein­ander übergehen: die Phasen der Geschichte des Hauses, die Schick­sale der Personen, schließ­lich das Geschehen an dem unge­wöhn­lichen Erzählort des geparkten Autos.

All dies vermittelt Ann Patchett durch die Erzähl­stimme von Danny, inzwi­schen 60, verhei­ratet und in New York lebend. Als Teenager im Internat interes­sierten ihn die inner­familiären Vorgänge und das Verhalten der bösen Stief­mutter kaum, jedoch sorgte er sich ernsthaft um die Gesund­heit seiner Schwester, die nach dem abschieds­losen Ver­schwinden der Mutter schweren Schaden genommen hatte. Bis in die Gegenwart bricht Maeve in Stress­situa­tionen unter­zuckert zusammen. Teilweise ist Danny, der Ich-Erzähler, für uns Sprach­rohr seiner Schwester mit ihrer tief verletz­ten Seele. Als sieben Jahre Ältere hat sie die Entwick­lung der Eltern aus ärmlichen Anfängen in Brooklyn über den finan­ziellen Boom bis zum Umzug in das »gottver­fluchte Haus« miterlebt und trägt den Hass gegen die fremde Zerstö­rerin tief im Herzen.

Danny selbst ist abgeklärter. Längst würde er die Vergan­genheit ruhen lassen. Ihn treibt einzig die Frage um, warum seine Mutter (an die er keine Erinne­rung hat) ihre beiden Kinder im Stich gelassen hat. Aber er weiß, dass Menschen dazu neigen, »die Vergan­genheit mit der Gegenwart zu über­lagern. Wir betrach­ten sie durch die Linse unseres heutigen Wissens, sodass wir nicht die Menschen sehen, die wir damals waren, sondern die wir inzwi­schen sind, und das bringt eine radikale Verän­derung der Vergan­genheit mit sich«.

Ann Patchetts »The Dutch House« Ann Patchett: »The Dutch House« bei Amazon , für den Pulitzer-Preis 2020 nominiert und von Ulrike Thies­meyer ins Deutsche übersetzt, ist im weiteren Sinne ein Gesell­schafts­roman über das Amerika der Fünfziger- bis Siebzi­gerjahre. In epischer, manchmal auch lang­atmiger Breite erzählt er von Familien, die an ihrem über­großen und über­mächti­gen Besitz innerlich zer­brechen. Ab und zu blitzen Ironie und sozio­politi­sche Spitzen auf (»Bücher über Emanzi­pation standen damals [1969] bei Frauen hoch im Kurs, mit der prakti­schen Umset­zung aber haperte es bei den meisten noch«). Doch der Grundton ist ein mild-versöhn­licher.

Denn obwohl die innig verbun­denen Geschwister haupt­sächlich mit den Wunden der kaum verarbei­teten Vergan­genheit beschäf­tigt sind und Maeve unver­mindert ihren Hass auf die Usurpa­torinnen Andrea und ihre Töchter nährt, bleiben neben einem Finale später Rache, wie man es aus guten Gründen erwarten darf, noch andere Varianten offen. Empathie, Vergebung und Versöh­nung sind mensch­liche Optionen, die man sich nicht nur in der Literatur, sondern auch im Leben wünscht.


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