Rezension zu »La vera storia di Martia Basile« von Maurizio Ponticello

La vera storia di Martia Basile

von


Neapel im frühen 17. Jahrhundert: Martia Basile wird mit zwölf Jahren an einen sehr viel älteren Geschäftsfreund ihres Vaters verheiratet. Wenige Jahre später tötet sie ihn. Sie ist erst zwanzig, als sie wegen dieses Mordes hingerichtet wird. Aber die Legenden um sie leben weiter.
Historischer Roman · Mondadori · · 336 S. · ISBN 9788804722250
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Neapel und Golf

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Um das Leben betrogen

Rezension vom 19.11.2020 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Nur in ein paar Gedichtzeilen aus dem frühen siebzehnten Jahrhundert ist uns das traurige Ende der Gatten­mörderin über­liefert, die 1603 in Neapel geköpft wurde. Der Autor des Gedichts, eine Art fahrender Sänger namens Giovanni della Carretòla, trug seine Werke in der seit Boccaccio populären Stanzen­form wohl auf Märkten und Feiern vor und war recht erfolg­reich, zumal seine Gedichte auch gedruckt ver­breitet wurden. So bewegte das Schicksal der mit nur zwanzig Jahren hin­gerich­teten bild­hübschen Frau noch ein Jahr­hundert lang die Gemüter, ehe es – wie Giovannis Gedichte – in Vergessen­heit geriet.

Auf Basis der spärlichen Vorlage zauberte jetzt der Schrift­steller und Jour­nalist Maurizio Ponti­cello einen wunderbar unter­halt­samen, farben­frohen, abwechs­lungs- und detail­reichen Schmöker. Wie bedacht er mit seinen Quellen umgeht, erläutert er im Nachwort: Das ohnehin dürftig belegte Gesamt­bild der Frau ist nach seiner Auffas­sung von den morali­schen und religi­ösen Wert­maß­stäben ihrer Zeit verzerrt. Im Gegensatz zur nach­haltigen posthumen Bewun­derung ihrer Persön­lichkeit im Volk wird sie nämlich in den offizi­ellen kirch­lichen und staat­lichen Doku­menten als haltlose Sünderin verteu­felt. In seiner Version vom »wahren Leben der Martia Basile« bemüht sich Ponti­cello nun, ein »realis­tisches« Bild der histo­rischen Figur freizu­legen, indem er es von den üblen Nachreden und Verleum­dungen, die ihr im Prozess vor der spani­schen Inquisi­tion ange­lastet wurden, zu befreien versucht. So hat man der schönen jungen Mörderin ihres Eheherrn selbst­verständ­lich auch Prosti­tution, Hexerei und Verbin­dungen mit dem Satan nach­gesagt.

Dessen ungeachtet bleiben die überlieferten Fakten spärlich, und um aus dem dürren Plot, der auf unsere Zeit kam, einen Drei­hundert-Seiten-Roman zu erschaf­fen, bedurfte es einer blühenden Kreati­vität. Der Autor gibt seiner Fiktion indes ein umso solideres, überaus reiches histori­sches Kolorit auf der Basis sorgfäl­tiger Recher­chen mit. Vor unserem Auge erweckt er neapoli­tanische Stadt­viertel und ganze Land­striche der Umgebung, Straßen­szenen, Prozes­sionen, Spelunken, Märkte, Fest­gelage, Kirchen, Volks­bräuche aller Art, Rituale des Aber­glaubens, Adlige in edelsten Gewändern und Bettler in elenden Lumpen zu anschau­lichem Leben. Wir reisen in Kutschen über holprige Wege, schlagen uns auf der Flucht durch unbe­rührte Wildnis, werden in die Geheim­nisse von Kräutern, des Korn- und Brot­handels, des Finanz­wesens, der Diplo­matie, der Politik und der Theo­logie einge­weiht, ziehen in fins­terste Kerker und prächtige Paläste ein, und wie nebenbei durch­leben wir hautnah eine der tris­testen Phasen in vielen Jahr­hunderten der Fremd­herr­schaft in Süd­italien. Das König­reich Neapel, seit 1501 eine Provinz des spanisch-habsbur­gischen Welt­reichs, wurde von spani­schen Vize­königen mit strenger Hand regiert. Deren bedeu­tendster, Pedro Álvarez de Toledo, legte in der rasant wach­senden Haupt­stadt zwar neue Stadt­viertel an (Via Toledo und die Quartieri Spagnoli), schlug jedoch auch alle rebelli­schen Bestre­bungen nieder und führte die Spanische Inqui­sition ein. Seine Nach­folger, reiche Adels­familien, der Klerus und katho­lische Orden errich­teten statt­liche Gebäude, Kirchen und Klöster, doch das einfache Volk wurde rück­sichts­los ausge­beutet und unter­drückt.

Der Einzelne war also nicht nur den Launen der Natur ausge­liefert, sondern auch der Willkür der welt­lichen und geist­lichen Obrig­keiten. Solange er deren Miss­fallen nicht erregte und sich einiger­maßen konform verhielt, blieben ihm jedoch, so scheint es in Ponti­cellos glaub­würdigen Schilde­rungen, erstaun­liche Freiräume, um das Leben zu genießen und nach eigenen Vorstel­lungen zu gestalten.

In diesen Umständen bewegt sich don Domizio (»Muzio«) Guarnieri wie ein Fisch im Wasser. Der fünfzig­jährige Witwer mischt überall mit, wo es etwas zu holen gibt, handelt mit allem Möglichen, besitzt Lände­reien bis hinüber nach Apulien, prasst und hurt und pflegt gute Bezie­hungen zu den Spaniern. Im Übrigen macht er aus seinem Herzen keine Mörder­grube. Im Umgang mit seinen Mitmen­schen schert er sich nicht darum, sein rohes, rück­sichts­los egoisti­sches Wesen zu verbergen. Ein Minimum an Diplo­matie und Schau­spielerei genügt ihm schon, um alles zu bekommen, was er will. Dazu gehört auch Martia, das zwölf­jährige Töch­terchen seines Geschäfts­partners Belisario Basile. Der, »un uomo concreto, di origini e mentalità contadine«, steckt gerade in wirtschaft­lichen Nöten, so dass ihm das teure Kind zur Last wird. Eine Ursuli­nerin hat dem Mädchen eine Grund­ausstat­tung an Bildung vermit­telt, er lässt noch eine kleine Aussteuer springen, aber dann sollen sich die Investi­tionen endlich amorti­sieren.

Die Ehe mit dem widerlichen Grobian ist für das Kind von Anfang an ein Albtraum, doch bleibt ihr nichts als sich zu fügen. Frieden findet sie nur, wenn er auf Geschäfts­reisen ist, und sie fasst Vertrauen zu einigen jungen Frauen ihrer Umgebung. Trotz aller Widrig­keiten lässt sie sich nicht unter­kriegen. Sie ent­wickelt im Gegenteil einen starken Charakter, handelt klug, besonnen und mutig – was sie nicht vor Situa­tionen und Entschei­dungen bewahrt, die ihr gewalt­sames Ende herbei­führen werden. Die Ge­schichte ist tragisch, weil Martia Basile um ihr Leben betrogen wird: Erst nach Jahren der Ehe und des brutalen Miss­brauchs wird sie erfahren, was Liebe über­haupt ist, und wenn sie sich endlich ihre Freiheit ver­schafft hat, muss sie mit ihrem Leben dafür bezahlen.

So nimmt eine abenteuerliche Handlung ihren Lauf, die reich ist an Spannung, über­raschenden Wendungen und extremen Situa­tionen. Es geht um Liebe und Hass, um Ver­brechen und Rache, um Vertrauen und Betrug, um Gefangen­schaft und Flucht. Der Plot umfasst lediglich ein paar Jahre, aber die Handlung ist tief und breit in ihre Zeitge­schichte einge­bettet. Clever hat der fantasie­begabte Autor seine Haupt­quelle, den Enter­tainer Giovanni della Carretòla (dessen Name übrigens darauf schließen lässt, dass er im Rollstuhl unterwegs war), und histo­rische oder erfundene Figuren in wichtigen militä­rischen und politi­schen Posi­tionen einge­bunden, so dass wir auf der Spur der Protago­nistin auch den allge­meinen geschicht­lichen Über­blick behalten. Eine Vielzahl von Personen aus allen Schichten, die meisten zumindest mit einem Namen einge­führt, schaffen eine breite Atmos­phäre der sozialen, kultu­rellen und regio­nalen Gegeben­heiten.

Für Fans historischer Romane ist dieses Buch eine un­einge­schränkte Empfeh­lung wert, und ich wünsche ihm eine facetten­reiche Über­setzung ins Deutsche. Wer sich auf den Original­text freut, muss aller­dings sattel­fest sein. Maurizio Ponti­cello spielt einen unglaub­lich breiten und differen­zierten Wort­schatz aus, überdies lassen seine Spanier reichlich Phrasen ihrer Mutter­sprache ein­fließen, wie auch die Einheimi­schen bisweilen ihren Dialekt sprechen (der immer­hin so geglättet ist, dass der normale Italiener versteht, was gemeint ist). Der Ehrgeiz, jede unge­wöhnliche Vokabel nachzu­schlagen, wird das Lesen zur Last machen; mehr Freude hat man mit Mut zur Lücke. Konkret: Man muss ja nicht jedes Pflänz­chen kennen, um zu erfassen, wie aufwändig hier Brand­wunden behandelt werden (»Ogni tre ore, l’anziana donna rimuo­veva il cata­plasma, lavava la parte soffe­rente con olio di iperico e la copriva con un impiastro di erbe fresche di acanto pestate nel mortaio insieme ad altri intrugli tra cui semi tritati di fieno greco.«). Ansonsten wickelt der aukto­riale Erzähler die Handlung streng chrono­logisch und eng entlang der Perspek­tive der Protago­nistin ab. Letzteres führt bisweilen an den Rand des Kitsches sowie zu unnötig explizit ausge­breiteten Sexszenen. Litera­rische Höhen­flüge unter­nimmt er nicht, erlaubt sich aber gelegent­lich poetische Zucker­stückchen (»Nel silenzio della notte lo scalpitio degli zoccoli echeggiò come i tuoni di una tor­menta ma nessuno se ne avvide: incon­sapevole dell’efferato delitto appena consu­mato, la città conti­nuava a sognare giorni migliori.«).

So erfüllt das Buch sehr schön den Zweck, den sein Autor sich vorge­nommen hat: »tras­mettere al lettore … la perso­nalità indomita della giovane Martia la quale emerge man mano che gli eventi s’intrecciano: una bambina dall’infanzia violata, poi un’adole­scente che matura nel corpo e nello spirito e, infine, una giovane donna, fiera e di una bellezza leggen­daria, pronta a tutto pur di non lasciare la propria testa alla lama del boia. Martia, in un certo senso, aggrap­pandosi fino all’ultimo alla vita, ha vinto la propria scommessa: lei, per noi, ha ripreso a vivere, e mai morirà.«


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