Der Sinn der Schmerzen
Nach dem Tod seiner krebskranken Frau Hanna findet der Psychotherapeut Drik de Jong (50) nur schwer in sein normales Alltagsleben zurück. Im Sprechzimmer in seinem Wohnhaus ist er von Erinnerungen umgeben und kann ihnen kaum entfliehen. Seine jüngere Schwester Suzan (46) scheint dagegen recht routiniert und ohne seelische Blessuren ihre Arbeit als Anästhesistin wieder aufgenommen zu haben. Als ihre Schwägerin erkrankte, hatte sie sich beurlauben lassen, um die Pflege zu übernehmen und Hannas Schmerzen in der letzten Lebensphase zu betäuben.
Die viel beachtete und gelesene niederländische Autorin Anna Enquist entwickelt in ihrem Roman »De verdovers« (den Hanni Ehlers übersetzt hat) eine ungewöhnliche, tragische Familiengeschichte, in der die Auseinandersetzung um das Verständnis von Schmerzen und deren angemessene Behandlung die zentrale theoretische Problematik darstellt.
Anna Enquist studierte in Leiden klinische Psychologie. Für diesen Roman sammelte sie Erfahrungen in der Chirurgie der Universität Amsterdam und konzentrierte sich insbesondere auf die Funktion der Anästhesie. Das Bestreben der Ärzte dieses Fachgebietes zielt darauf, dem Patienten jegliches Gefühl für Schmerz zu nehmen, so dass er »überhaupt nichts von den Schmerzen weiß, die ihm während einer Operation zugefügt werden«.
Demgegenüber muss der Psychotherapeut – nach Enquists Verständnis – seinem Patienten inneren Schmerz bewusst und spürbar werden lassen, um ihn heilen zu können. »Wenn das Gefühl wirklich erlebt werden darf, kommt es zur Ruhe, und die Symptome verschwinden.«
Den Konflikt zwischen diesen diametral entgegengesetzten Positionen tragen in Enquists Roman die Protagonisten aus.
Drik de Jongs neuer Patient ist der junge Mediziner Allard Schuurman. Im Rahmen seiner Fortbildung zun Facharzt Psychiatrie muss er eine »Lehrtherapie« durchlaufen. Gleichzeitig hält er eine Assistentenstelle, wo er praktische klinische Erfahrungen sammelt.
Schon die erste Begegnung verläuft »eigenartig«, und de Jong spürt, dass er mit Allard nicht leicht zurecht kommen wird. Freilich fühlt sich auch Drik in seiner eigenen momentanen Befindlichkeit »inkompetent, konfus«. Die folgenden wöchentlichen Sitzungen verbessern das gegenseitige Verständnis nicht. Drik bemerkt bei dem jungen Mann, der ohne Vater aufwuchs, ein mit Angst verbundenes Verlustgefühl. Sucht er in Drik nach einer Ersatzperson? Indem Drik seinen Therapieprinzipien gemäß den Patienten mit Fragen zum Kern der Angstthematik leitet und ihm unterstellt, dass er »konkrete Hilfe benötigt«, stößt er auf heftige Gegenwehr. Allard fühlt sich nicht nur nicht verstanden, sondern er durchschaut auch Driks Unsicherheit.
Als Drik schon mit dem Gedanken spielt, seinen Patienten an einen Kollegen weiterzureichen, verändert sich die Situation. Allard wird auf der Station für psychisch Kranke Zeuge furchtbarer Behandlungsmethoden: »Misshandlung«, »hilflosen Menschen ... aggressiv zu Leibe rücken«, »der Psychiater ... ist der Henker« – so will Allard nicht werden. Er überdenkt seine Berufswahl, will zur Anästhesiologie wechseln.
Sein Psychiater Drik interpretiert diese Wandlung als »krankhafte Angst vor Gewalt«, als Ausweichen vor unumgänglichem, therapeutisch hilfreichem Schmerz. Allards »Lobeshymnen« auf die Anästhesiologie verärgern ihn. Diese Art von »Idealisierung« sei reine »Aggressionsabwehr«.
In seinem neuen Betätigungsfeld absolviert Allard ein Praktikum bei einer Ärztin, die ihn begeistert: Sie ist kompetent, aufopferungsvoll, nimmt ihren Patienten Ängste und schenkt ihnen Ruhe. Wiewohl verheiratet, Mutter einer erwachsenen Tochter und eine Generation älter als Allard, lässt sich diese Frau auf ein Liebesabenteuer mit ihrem Praktikanten ein.
Der berichtet Drik von all dem – ohne zu ahnen, dass sein Therapeut der Bruder seiner Geliebten (Suzan) ist. Drik erkennt zwar das zerstörerische Potenzial dieser Affäre, zieht es aber vor, nicht aktiv zu werden; die ärztliche Schweigepflicht liefert ihm einen beruhigenden Schutzschild. Leider wird er dabei jedoch seiner Verantwortung nicht gerecht, und eine Katastrophe bahnt sich an, als sich herausstellt, dass Allard obendrein in einer dauerhaften Beziehung lebt – mit Roos, Suzans Tochter. Drik hätte die Tragödie, die nun ihren Lauf nimmt, verhindern können.
Neben dem Familiendrama nimmt der aufregende Klinik-Alltag viele Seiten dieses Romans ein. Hautnah erleben wir die Arbeit des Chirurgenteams bei diversen Operationen mit, dazu Fortbildungen, Trainingsprogramme, Simulationsübungen und Maßnahmen zur Arbeitsplatzverbesserung wie »speed dating«, eine Initiative zur Intensivierung des kollegialen Binnenverhältnisses. In diesem Team ist Suzan verantwortlich für den schmerzfreien Schnitt in den menschlichen Körper, und da agiert sie rational, strukturiert und effizient.
Ihr privates Leben ist dagegen alles andere als schmerzfrei. Sie ist seelisch stärker geschädigt, als sie es sich eingesteht. Sie wuchs ohne Mutter auf, musste nun Hannas Tod verwinden, und schon vor langer Zeit verlor sie ihre Tochter Roos, der sie viel zu wenig Zeit und Vertrauen geschenkt hatte. Ihre erfolgreiche und befriedigende Arbeit ist ihr stets auch ein Ort der Flucht vor all ihren Problemen gewesen.
»Langsam wird [der Patient nach einer Operation] aus der Tiefe der Betäubung auftauchen, in eine unbegreifliche, grausame Welt.« Das ist der triste Schlusssatz dieses für alle Beteiligten perspektivlosen Romans. »So weit bringt uns die Liebe zur Betäubung«, geht es Suzan am Ende durch den Kopf, nachdem ihre Affäre nicht nur ihren Liebhaber in den Abgrund gestürzt, sondern auch ihre kleine Familie restlos zerrüttet hat. Drik, der rundum gescheitert ist, erkennt seinen Schuldanteil, kann ihn aber kaum bewältigen. Er verkauft das Haus und zieht aufs Land, um allein zu sein. Dort ertränkt er seinen Schmerz in Alkohol. Immerhin: Indem er sich eingesteht, »Fehler begangen« zu haben, ergreift er einen möglicherweise rettenden Ast, so dass am Ende doch ein wenig Hoffnung durchschimmert.
Anna Enquist hat ihren Roman »Die Betäubung« in die vier Teile Exposition, Durchführung, Reprise und Coda strukturiert, also die klassische Sonatensatzform. (Die Autorin ist auch ausgebildete Konzertpianistin.) Die Charaktere, das Netz ihrer Beziehungen und den Plot hat sie ebenfalls mit architektonischem Konzept und chirurgischer Präzision realisiert. Entstanden ist ein fein austariertes Gefüge von Gegensätzen und Parallelen, Qualitäten und Defekten, Versäumnissen und Initiativen. Leider wirkt das Endprodukt etwas zu poliert, zu künstlich, eben nach einer theoretischen Programmatik konstruiert.
Davon abgesehen sollte man wissen, was einen erwartet, bevor man zu dieser außergewöhnlichen Lektüre greift. Denn nicht jeder möchte bei quälenden Therapiegesprächen zuhören; nicht jeder möchte genau hinschauen, wenn Götter in Grün an ihrem blutigen Arbeitsplatz mit dem Skalpell hantieren. Manche mögen's lieber comfortably numb.