Kommt Zeit, kommt Rat
Vor der Eheschließung schwanger: Davon spricht man in den Fünfziger Jahren nur im Flüsterton. Um der drohenden gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen, heiratet Alison lieber den Kindesvater, auch wenn Liebe oder wenigstens Leidenschaft nur für einen kurzen Moment zwischen ihnen aufgeflammt war. Sie teilen keinerlei Interessen, und ihre Persönlichkeiten stehen diametral zueinander wie konträre Pole, denen jedoch die gegenseitige Anziehungskraft abgeht. Diese Ehe ist eine pragmatische Angelegenheit; die Beteiligten fügen sich dem Lauf der Dinge und vermeiden auf diese Weise Widerstände.
Alison entwickelt sich zum Typ »Erdmutter«, gehüllt in wallende Laura-Ashley-Gewänder, und sie ist eine Gebärmaschine. Auf ihren Erst- und Liebling Paul folgen Gina (die Schwierige), Sandra (die Modische), Roger (der Ambitionierte), Katie (die Unkomplizierte) und Clare (die Bewegliche).
Die reiche Kinderschar ist Alisons Bestimmung und Daseinsberechtigung. Welch größeres Glück könnte man vom Leben erwarten als ein »fröhliches Lachen«? Auf diesem »wunderbaren Fundament« erkennt sie weitere Belege für ihre Gewissheit, dass das Schicksal es gut mit ihr meint: »einen lieben alten Hund ... ofenfeste Keramik von Denby, eine Moulinex, einen Fischkochtopf und einen Satz Sabatier-Messer«. Und natürlich Charles, ihren Mann.
Ein kleines ererbtes Vermögen erlaubt es Charles, kurz nach der Hochzeit ein einziges Mal eine aktive Rolle zu übernehmen: Er erwirbt den viktorianischen Landsitz Allersmead mit großem Garten. Hier steht genügend Spielraum für alle Kinder zur Verfügung, und Charles erhält ein Arbeitszimmer als Refugium; dort »schaltet er auf den Modus ›taub‹« und verschließt sich vor dem häuslichen Chaos. Denn seine Welt sind die Bücher. Als »Universalgelehrter« liest er nicht nur und bildet sich in Geschichte, Philosophie, Soziologie – »ein bisschen von allem« – weiter, sondern publiziert auch selbst und verdient damit ein kleines Zubrot. Treten Schwierigkeiten auf (Paul bringt genug davon: Drogen, Alkohol, Jobwechsel ...), hält sich Charles dezent zurück. Schlimmstenfalls betritt Alison den ihr »fremden Ort« und deutet behutsam an, »wir sollten die Dinge manchmal besprechen, wenn es ein Problem mit den Kindern gibt«. Dann weist Charles sie mit stoischer Ruhe ab: »Ich arbeite ... Diese Dinge regeln sich ganz sicher von selbst.«
Die Dritte im Bunde der Allersmead-Erwachsenen, die in einer abgeschotteten, den Kindern unzugänglichen Gemeinschaft leben, ist Ingrid. Sie kam als Au-pair-Mädchen aus Schweden und blieb dann vierzig Jahre. Doch besondere Gefühle verbinden die Kinder nicht mit ihr. »Sie war einfach da. Gehörte zum Mobiliar.«
Dame Penelope Lively beschreibt in ihrem Roman »Family Album« (Maria Andreas hat ihn übersetzt) den Alltag einer sehr traditionell aufgestellten Großfamilie. Aus schlaglichtartig herausgehobenen Episoden auf wechselnden Zeitebenen fügt sich nach und nach ihre Geschichte zusammen, und aus wechselnden Perspektiven betrachten wir die Figuren, zwischen denen sich Spannungen sanft aufbauen und wieder entladen wie die Gezeiten des Meeres. Livelys Kritik an der antiquierten Rollenverteilung verpackt sie in leiser Ironie und süffisantem Sprachstil. Wenn etwa Schwägerin Corinna, eine kinderlose Dozentin, ihre spitzen Pfeile abschießt, erkennen wir, dass die Autorin zwei konträre Frauenbilder lustvoll gegeneinander ausspielt: Alison »ist völlig abhängig von ihrem Mann, ihre Fähigkeiten und Talente beschränken sich auf das Wechseln von Windeln und das Backen von Geburtstagstorten« – ein der Vergangenheit entwachsenes Auslaufmodell (»Atavismus«). Corinna dagegen verkörpert stolz (und propagiert etwas kaltschnäuzig und überheblich) einen gestärkten Feminismus der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, der intellektuellen und finanziellen Unabhängigkeit. Kinder zu gebären muss dem nicht zwangsläufig im Wege stehen, doch »die Leistung einer Frau wird nicht am Ausstoß ihres Uterus gemessen«.
Wie der trotz seiner versteckten Ironie doch anheimelnde Titel schon suggeriert, ist dieser Roman kein kämpferisches Plädoyer, sondern klassisches britisches understatement. Keine der Episoden ist spektakulär aufregend; man reagiert eher mit einem amüsierten, verständnisvollen »That’s life.« In der Schule tun die Kinder, »als würden sie sich nicht kennen«, im Hause hingegen bilden sie eine eingeschworene Gemeinschaft (»Mafia-Aktivitäten«). Wenn sie unbeobachtet sind, spielen sie ihr »Kellerspiel«. Je nach ihrem Rang in der innerfamiliär ausgefochtenen Hackordnung übernehmen sie Rollen, dürfen Befehle erteilen und eklige Strafmaßnahmen anordnen oder müssen sie ertragen. Jeder kennt solche Rituale, verbotene Spiele und Geheimnisse vor den Erwachsenen, die den Entwicklungsprozess eines Kindes mitprägen.
Eines der Kinder ist ein Kuckucksei und ein »Familiengeheimnis«. Ab der Mitte des Romans ahnen wir, um wen es sich handelt und wie es ins Nest gelangt ist. Wie nicht anders zu erwarten, finden die Erwachsenen eine nonchalante Lösung, die niemandem wehtut, am allerwenigsten dem betreffenden Kind.
Penelope Livelys »Familienalbum« ist gute, entspannende Unterhaltung der feineren Art.