
Tödlicher Countdown
Sergeant Arthur Bowman ist ein knallharter Kämpfer, der vor keinem Abenteuer zurückschreckt. Schon mit sechzehn trat er 1840 in die Dienste der ehrwürdigen British East India Company, der 1600 begründeten »mächtigsten Handelsgesellschaft des Universums« mit Sitz in London. Eine eigene Armee von dreihunderttausend Mann sichert ihre weltweiten Geschäftsaktivitäten mit einem Fünftel der Weltbevölkerung. Bei Einsätzen in Afrika und Asien hat er sich einen verlässlichen Namen gemacht: diszipliniert, tapfer, schonungslos zu sich und anderen, durchsetzungsstark und anpassungsfähig. Deswegen wird er jetzt, mit 28 Jahren, für eine Geheimmission ausgewählt.
Eine Flotte von siebzehn Schiffen segelt kurz vor der Monsunzeit auf dem Irrawaddy, dem riesigen Strom im Königreich Ava (heute Myanmar). In Major Cavendishs Kabine erhält Bowman nähere Instruktionen und weiß gleich, als er auf die ausgebreiteten Karten blickt, dass man ihn auf ein Himmelfahrtskommando schickt. Zehn Männer seiner freien Wahl sollen ihn begleiten. Sein Trupp besteht aus Draufgängern, Verurteilten und Gefangenen, die Diziplinarverfahren oder Todesurteile erwarten und ihr Leben ohnehin schon verspielt haben, und niemand rechnet damit, dass sie und Bowman von dieser heiklen Mission jemals zurückkehren werden.
Ehe die Sondereinheit auf eine kleine Dschunke wechselt, um ihren Auftrag ganz auf sich gestellt weiterzuverfolgen, müssen alle Männer ihre persönliche Habe an Bord zurücklassen, sogar ihre Uniformen gegen Kleidung der Einheimischen tauschen. Das gilt auch für ihren Anführer Bowman. Ihm ist ein Pulverhorn besonders wichtig, das er sich als Belohnung nach dem Sieg über Punjab auf eigene Kosten in Bombay anfertigen ließ. Es ist eine feine Arbeit aus Silber und Perlmutt, im Inneren mit Kautschuk überzogen und daher wasserdicht. Vertrauensvoll bittet er den Kapitän der »Sea Runner«, das gute Stück im Seesack sorgsam für ihn zu verwahren.
Die Mission, das ist auch uns Lesern klar, wird kein Zuckerschlecken. Wie zur Einstimmung müssen Bowman und seine Männer von ihrer zurückgelassenen Dschunke aus tatenlos zusehen, wie die Soldaten der »Sea Runner« die Bucht und ein ganzes Fischerdorf mit seinen sämtlichen Bewohnern mitleidlos abfackeln.
Dann sollen im Navigieren angeblich besonders geschickte Chinesen das kleine Boot über die Mäander des unwegsamen Irrawaddy lenken. Doch schon wenig später steckt es mitten im tiefsten Dschungel fest. Die Wassermassen der einsetzenden Monsunstürme drohen das manövrierunfähige Gefährt zu zerstören, feindlichen Angriffen ist man wehrlos ausgeliefert.
Bowmans schlimmste Befürchtungen nehmen Gestalt an. Der Auftrag, ein Schiff zu kapern, um seine Waffenladung an die Min zu verkaufen, kann sie leicht alle ihr Leben kosten. Angesichts der drohenden äußersten Gefahr statuiert der Kommandeur ein grauenvolles Exempel, um seinen Männern einzuschärfen, wem sie ausschließlich zu folgen haben. Er wolle überleben!
Die entscheidende Schlacht gewinnen, wie befürchtet, die Min durch heftigen Kanonenbeschuss. Bowman verliert einen seiner Männer, alle anderen werden gefangengenommen und in die Tiefen des dunklen, heißen Dschungels verschleppt, wo sie schlimmste Folter erwartet. Nach einem Jahr erreichen Abgesandte der britischen Kompanie in Verhandlungen mit König Mindon Min von Birma ihre Freilassung. Schwer gezeichnet mit tiefen seelischen und äußeren Narben kehren Bowman und seine verbliebenen Männer 1853 nach London zurück.
Sechs Jahre später ist Bowman nur noch ein Schatten seiner selbst, ein dahinvegetierender, geschundener Körper. Ein Job als Schutzmann bei der »Themsebrigade« – eine Art Gnadenbrot für Veteranen, die in den Kolonien gedient hatten – bewahrt ihn davor, betteln zu müssen. Nacht für Nacht suchen ihn Albträume heim. Dann schaut er in die verzweifelten, schmerzverzerrten Gesichter von Männern, denen man die Zähne ausgeschlagen und noch Schlimmeres angetan hatte, die, um überleben zu dürfen, ihre eigenen Kameraden verstümmeln mussten. Klapperdürre Gestalten, wie Vieh in Käfigen gehalten, schreien Tag und Nacht vor Schmerzen. Bowman sucht den Horror in Alkohol und Opium zu ertränken.
Mit dem überdurchschnittlich heißen Sommer 1859 wandelt sich das fernöstlich-exotische Abenteuer aus der Kolonialgeschichte in einen Krimi. In einem Kanal wird eine Leiche gefunden, die eben solche Narben aufweist, wie Bowmans Körper sie trägt. An einer Wand hat der Mörder eine Botschaft hinterlassen: »Überleben«. Der Tatverdacht fällt auf Bowman. Der hatte erst kürzlich Aufsehen erregt, als er einen Vorarbeiter erbarmungslos zusammenschlug und man sein Opfer später mit durchtrennter Kehle und abgeschnittenen Fingern fand ...
Damit holt Bowman seine Vergangenheit ein. Kein Zweifel: Einer der anderen neun Überlebenden muss die blutige Tat begangen haben. Um seine eigene Unschuld zu beweisen, muss er den Täter unter ihnen finden. Seine Odyssee von Kandidat zu Kandidat – entlang einer Blutspur weiterer Ritualmorde – wird ihn und uns wieder in die Ferne führen, diesmal nach Westen.
Antonin Varennes Roman »Trois mille chevaux vapeur« (Anne Spielmann hat ihn aus dem Französischen übersetzt) ist ein echter Schmöker. Die gut 550 Seiten sind zügig gelesen, denn sie sind literarisch leichte Kost, der Sprachstil ist schlicht und faktisch, und auch der Plot ist nicht kompliziert: Wie beim Kinderreim von den »zehn kleinen Negerlein« spürt der vom Schicksal hart herangenommene Protagonist einen nach dem anderen seiner ehemaligen Mitstreiter auf (die genau wie er ihr Leben nicht mehr in den Griff bekommen haben, von Halluzinationen heimgesucht werden, irrsinnig wurden), bis es am Ende heißt: »Da waren's nur noch zwei« ...
Ebenso gut wie die spannende Handlung gefiel mir, wie der Autor den historischen Hintergrund gestaltet. Er belässt es nicht bei oberflächlichen Details zum Alltag in Asien, Großbritannien und später Amerika, sondern lässt die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Zeit erkennen. Den ganzen Roman durchzieht ein kritischer Unterton, der die ungezügelte Ausbeutung von Ländern und Menschen anprangert.
Schließlich ging es zur Hochzeit der Kolonialisierung schon lange nicht mehr bloß um den Ausbau freundlicher Handelsbeziehungen mit fremden Ländern, sondern um eine mit allen Mitteln ausgefochtene Rivalität zwischen den europäischen Großmächten um die Aneignung wertvoller Ressourcen, die Sicherung lukrativer Absatzmärkte und die Vormachtstellung auf den Ozeanen. In diesem größeren Kontext stand die geheime Mission, für die Bowman und seine Leute ihre Seele gaben.
Besonders desillusionierend fällt das Bild aus, das Varenne von Amerika zeichnet. Mitte des 19. Jahrhunderts überschwemmt ein Exodus aus Europa die »Neue Welt«, auf der Flucht vor Armut, Krankheit und Unfreiheit, auf der Suche nach einem Stück fruchtbaren Landes für jedermann, nach dem kalifornischen Gold und den »unbegrenzten Möglichkeiten«. Doch die Verheißungen erfüllen sich selten. Die amerikanische Regierung zieht bereits die Notbremse, um die Zuwanderung zu beschränken. Auch in der neuen Heimat erweisen sich die Lebensbedingungen als harter Überlebenskampf. Kaum in New York von Bord gegangen, gerät Bowman gleich in eine Auseinandersetzung zwischen streikenden Textilarbeiterinnen und Soldaten. Die meisten Menschen, denen er begegnet, während er mit der Postkutsche bis nach Texas reist, haben ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft begraben, denn die Goldminen sind leergeschürft, das beste Land ist längst verkauft.
Welches Ende dieser Roman nimmt und wie auch Bowman selber auf seinen langen Reisen eine innere Wandlung durchläuft, das sei hier nicht verraten. Jedenfalls ist die Geschichte dieses Soldaten, Abenteurers und Westernhelden, der wie ein Pitbull erst zur Ruhe kommen kann, wenn er seinen gnadenlosen Widersacher gefasst hat, eine zwar düstere, aber bestens unterhaltende Lektüre für dunkle Herbst- und Wintertage.