
Es fehlt der Biss
Irgendwas bleibt immer hängen. Zwar hat man dem Inspektor Giuseppe Lojacono nie nachweisen können, dass er wirklich mit der Mafia kollaboriert hat, aber schon die Anschuldigung genügte, um den als unbequem geltenden Polizisten abzuschieben. Damit verlor Lojacono alles, was ihm lieb gewesen war. Er musste seine Position in Agrigent räumen und sogar seine Heimat Sizilien verlassen, um an seinen neuen Arbeitsplatz in Neapel zu ziehen. Sein Familienleben zerbrach. Ehefrau Sonia und die Teenage-Tochter Marinella setzten sich nach Palermo ab.
An seiner ersten neuen Wirkungsstätte, dem Kommissariat San Gaetano mitten in der Stadt, bewies er, dass er seinen guten Spürsinn, seine Intuition und sein logisches Denkvermögen aus Sizilien mitgebracht hatte. Er konnte den Mord an vier Kindern aufklären und einen verzweifelten alten Mann, genannt »das Krokodil«, festnehmen. Seitdem sind Lojaconos Qualitäten anerkannt, aber bei seinen Kollegen hat er sich damit nicht beliebter gemacht.
Dann hat ihn sein Vorgesetzter Di Vicenzo einbestellt, um ihm eine erneute Versetzung nahezulegen. Er soll jetzt ins Kommissariat Pizzofalcone weiterziehen. Das dortige Revier ist nicht sehr groß, aber dicht bevölkert. Es liegt im Spanischen Viertel, den Quartieri Spagnoli östlich des Hafens und reicht hinunter bis zum Castel dell'Ovo am Meer. Hier, am Hügel Pizzofalcone (auch als Monte di Dio bekannt), gründeten die Griechen vor 2.700 Jahren ihre Stadt Parthenope.
Der Polizeipräsident möchte das Kommissariat Pizzofalcone am liebsten auflösen. Es ist zu einer Art Müllhalde für Polizisten heruntergekommen. Vier Kollegen waren dort dumm aufgefallen, weil sie beschlagnahmtes Kokain zum Teil für sich zur Seite geschafft und versilbert hatten. Da sie hinter italienische Gardinen wanderten, mussten ihre Stellen neu besetzt werden. Man füllte die Dienststelle mit lauter »faulen Äpfeln« aus anderen Abteilungen auf und war sicher, dass sie es niemals packen würden, richtig zu arbeiten. Einer ist jähzornig und gewalttätig, ein anderer unfähig, aber aus guter Familie; eine ist psychopathische Waffenfanatikerin, ein anderer überzeugt, dass er einem Serienkiller auf der Spur sei, obgleich niemand seinen Wahn teilt. Hier passt Lojacono, der mutmaßliche mafioso, gut hin, und seine Kurzzeit-Kollegen aus San Gaetano sehen ihn gern ziehen.
Aber »I Bastardi di Pizzofalcone« lassen sich nicht unterkriegen. Ihr Chef, commissario Luigi Palma, 40, ehrgeizig, temperamentvoll und »ständig unter Strom«, leitet seine »verlotterte« Truppe der »Ausgestoßenen« mit klaren Zielen vor Augen: den Mitarbeitern vertrauen und sie motivieren, die Vorgesetzten durch gute Arbeit überzeugen und die Auflösung des Kommissariats verhindern. Gleich in seiner ersten Dienstbesprechung nordet er alle auf gute Zusammenarbeit ein – »wir sollten uns duzen«.
Ehe sie einander näher beschnuppern können, haben sie ihren ersten Fall auf dem Tisch liegen, eine Beziehungstat in besseren Kreisen, die nicht schwer aufzuklären scheint. Die schöne Gattin eines Notars wurde ermordet. Er hat seine Karriere allein ihrem Vermögen und ihren gesellschaftlichen Beziehungen zu verdanken und ist ihrer jetzt offenbar endgültig überdrüssig geworden, nachdem er sich schon seit Jahren mit diversen Damen amüsiert hat. Doch der Verdächtige hat ein sicheres Alibi: Zur Tatzeit weilte der undankbare Leichtfuß mit seiner neuen Flamme in Sorrent.
Palma weist den Fall Lojacono zu und stellt ihm Polizeioberwachtmeister Marco Aragona zur Seite. Der extrovertierte junge Mann braucht sich dank seines familiären Netzes an Beziehungen und Besitztümern nicht sonderlich anzustrengen und widmet sich gern seinem Styling und dem lebensgefährlichen Hang, Neapel als Formel-1-Rennstrecke zu nutzen. Während sie noch im Trüben fischen, ahnt der geschulte Krimileser schon längst, wer der Täter ist. Wo kein Gärtner, ist es immer der ... – mehr darf hier auf keinen Fall angedeutet werden, denn die Spannungsressourcen dieses Kriminalromans sind ohnehin begrenzt.
Maurizio de Giovanni, ein fähiger, origineller und vielseitiger Schriftsteller (1958 in Neapel geboren), übt sich hier in einer Spielart des Noir-Genres, die als Police procedural firmiert. Sie kam in den Vierzigerjahren bei angelsächsischen Kriminalschriftstellern auf und wurde in Romanen, Kino- und Fernsehfilmen weiterentwickelt. An Stelle des gewohnten Ermittler-Helden als einzelne Identifikationsfigur verfolgt man hier die Arbeit eines ganzen Polizistenteams, dessen Mitglieder alle das gleiche Maß an Aufmerksamkeit erhalten. Man beschäftigt sich, wie es ihrem Alltag entspricht, auch nicht nur mit einem Kriminalfall, sondern simultan mit mehreren, die miteinander meist nichts zu tun haben. Für die Struktur des Romans folgt daraus realistischerweise, dass er seinen Höhepunkt nicht wie gewohnt am Ende in der Entlarvung des Täters findet. Oft sind die Schuldigen dem Leser/Zuschauer schon von Anfang an bekannt, und die Fälle werden im Verlauf der Handlung nach und nach gelöst. Viel Raum erhalten prozedurale Details der Arbeit der Polizeibehörden, wie beispielsweise Verhörprotokolle, die Sicherung von Indizien, Berichte der Gerichtsmediziner.
Bei »Die Gauner von Pizzofalcone« hat mich dieses Konzept nicht überzeugt. Die Krimihandlung und die Beziehungsproblemchen der Mannschaft ziehen sich ziemlich lustlos dahin wie die fade künstliche Tomatensoße auf einer Tiefkühlpizza. Die weiteren Fälle, die am Pizzofalcone-Hügel zu klären sind, fügen hier ein Krümelchen Oregano, dort eine Spur Basilikum hinzu, reichen aber nicht aus, um das Ganze noch richtig geschmacksintensiv und knusprig auf den Tisch zu bringen. Da prügelt ein Macho, der schnell die Kontrolle verliert. Dort begibt sich eine jugendliche Schönheit freiwillig in Gefangenschaft, worüber sich ein alter Knabe ebenso freut wie ihre Familie, die mit Geld und Jobs reichlich belohnt wird. Ein Pater schenkt seinen Schäflein durch einen »Akt der Barmherzigkeit« das »Paradies« ... Das sind nette Alltagsfälle, aber sie werden ohne Biss aufbereitet.
Nach »Das Krokodil«, dem gelungenen Erstling der Reihe [› Rezension], war meine Erwartungshaltung hoch, umso tiefer erfolgte der Fall. Aber die Dienststelle Pizzofalcone wird trotzdem vorerst nicht aufgelöst. Vor Ort gibt es schon drei weitere Bände, und wegen ihres Erfolgs soll die Serie sogar zu einer Fernseh-Saga verarbeitet werden. Geben wir Maurizio de Giovanni und seiner Übersetzerin Susanne Van Volxem also noch eine Chance, sobald ihre nächste Arbeit fertig ist. Schließlich hatten die bastardi im Kommissariat auch einen Versuch frei, sich zu bewähren.
[Aktualisierung im Juni 2017:] Die sechs bisher veröffentlichten Bände über Inspektor Giuseppe Lojacono und seine Kolleginnen und Kollegen (alle Übersetzungen von Susanne Van Volxem):
• »Il metodo del coccodrillo« (2012)
– »Das Krokodil« (2014) [› Rezension]
• »I bastardi di Pizzofalcone« (2013)
– »Die Gauner von Pizzofalcone« (2015) [› Rezension]
• »Buio per i bastardi di Pizzofalcone« (2013)
– »Der dunkle Ritter« (2016) [› Rezension]
• »Gelo per i bastardi di Pizzofalcone« (2014)
• »Cuccioli per i bastardi di Pizzofalcone« (2015)
• »Pane per i bastardi di Pizzofalcone« (2016)
• außerdem ein Promotionsband für die Fernsehfilme mit Fotos von den Dreharbeiten, Porträts der Protagonisten usw.: »Vita quotidiana dei Bastardi di Pizzofalcone« (2017)