Rezension zu »Die Frau im gepunkteten Kleid« von Beryl Bainbridge

Die Frau im gepunkteten Kleid

von


Belletristik · DVA · · Gebunden · 240 S. · ISBN 9783421045379
Sprache: de · Herkunft: gb

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Im Blitzlicht der Geschichte

Rezension vom 11.09.2013 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Am Ende des Romans stehen wir mittendrin in der Menge aus Be­wunderern, Journalisten, Männern und Frauen, die sich dicht drängen in diesem Hotelfoyer vor den Flügeltüren des Ballsaals. Um uns herum tost stürmischer Applaus, ohrenbetäubende Pfiffe und immer wieder ein rhythmischer Chor von Stimmen: »Wir wollen Bobby – Wir wollen Bobby …«. Kurz darauf dringen Fetzen einer Rede zu uns her­aus: »… die Gewalt, die Enttäuschung über unsere Gesellschaft … die Spaltung, sei es in Schwarz und Weiß, in Reich und Arm … über den Krieg in Vietnam …« Es sind historische Momente, die wir miterleben.

Es ist der 5. Juni 1968, der Ort ist das Hotel Ambassador in Los Angeles, und der Redner ist »Bobby« Kennedy, jüngerer Bruder des 1963 erschossenen Präsidenten John Fitzgerald Kennedy. Der charisma­tische Senator des Staates New York hat gute Chancen, beim bevorstehenden Parteitag als Kandidat der Democrats für die Präsidentschaftswahlen 1968 nominiert zu werden, zumal er soeben die Vorwahlen in South Dakota und Kalifornien für sich gewinnen konnte. Dafür bedankte er sich in dieser mitternächtlichen Rede. Auf dem eiligen Weg hinaus durch die Küchenräume des Hotels hebt mitten im dichten Gedränge der palästinensische Einwanderer Sirhan Bishara Sirhan seinen Revolver und feuert auf Kennedy, der le­bensbedrohlich verletzt zusammenbricht. Der Attentäter wird an Ort und Stelle überwältigt und festge­nommen; sein Opfer stirbt wenige Stunden später im Krankenhaus.

War der radikalisierte Antizionist der alleinige Mörder, wie es Polizei und Geheimdienste als Fazit ihrer Untersuchungen veröffentlichten? Verschwörungstheorien kamen schon damals auf. Die einen sprachen von einem zweiten Schützen, dessen Existenz offiziell verleugnet worden sei, andere witterten einen Akt des organisierten Verbrechens, und einige Augenzeugen wollen den Ausruf »Wir haben ihn erschossen« vernommen haben, den eine Frau in weiß gepunktetem Kleid getan habe. Freilich wurde diese Frau nie­mals gefunden.

Und genau hier setzt die 1934 in Liverpool geborene, mit zahlreichen Literaturpreisen geehrte britische Autorin Dame Beryl Margaret Bainbridge an: Sie greift die winzige Andeutung auf und spinnt daraus einen Handlungsfaden, der Fiktion und Realität verbindet. Wer ist – laut Bainbridge – die Frau, auf deren Ober­lippe in diesem historischen Augenblick »ein Stern aus Blut, zart wie eine Schneeflocke, schmolz«?

Sie heißt Rose und lebt in Kentish Town im Nordwesten von London, wo sie in einer Zahnarztpraxis arbei­tet. Jetzt hat sie drei Wochen Urlaub und ist dafür in die USA geflogen, um dort nach Jahren endlich den Mann wiederzutreffen, der ihr Leben prägte.

Rose hatte Dr. Wheeler als Jugendliche in einem englischen Küstenort kennengelernt, als ihr Leben durch schwere Krisen in ihrem Elternhaus belastet war und sie eine furchtbare Tat verantworten musste. Der Amerikaner war Augenzeuge, hörte ihr zu, fand die richtigen Worte – sie müsse lernen, zu akzeptieren, dass »der unmittelbare Zweck des Lebens im Leid bestehe« – und deckte ihre Schuld, bis er Großbritan­nien wieder verließ.

Hat sie je gewusst, warum sich Dr. Wheeler in den Kriegsjahren in England aufhielt? Dass er jetzt – im Mai 1968 – einer der Hauptverantwortlichen für Robert Kennedys Wahlkampf ist und mit seinem Tross von Tag zu Tag durch die Staaten reist, scheint sie jedenfalls nicht zu wissen.

Was verspricht sie sich also überhaupt von einem Wiedersehen, das auf derart tönernen Füßen steht? Und wie konnte sie die teure Flugreise bei ihrem kleinen Einkommen bewerkstelligen?

Die Kosten für ihren Hinflug hat Washington Harold übernommen. Der war im Jahr zuvor geschäftlich in London, wo sich die beiden bei Freunden von Rose kennenlernten.

Dass Harold Rose finanziell unterstützt und sie nun in seinem Campingbus am Flughafen abholt, ist kein Akt der Nächstenliebe. Vielmehr ist auch Harold auf der Suche nach Dr. Wheeler, denn mit dem hat er noch eine Rechnung offen: Erst hatte Harolds Ehefrau Dollie ihn wegen Dr. Wheeler verlassen, dann hatte der sie nach kurzer Zeit wieder sitzengelassen, woraufhin Dollie sich das Leben nahm. Offiziell ist sie »im See ertrunken«, denn als Selbstmörderin hätte sie kein ordentliches Begräbnis erhalten. All das erfährt Rose allerdings nicht von Harold, sondern erst sehr viel später von einer Bekannten.

Bald rollen also Harold und die »Wheeler-Frau aus England« zusammen durch das Land, immer dem omi­nösen Dr. Wheeler hinterher; die eine sucht ihren Retter, der andere Rache an einem Satan. Auf Gedeih und Verderb im Campingbus vereint, sind sie ein rundherum ungleiches Gespann und empfinden mehr Ab- als Zuneigung füreinander. Harold, dem Schweiger, gehen Roses ständiges Gerede und ihr Desinteresse an Politik und Land derart auf die Nerven, dass er ihr bisweilen gerne eine knallen würde. Nur die Vorstel­lung, »es mit einer Schwachsinnigen« zu tun zu haben, hält ihn zurück. Sein Verdikt »Wir sind nicht auf derselben Wellenlänge« drückt zu milde aus, was die beiden trennt. Harold verachtet Rose – eine Frau, die kaum Wert auf ihre Hygiene legt, ihre Zähne nicht putzt, sich nicht badet –, muss sie aber doch still ertra­gen.

Die Geschichte dieses ungewöhnlichen Paares ist über die ersten hundert Seiten spannend zu lesen. Wie kommen die zwei miteinander klar? Harold hat als Geldgeber das Sagen und gibt die Stationen der Reise vor; Rose fügt sich ihm widerstandslos, selbst als er sich zu einer Vergewaltigung hinreißen lässt. Aber ist Rose wirklich nichts als ein dümmliches Naivchen? Sie macht sich ihre eigenen Gedanken über den Mann, der fast immer so eine kühle Distanz zu ihr wahrt.

Bizarr wie die Protagonisten muten auch etliche andere Figuren an, zumindest in diesem merkwürdigen Handlungszwielicht zwischen Realität und Fiktion. Auf Dr. Wheelers Spuren unterwegs treffen die beiden seltsame Gefolgsleute, Vietnam-Soldaten, Rassisten und Rassismus-Opfer, Zufallsbekannte mit abstrusen Geschichten über furchtbare Todesfälle durch Gewehrkugeln, Bajonett oder Hammer, alle geschädigt, ge­brandmarkt, gezeichnet. Im April war Martin Luther King ermordet worden, jetzt brannten die Städte in den Südstaaten.Die teilweise bis ins Absurde überzeichneten, radikalen Charaktere und Mord- und Rache-Episoden illus­trieren die Atmosphäre der von schweren Problemen und Ängsten belasteten, von Gewalt geprägten, tief gespaltenen USA der Sechziger Jahre. Nach der McCarthy-Ära, der Hatz gegen alles und jeden, der nach Kommunismus aussieht, traumatisierten nun Rassenunruhen, die Ermordung der Politiker Kennedy und King, der brutale und umstrittene Vietnamkrieg, die Kubakrise, das organisierte Verbrechen das Land.

»Die Frau mit dem gepunkteten Kleid« ist packend geschrieben, lässt aber viele Fragen offen, und etliche Details bleiben schlicht rätselhaft. Das liegt gewiss auch daran, dass die Autorin im Juli 2010 verstarb, ohne ihr Manuskript fertigstellen zu können. Es wurde mit ihren Vorschlägen ohne weitere Ergänzungen ver­öffent­licht (»The Girl in the Polka-Dot Dress« Beryl Bainbridge: »The Girl in the Polka-Dot Dress« bei Amazon ) und von Andrea Ott ins Deutsche übersetzt.

Sollen Rose und Harold womöglich in irgendeiner Weise mit dem Attentat auf Robert Kennedy in Verbin­dung gesetzt werden? Dafür wird man schwerlich Anhaltspunkte finden. Ihre Reise folgt lediglich Kenne­dys Wahlkampfstationen, bis sie den Kandidaten an jenem schicksalhaften Tag zufällig einholen. So ist dies kein Kriminalroman, auch kein historischer Roman, sondern am ehesten ein roadmovie-Gesellschafts­roman ganz eigener Art – ein düsteres, bisweilen auch komisches Porträt Amerikas vor einem halben Jahr­hundert.


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