Dodgers
von Bill Beverly
Vier Jungs aus einem der hoffnungslosesten Viertel von Los Angeles sollen im fernen Wisconsin einen Mord ausführen. Ein Roadmovie aus einer Welt, in der es keine Kindheit gibt.
Kein Platz in dieser Welt für East
Der fünfzehnjährige Easton, genannt »East«, Sohn einer alkoholsüchtigen Mutter in verwahrlosten Verhältnissen, »war nie Kind gewesen«. Dafür hat er bereits Unfälle, Morde, Polizeirazzien, grausame Selbstmorde gesehen. Er ist schweigsam, zuverlässig und unauffällig, schläft in einem Kellerloch an unbekanntem Ort. Seit zwei Jahren trägt er Verantwortung als Aufpasser für seinen Onkel Fin, Clan-Chef und Betreiber mehrerer Crackhäuser, wo Drogenabhängige Tag und Nacht ein- und ausgehen, um sich ihre Dosis Stoff zu holen. Mit ein paar ihm unterstellten Ghettojungs, gerade mal zehn Jahre alt, überwacht East eins davon, »The Boxes«, einschließlich seiner Umgebung in Zwölfstundenschichten und warnt etwa frühzeitig, wenn Cops sich dem Viertel nähern.
Was mag eine mollige dunkelhäutige Zehnjährige in sauberem weißen Hemd in diese von Gott gewiss verlassene Gegend verschlagen? Als sie vor dem Crackhaus auftaucht, ahnt East, dass sie ein Fremdkörper aus einer anderen, ihm völlig unbekannten Welt ist, und gibt ihr zu verstehen, dass sie besser verschwinden sollte. Aber sie lässt sich nichts sagen, plaudert von ihrer Schule und der bevorstehenden Hochzeit einer Tante. Dann bricht eine Polizeirazzia los, und eine von vielen Kugeln löscht rein zufällig das Leben dieses Kindes aus.
East ist erschüttert. Er muss sich fragen, was auf seiner Seite schief gelaufen ist, dass der Alarm vor der Attacke der Cops ausblieb. Hat einer in der gut organisierten Kette gepennt? Hat er selbst, fasziniert von dem fremden Wesen, ein Signal überhört? Das Ereignis wird ihn nie mehr loslassen.
Auch seinem Boss gegenüber hat er versagt und muss sich rechtfertigen. Für Fin ist der Zwischenfall äußerst unangenehm. Der Tod des Mädchens wird gründliche Untersuchungen auslösen, wo doch schon die polizeilichen Festnahmen der letzten Zeit alle »unter Dauerstress« gesetzt haben. Bald droht ein Prozess – »Irgendein Richter wollte Krieg führen« –, und so sind die Aussichten für die Jungen-Gang ebenso schlecht wie für den Chef.
In dieser misslichen Lage spricht Fin mit East über ein geheimes Projekt. Details und Hintergründe deutet er nur vage an, denn entscheidend ist die Aufgabe, die er seinem Lieblingsschützling anvertrauen möchte, und deren Bedingungen: »ich weiß, dass du das kannst … eine Autofahrt … am Ende … etwas machst … ja oder nein … morgen früh … keine Brieftasche. Keine Waffe … keine Kreditkarte … ein paar andere Jungs, wenig älter, erfahrener, kommen auch mit … dein Bruder ist mit dabei … fünfhundert Dollar … etwas davon ist auch für deine Mutter«. Die Jungs sollen nach Wisconsin fahren und den Richter, der den Prozess gegen Fin und die anderen Verdächtigen forciert, erschießen.
East ahnt, dass ihm eine gefährliche Mission aufgebürdet wird, die sogar sein Leben kosten könnte, nimmt den Auftrag aber loyal an. Er packt ein paar Klamotten zusammen, steckt seiner Mutter ein Bündel Geldscheine zu und bricht in einem klapprigen alten Van mit drei gleichermaßen unerfahrenen Greenhorns auf: Sein Halbbruder Ty ist zwei Jahre jünger, aber schon ein richtiger Psychopath, der übergewichtige Cyberkriminelle Walter, 17, leidet unter Atemnot, und Sunnyboy Michael Wilson, mit zwanzig der Älteste und ihr Anführer, hält sich für ein Genie, weil er ein Semester an der UCLA studiert hat.
Als erste Aktion ihrer 2.300-Meilen-Tour-de-Force kaufen sich die halbwüchsigen Auftragsmörder neue Klamotten mit den Insignien des Baseball-Teams L.A. Dodgers. Die sind ihnen zwar widerwärtig (»Dodgers sind Schwuchteln«), aber als Dodgers-Fans verkleidet hoffen sie auf Wohlwollen in der Welt der Weißen, in die sie nun reisen. Von dieser Äußerlichkeit abgesehen fahren sie völlig unvorbereitet und unter denkbar schlechtesten Voraussetzungen los.
Bill Beverly erhielt für seinen Debütroman »Dodgers« »Dodgers« , den Hans M. Herzog jetzt übersetzt hat, gleich zwei Dagger-Auszeichnungen der Crime Writers’ Association für das beste Debüt und den besten Kriminalroman des Jahres 2016. Wie er seine wild zusammengewürfelte Gruppe jugendlicher Anti-Helden mit außerordentlichem Einfühlungsvermögen und Talent begleitet, ist ihm ein atmosphärisch dichter, spannender und wendungsreicher Krimi mit Coming-of-age-Thematik gelungen.
Jetzt sieht East, der nichts als sein Viertel kennt und nichts als den Umgang mit Junkies beherrscht, die weite Welt Amerikas, Berge, Buschland, Wüste, Canyons, Las Vegas, die glitzernde Großstadt der Sünde, und all dies ist ihm fremd. »Er sah zwar die Tiefe des Tals, spürte den echten Wind … Er war nicht überzeugt, dass es echt war … er fühlte etwas über dem Abgrund, all die Zeit, die dort abgelagert war … eine Ewigkeit. Mehr Zeit, als er in hundert Leben wie dem seinen hätte.«
Bald fordern die Strapazen der Reise und die Unbedarftheit der Killerkinder ihren Tribut. Ständige Tankstopps, eintöniges Fast-Food, zu wenig Schlaf, zu viel Kälte und Schnee, die ewige Suche nach Telefonhäuschen, um per codierter Nachricht (»Ich will mit Abraham Lincoln sprechen«) neue Informationen anzufordern, immer wieder Ärger mit der Polizei, Stress beim Waffenkauf und unterschiedliche Bedürfnisse zermürben die Jungs. Schon in Las Vegas trennen sich die Jüngeren von Michael, und East bemüht sich, die Resttruppe zusammenzuhalten, indem er an die gemeinsame Verpflichtung erinnert.
Derweil spitzt sich allerdings die Situation daheim in Los Angeles zu. Die Polizei verhaftet den Chef und seine Leute, zerschlägt die »Organisation«. Was soll nun aus Fins Auftrag werden? Für East gilt die Abmachung mit ihm weiterhin, und so möchte er die Anweisung erfolgreich ausführen. Nachdem Ty den Job erledigt hat, sind die drei verbliebenen Jüngelchen auf der Flucht, und der Stress wächst ins Unkontrollierbare. Auf dem Gipfel einer Provokation erschießt East eher versehentlich als beabsichtigt seinen Bruder. Mit Walt schlägt er sich eine Weile durch, zeitweise begleitet von einer leicht durchgeknallten Schwarzen (»Wir können gemeinsam ein paar andere Leute ausrauben.«). Aber eine tragfähige Perspektive ist das nicht.
Am Ende ist East allein. Beladen mit seinem schwer zu tragenden Schuldgefühl und ohne Zuversicht, dass es für ihn überhaupt einen Platz in dieser Welt gebe, flüchtet er zu Fuß in eine ungewisse Zukunft.
Mit einem Überraschungsknüller schließt der Roman über Easts Reise, lässt aber offen, wie es mit dem Protagonisten weitergehen wird. Am Ende des Tunnels ist durchaus Licht zu erkennen, denn East, seinem Milieu zum Trotz ein moralischer und pflichtbewusster junger Mensch, ist nun erwachsen geworden und spürt zum ersten Mal in seinem Leben, dass er in seinem Handeln autonom und eigenverantwortlich ist.