Rezension zu »Rione Serra Venerdì« von Mariolina Venezia

Rione Serra Venerdì

von


Wer hat die unscheinbare Stella Pisicchio in Matera erwürgt? Und wo steckt der Gassenjunge Eustacchio aus der Wohnung drüber? Mindestens ebenso wichtig ist, was die Ermittlerin Imma Tataranni, eine Frau wie ein Vulkan, in ihrem Inneren antreibt.
Kriminalroman · Einaudi · · 280 S. · ISBN 9788806223052
Sprache: it · Herkunft: it · Region: Kalabrien und Basilicata

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Alte Freundschaften

Rezension vom 06.01.2019 · 3 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Immacolata Tataranni ist »PM« (Pubblico Ministero) bei der Procura della Repubblica in Matera, also Staats­anwältin. Dass sie so eine staats­tragende Funktion ausübt, sieht man ihr nicht an. Ihr greller Kleidungs­stil beispiels­weise ist ein Schlag gegen die Würde ihres Amtes, wenn nicht gegen den guten Geschmack, kom­pensiert aber ihre unauf­fällige Körper­größe und verstärkt wie ihre feuer­rote Mähne die Wirkung ihres energi­schen Auftretens. Büro­arbeiten sind, wie zu erwarten, nicht ihr Ding. Anders als ihre Kollegen, die hinter Respekt hei­schenden Schreib­tischen residie­ren, ist sie lieber mitten­drin, wenn es etwas zu ermitteln gibt, besucht die Tatorte, befragt die Zeugen, drängt den Rechts­medi­ziner zu ersten Vermutungen.

Imma ist eine Art menschlicher Vulkan. Sie ist willensstark bis störrisch, furchtlos (auch vor ›großen Tieren‹) bis wider­spenstig, offenherzig bis brüsk, und sie macht sich nicht beliebter, wenn der Jähzorn sie packt, sie schrill durchs Büro kommandiert oder ihren Zynismus nicht zügelt. Wegen ihrer fachlichen Kompetenz erträgt man sie seufzend, aber mancher Mann findet sie attraktiv, unter anderen ihr liebevoller, geduldig aus­gleichen­der Gatte Pietro. Dagegen sorgt die fünf­zehn­jährige Tochter Valentina mit ihren Experi­menten zur Partnerwahl für zusätz­lichen Stress. Freude hat Imma in der Küche, wo sie regionale Köstlich­keiten zaubert (insalata di arance e finocchi, peperoni fritti con le olive, ciambotta, lampascioni, soppressata, melanzane e carciofini).

Die bei uns noch weitgehend unbekannte Schriftstellerin Mariolina Venezia (1961 in Matera geboren) hat mit dieser Figur eine markante Persön­lich­keit voller Wider­sprüche geschaffen und bereits den dritten Kriminal­roman mit ihr veröffent­licht. Die beiden ersten Folgen, »Come piante tra i sassi« Mariolina Venezia: »Come piante tra i sassi« bei Amazon (2009) und »Maltempo« Mariolina Venezia: »Maltempo« bei Amazon (2013), werden zurzeit für das Fernsehen verfilmt (Ausstrah­lung im Herbst 2019 auf RAI uno). Mit der Familien­saga »Mille anni che sto qui« Mariolina Venezia: »Mille anni che sto qui« bei Amazon (»Tausend Jahre, die ich hier bin« Mariolina Venezia: »Tausend Jahre, die ich hier bin« bei Amazon) gewann Mariolina Venezia 2007 den renom­mierten Premio Campiello.

Jetzt hat Imma einen Mordfall aufzuklären, dessen Opfer ihr wohlbekannt ist. Stella Pisicchio war auf dem Gymnasium ihre Klassen­kame­radin – damals ein schüch­ternes Mädchen mit Zöpfen, das sich nicht um Jungs scherte. Inzwischen ist sie offenbar eine andere gworden, denn als man sie erwürgt in ihrem Bett auffand, war sie nicht nur spärlich bekleidet, sondern auch in auf­reizen­der Weise nach SM-Gepflogen­heiten zurecht­gemacht.

Um dem Mörder auf die Spur zu kommen, frischt Imma ihre eigenen Erinnerungen auf (ihr unfehlbares Gedächtnis ist eine Geheimwaffe), besucht Stätten ihrer Jugend, befragt alte Bekannte in der Stadt und auf dem Lande, und ihre dienst­lichen Ohren hören aufmerksam mit, wenn ihre früheren Mit­schüle­rinnen loslegen. Das Klatsch-und-Tratsch-Karussell dreht sich auf Hochtouren, doch was sind bloße Redereien und Hirnge­spinste, was ernst zu nehmende Informa­tionen? Und was hat es zu bedeuten, dass Eustacchio (»Stacchiuccio«), ein Junge aus prekären Verhält­nissen, der in der Wohnung über Stellas wohnt, plötzlich spurlos verschwin­det?

Wie immer muss sich die Polizei letzten Endes auf mühselige Recherche­methoden einlassen, um an belastbare Indizien zu kommen: Spuren­siche­rung, Zeugen­befra­gungen, Akten­studium, Internet. Unter den Personen, mit denen das Opfer in letzter Zeit Kontakt pflegte, sind so interes­sante Charaktere wie Niccolò de Nardis, aus uraltem, wenn auch inzwischen mittellosem Adel, aber noch immer im Besitz der imponie­renden Insignien seines Standes – geräumiger Stadt-palazzo, Jaguar E-Type, arrogantes Wesen. Dass sich der längst nicht mehr ganz feine Herr ge­legent­lich von barm­herzi­gen Dörflern zu einer warmen Mahlzeit einladen lässt, kann er mit seinem gesunden Geschäfts­sinn durchaus vereinbaren.

In einer Kiste, die Stella entsorgt hat, findet man eine Menge zerbrochener Glas­negative aus der Pionierzeit der Fotografie. Pikanter als die Schlüpfrig­keiten auf vielen der Scherben sind die Spuren in die ersten Jahre des italieni­schen Königreichs, als das pie­monte­sische Militär brutal gegen aufmüpfige Dörfler und Briganten im Süden vorging, um nach dem risorgimento die neue Zentral­macht aus dem Norden zu sichern. Dabei haben auch Vorfahren von De Nardis mitgemischt.

Immas rechte Hand bei der Arbeit ist der zuverlässige und dienst­beflis­sene maresciallo Ippazio Calogiuri, überdies ein geradezu gefährlich attraktiver Mann, wie seine Vorgesetzte betont. Die beiden müssen einander schon näher gestanden, sich aber überworfen haben, wie vielfach angedeutet wird. Die diffizile Beziehung ist also ein roter Faden durch die gewiss noch weiter­zufüh­rende Serie. Andere Mitarbeiter zeichnen sich in Immas Augen vorzugs­weise dadurch aus, dass sie keine dummen Bemerkungen machen, bei Autofahrten nicht ihr Privatleben ausbreiten und vor allem die Launen ihrer Chefin wider­spruchs­los ertragen.

Die Handlung spielt in der süditalienischen Region Basilikata. Matera, die Provinz­haupt­stadt, verdankt ihren Ruhm den unzähligen Höhlen, die Natur und Mensch in die weichen Abhänge der Tuffstein­schluch­ten getrieben haben und die seit Jahr­tausen­den besiedelt sind. Das verwirrende System neben- und über­einan­der gestapelter Ein- und Mehrraum­wohnun­gen, Gässchen, Treppchen, kleiner Plätze und Felsen­kirchen (»chiese rupestri«) mit byzanti­nischen Fresken bildet ein pittoreskes, biblisch anmutendes Ensemble, in dem Filme wie Pier Paolo Pasolinis »Das 1. Evangelium – Matthäus« und Mel Gibsons »Die Passion Christi« gedreht wurden. So einmalig und beein­dru­ckend die Architektur und das eher an eine Skulptur erinnernde Stadtbild ist, so menschen­unwürdig waren die Bedingungen, unter denen Mensch und Vieh in den engen Grotten ohne fließend Wasser und Elektri­zität hausten, von Malaria, Typhus und Cholera bedroht. Um 1950 erregten die Sassi (die beiden Stadtteile Sasso Caveoso und Sasso Barisano) als »la vergogna d’Italia« Aufmerk­samkeit, und Staats­präsi­dent Alcide De Gasperi initiierte ein Gesetz, um die etwa 17.000 Bewohner auf Staats­kosten in neu errichtete Stadt­viertel wie den Rione Serra Venerdì umzusiedeln.

Spätestens seit die Sassi 1993 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurden, verändern sie ihr Gesicht. Schicke Büros, moderne Ferien­wohnun­gen, Boutiquen, Trattorien, Kunstge­werbe und Museen wurden in uralten Höhlen einge­richtet, um den wachsenden Besucher­strom zu bedienen. Mit der Wahl Materas zur Europä­ischen Kultur­haupt­stadt 2019 ist die Stadt endgültig als Tou­risten­attrak­tion arriviert – und mit Mariolina Venezias Büchern auch literarisch zeitgemäß vertreten. Die Autorin ist eine fähige Botschaf­terin ihrer Heimat, der die Vielfalt der Handlungs­schau­plätze am Herzen liegt. Es sind Grotten in den Sassi und Wohnungen im Viertel, das dem Buch den Titel gibt, dazu die Land­schaf­ten der lukanischen Dolomiten, einer spröden, einsamen, bergigen Gegend, die im Winter einfriert und im Sommer verbrennt, in deren Dörfern, auf endlos gewundenen, engen Sträßchen zu erreichen, die Zeit stehen­geblie­ben ist.

Mariolina Venezia hat viele Jahre in Frankreich gelebt, was ihren Horizont geweitet hat, und Gedicht­bände veröffent­licht, die ihre sprachliche Sensibi­lität belegen. Ihr Kriminal­roman ist sprachlich anspruchs­voll – vor allem, wenn uns innere Monologe der Protago­nistin mit Gedanken­fetzen, umgangs­sprach­lichen Floskeln und bloßen Andeutungen in Satzbrocken hingeworfen werden. Die Erzählung ist unterhalt­sam, amüsant und voller Ironie, die Spannung wird von allerlei Cliff­hangern angeheizt, aber bis zur Lösung des Falls müssen wir an Immas Seite viele Irrwege gehen. Gelegent­lich wird Imma auch nach­denk­lich: »Lei alle norme aveva sempre creduto, che c’entra, fin da ragazza, quando per rispettarle non passava le versioni [gemeint ist: Weil das gegen die Regeln verstößt, ließ Imma ihre Mitschü­lerin nicht ihre Griechisch-Hausaufgaben abschreiben.], ma in quel momento, da lontano, le venne un pensiero: che certe volte la legge è un paravento, buono a nascondere le cose che non fanno comodo.«


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