Killeragenten und Kernseife
Erst ein paar Jahre ist es her, dass der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Die Verheerungen, die er hinterließ, sind noch überall zu sehen und zu spüren, die materiellen, die politischen und die seelischen. Aber ebenso offensichtlich ist der allgegenwärtige Umbruch.
Die frühen Fünfzigerjahre – Brigitte Glasers lesenswerter Roman spielt 1952 – waren in Deutschland und international eine turbulente Phase. Damals wurden die Weichen gestellt, die den Kurs der nachfolgenden Jahrzehnte – bis in unsere Tage – bestimmten. Und alle Fragen waren offen, alles war möglich – theoretisch. In der Praxis allerdings regierte Konrad Adenauer die Bundesrepublik Deutschland seit deren Gründung 1949 mit klarer Ausrichtung: Sie sollte rasch wieder ein souveräner Staat werden und sich eindeutig zum Westen hin orientieren. Das versprach Freiheit, wirtschaftlichen Aufschwung und Sicherheit. Der Preis dafür war die Gefahr der wachsenden Konfrontation mit dem kommunistischen Ostblock unter der Führung der Sowjetunion, die die östliche Hälfte Deutschlands, die DDR, zu ihrem Vorposten in Europa ausbauen würde.
Ein weiteres zentrales Anliegen des ersten Bundeskanzlers ist die Aussöhnung mit den Juden, auch um das Ansehen Deutschlands in der Welt wiederherzustellen. Eine Brücke dorthin sollen Leistungen an den jungen Staat Israel schlagen. Die Verträge mit der jüdischen Interessenvertretungsorganisation JCC über langfristige Warenlieferungen und Wiedergutmachungszahlungen stehen kurz vor der Unterzeichnung.
Nicht nur in Kreisen der deutschen Bevölkerung sind diese Zahlungen umstritten, sondern, mit ganz anderer Motivation, auch in Israel. Dort sprechen manche von schmutzigem »Blutgeld«, mit dem sich die Deutschen von aller Schuld am Holocaust freizukaufen beabsichtigten. Radikale Zionisten formieren sich im Untergrund und nehmen den Kampf auf. Sie versenden Briefbomben und Sprengstoffpakete ins Land der Mörder ihrer Familien.
Vor diesem Hintergrund arrangiert Brigitte Glaser die (frei erfundene) Handlung ihres Polit- und Agentenkrimis. Sie führt uns nicht ins Machtzentrum nach Bonn, sondern auf einen Nebenschauplatz, ins Nobelhotel Bühlerhöhe, das einige Kilometer südlich von Baden-Baden in luftig-waldiger Schwarzwaldhöhe thront. Tatsächlich suchten Kanzler Adenauer und seine Tochter Lisbeth hier des Öfteren Erholung. Sie stehen (als einzige historisch reale Figuren) im Zentrum des Plots, denn Unbekannte planen möglicherweise ein Attentat auf die beiden, um das Wiedergutmachungsgesetz zu verhindern. Allerdings tauchen die Promis hier nur am Rande auf.
Als Heldin präsent ist Rosa Silbermann, in Köln geboren, dem Holocaust frühzeitig entkommen, dann zionistische Untergrundkämpferin in Palästina, jetzt Agentin wider Willen, ohne Ausbildung und ohne Ahnung von den aktuellen politischen Verhältnissen in Deutschland. Weil sie aber Deutsch spricht und die Bühlerhöhe aus Kindertagen kennt, schickt sie der israelische Geheimdienst Mossad zum Schutz des Bundeskanzlers in die Luxusherberge. Zu ihrer Unterstützung wird ein wahrer Meisterspion, erfahren und durchtrieben, als ihr »Ehemann« aus Paris anreisen.
Nicht nur, dass der versprochene Gatte nicht ankommt und Rosa ganz allein agieren muss; es erwarten sie ernstzunehmende Gegenspieler wie die deutschen Sicherheitsexperten, die über die Anfängerin die Nase rümpfen, oder Sophie Reisacher, die mit allen Wassern gewaschene, unerbittliche Hausdame der Bühlerhöhe, die nach ihrer misslungenen Nazikarriere einen neuen Aufstieg anstrebt. Schon ein Blick auf die Hände des soeben eingetroffenen Gastes verrät ihr, dass Rosa, anders als sie vorgibt, sicherlich keine Professorengattin ist, und ein Katz-und-Maus-Spiel nimmt seinen Lauf.
Derweil quartieren sich, angezogen vom unmittelbar bevorstehenden Kanzlerbesuch auf Bühlerhöhe, die unterschiedlichsten Persönlichkeiten im etwas schlichteren Nachbarhotel Hundseck ein. Journalisten, Geschäftsleute, Bittsteller und schwer durchschaubare Damen und Herren – alle müssen sich bei Fräulein Agnes Rheinschmidt anmelden. Um das gutgläubige Dummchen an der Rezeption entspinnt sich eine Nebenhandlung, die mit Agnes' schrecklichen Erlebnissen während der französischen Besatzungszeit zu tun hat.
Mit den zahlreichen Figuren aus Haupt- und mehreren Nebensträngen entwickelt Brigitte Glaser eine wendungsreiche, verästelte Handlung, die, nach Schauplätzen geordnet, aus wechselnden Perspektiven erzählt wird. Dabei kommen viele ernste Themen der Zeit auf den Tisch (ein kurzer Anhang mit Erklärungen und Quellenangaben erspart die Vertiefung per Internet), aber die Autorin bereitet alles unterhaltsam und leicht auf. Liegt es daran, dass manche Praktiken der Agentin Rosa arg laienhaft und naiv erscheinen, oder an ihrer Unerfahrenheit? Neben den geheimdienstlichen Aktivitäten geht es um Kompetenzgerangel zwischen den Sicherheitsdiensten, um Intrigen, Liebschaften, Befindlichkeiten und Marotten der Erholung suchenden Gäste in den beiden Hotels. Glasers bevorzugtes Gestaltungsmittel sind köstliche, feinsinnige Unterhaltungen, deren Wortschatz der Zeit entstammt (»Herzkasperln«, »Poussierstängel«, »düpieren« ...), noch ganz frei von Anglizismen ist und auch dialektale Einsprengsel enthält.
Auf diese Weise erschafft die Autorin ein überzeugendes, breites, detailreiches und sehr anschauliches Panorama der Fünfzigerjahre und ihres Zeitgeistes. Eines der heikelsten Themen ist die Wiederbewaffnung. Schon treffen sich im Hotel Hundseck drei windige Geschäftsleute, die den ganz großen Reibach nicht verpassen wollen. Angeblich handeln sie mit Nähmaschinen ... Im Alltag werden die Menschen häufig mit der Frage der Heimatvertriebenen konfrontiert. Vor allem Sudetendeutsche suchen im Schwarzwald eine Bleibe und nehmen jede Arbeit an. Die Rolle der Frau ist noch nicht einmal ein Thema. Ist sie alleinstehend, nennt man sie »Fräulein« – und drückt ihr damit eine Art Stempel auf, sei es als potenzielle Rivalin ehrbarer Ehegattinnen, als Freiwild oder als wunderliche alte Jungfer.
Und was bietet ein erstklassiges Hotel der Zeit seinen illustren Gästen? Auf der Bühlerhöhe stehen für dringliche Anlässe im Foyer ganze drei Telefonkabinen bereit. Das Hotel Hundseck verfügt gar über ein Schwimmbad. Zu Abend verzehrt man gern Schnittchen mit russischen Eiern. Der deutsche Bundeskanzler und seine Tochter speisen Forelle blau und zum Nachtisch Mokka-Eclairs – oder lieber Zitronencreme? »Fleur de Muguet«, der Duft von Maiglöckchen, umhüllt die Empfangsdame und die Frau von Welt, ansonsten benutzt man Kernseife.