Stausee des Unheils
Sowon war elf, als sein Vater Hyunsu verhaftet wurde. Die Anklage lautete, er habe das elfjährige Mädchen Seryong erwürgt, dessen Vater und seine eigene Ehefrau Unju (Sowons Mutter) mit einem Holzhammer erschlagen. Außerdem habe er die Schleusen des Staudamms, für dessen Sicherheit er seit Kurzem verantwortlich war, geöffnet, dadurch die gesamte Umgebung überflutet und zahlreiche Unschuldige getötet. Hyunsu wehrte sich nicht gegen seine Festnahme. Würde ihn das Gericht des Massenmordes schuldig sprechen, hätte er nur ein Urteil zu erwarten: die Todesstrafe.
Die koreanische Bestsellerautorin Jeong Yu-jeong lässt keinen Raum für Zweifel. Bereits im Prolog und auf den ersten Seiten des Hauptteils wird deutlich, dass Sowons Vater ganz offensichtlich ein wahnsinniger Psychopath ist. Wozu also viel Aufwand treiben, um einen anderen Täter ausfindig zu machen? Und doch entsteht das beunruhigende Gefühl, dass an der Sache etwas faul sein könnte, dass Hyunsus Schuld womöglich gar nicht so klar ist. Diese Unsicherheit beschäftigt auch Sowon. Während der sieben Jahre, durch die wir ihn begleiten, hält er die Hoffnung aufrecht, dass ein anderer verantwortlich sei und sein geliebter und verehrter Vater nicht am Strang enden müsse.
Nach dem Verlust von Mutter und Vater erwartet das Kind eine harte Zeit. Erst werden Verwandte mit seiner Betreuung beauftragt. Doch niemand will den Jungen haben, an dem die Schande der väterlichen Horrortat klebt und den die begierigen Massenmedien öffentlich als »Sohn des Stauseemonsters« stigmatisieren. Im Verlauf seiner Odyssee, in der er Opfer von Anfeindungen aller Art wird, rastet er irgendwann selber aus und schlägt einen Mitschüler brutal zusammen.
Dann widerfährt ihm etwas Glück: Seine Jugendarreststrafe wird zur Bewährung ausgesetzt, und er trifft einen sympathischen alten Bekannten wieder. Der über zwanzig Jahre ältere Sunghwan hatte am Stausee bei seiner Familie zur Untermiete gewohnt, Sowon hatte sein Zimmer mit ihm geteilt, und schon damals hatte er sich als Beschützer hervorgetan. Auch jetzt will sich der Mann, den Sowon liebevoll »Onkel« nennt, seiner annehmen.
Doch noch immer sind Journalisten auf der Spur des sensationellen Falles und folgen den beiden, egal wohin sie fliehen. Nach Jahren finden sie in einem abgelegenen Küstenort endlich Ruhe. Sowon, inzwischen achtzehn, erledigt Botengänge für eine Apotheke, der »Onkel« begleitet Touristen auf ihren Tauchgängen und versucht sich in seiner Freizeit als Romanschriftsteller.
Nach einem spektakulären Tauchunglück rücken die Medien an, um über die gewagte Bergungsaktion zu berichten. Aber rasch verlieren sie das Interesse an Mut und Selbstlosigkeit der Rettungstaucher, als sie dahinterkommen, um wen es sich da handelt. Erneut schießen sie sich auf Sowon und seinen Monster-Vater ein, der noch immer im Gefängnis auf seine Hinrichtung wartet. Überdies verschwindet Sunghwan spurlos. Seine Hinterlassenschaften: ein paar persönliche Gegenstände, darunter ein Notizbuch, ein USB-Stick und viele, viele Seiten beschriebenen Papiers ...
Mit wenigen Figuren, aber häufigen Zeitsprüngen und aus ständig wechselnder Perspektive entwickelt Jeong Yu-jeong einen spannenden Roman (den Kyong-Hae Flügel ins Deutsche übersetzt hat). Sunghwan, der »Onkel«, ist der außenstehende Beobachter zweier Elternpaare und ihrer gleichaltrigen Kinder Sowon und Seryong, die das Schicksal für kurze Zeit am Stausee des Unheils zusammenführt. Rückblenden geben Aufschluss über aller Vorleben und eröffnen uns die dunklen Seiten ihrer schwierigen Charaktere. Erfolgsstreben und Versagen, Machtwille und Kontrollwahn, Gerechtigkeitswille und Rachsucht bedurften nur eines Funkens, um eine Katastrophe auszulösen und »sieben Jahre Nacht« nach sich zu ziehen.
Gut fünfhundert Seiten umfasst dieser komplexe, psychologisch dichte Roman mit zunehmender Explosionskraft. Ziemlich früh ahnt man, wer der grauenhafte Drahtzieher sein könnte. Wie er vorgeht, welch perfides Spiel er spielt, das entwickelt die Autorin in kleinen, sehr beunruhigenden Schritten.
Überraschend wenig erfahren wir hingegen von Koreas Kultur und der Atmosphäre des fernen Landes. Ein paar Seiten erzählen von mystischen Bräuchen, Aberglauben und den Beschwörungen eines Schamanen, im Übrigen könnte sich die Handlung ebensogut in Europa oder sonstwo in der Welt zutragen. Die Autorin hatte beim Schreiben offenkundig nicht den Export nach Übersee im Sinn. Vielleicht ändert sich das, sollte sie hier Erfolge feiern.