Verfluchte Verheißungen
Ziehen Sie nur keine voreiligen Schlüsse aus dem elysischen Titel. Er präsidiert keineswegs über einen hehren Inhalt, wie beispielsweise den Pilgerzug der Suchenden nach ewiger Wahrheit ins Paradies. Zwar brechen Cane, Cob und Chimney Jewett tatsächlich zu einer Reise auf, aber sie verfolgen sehr diesseitige, wenn nicht höllische Ziele.
Machen wir uns nichts vor: Donald Ray Pollocks schaurig-schonungsloser Kriminalroman berichtet geradewegs aus den abstoßendsten Niederungen der Südstaaten, dem heutigen Amerika gnädigerweise um ein Jahrhundert entrückt, aber immer noch verwandt. Was da aufgetischt wird, schmeckt nicht jedem. Die einen mögen die literarische Kost mit starken Pulp- und Satire-Aromen so sehr, dass sie ihr Sterne verleihen, wohingegen sich Leser mit empfindlichem Magen angewidert abwenden mögen – oder sich veranlasst sehen, ihre Grenzen des guten Geschmacks neu zu setzen.
Der August 1917 ist heiß wie das Höllenfeuer, und die bedauernswerten Menschen an der Grenze zwischen Georgia und Alabama leben auf Tuchfühlung mit allem, was irdisch, armselig und dreckig ist. Mittellos, ungebildet und roh wie sie sind, haben sie keine Wahl und kennen keine Auswege aus dem miefigen Morast, in dem sie vegetieren, ständig umweht von menschlichen Ausdünstungen, schwül-süßlichen Pflanzenaromen, dumpfen Fäulnisgasen, umgeben von Schmutz und Schleim, Krankheiten, Fäkalien, Feuchtgebieten aller Art ...
Den einzigen Lichtblick kann die Hoffnung auf bessere Zustände im Jenseits bieten. Die Prediger wissen erstaunlich Konkretes darüber zu erzählen. Im Himmel sei der Tisch stets reich gedeckt mit nie enden wollenden köstlichen Speisen. Platz nehmen dürfen da aber nur die Seligen, die hienieden alles Leid, das ihnen widerfährt, »willkommen heißen«. Die anderen, denen es auf Erden gut geht, werden hingegen im Fegefeuer »am heißesten brennen«. Klug und recht handelt demnach der fromme alte Eremit, der sich in zerschlissenes Sackleinen hüllt und nichts verzehrt außer »ein paar Kaulquappen und die Geschöpfe, die ich in meinem Bart gefunden habe«.
Vor der Begegnung mit dem Einsiedler kannte Pearl Jewett für seine mickrige Existenz nicht einmal den Trost dieser Verheißung (und vielfach bewährten Ruhigstellung). An dem Tischlein-deck-dich will er auch einmal landen – und preist fortan die karge Kost aus fauligem Schweinefleisch und trockenen Teigbatzen, die allein er sich und seinen drei Söhnen zu Hause bieten kann.
Cane, Cob und Chimney, mit wenig Füllstoff im Schädel, aber kräftiger Biomasse gesegnet, können dem wirren Gefasel vom göttlichen Bankett (»Koteletts so dick wie Bullenpimmel, Steaks so groß wie Wagenräder, gebutterte Brötchen so heiß und weich wie die Titten von ...«) nichts abgewinnen, solange ihnen der Magen knurrt. Und überhaupt: Tagein, tagaus für den reichen Major Tardweller Sumpfland roden wollen sie auch nicht mehr. Sie wollen abhauen und reich werden wie Bloody Bill Bucket, von dessen Ruhmestaten als Bankräuber im Wilden Westen ihnen Cane, der älteste und einzige des Lesens mächtige unter ihnen, an manchen Abenden aus einem alten Groschenheftchen vorliest.
Ihre Stunde schlägt, als eine Durchfallattacke Pearls Lebensfaden kappt. Unter Führung Canes zieht das Trio in die Welt hinaus. Während Vorleser Cane, 23, der einigermaßen klügste und schönste der Brüder ist, hat der aufsässige Chimney, 17, nichts als Sex und Weiber im Sinn, und Cob, der mittlere, stärkste und beschränkteste, nur Futtern. Sie nehmen Major Tardweller drei Pferde und sein Leben ab, rauben in der nächsten Stadt die erste Bank aus und machen auf ihrem Weg nach Norden rasch Karriere. Sie stehlen und morden, metzeln mit Macheten und ballern mit Revolvern alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellt. Mit jeder Schandtat steigt das auf sie ausgesetzte Kopfgeld.
Derweil tobt im zivilisierten alten Europa seit Jahren ein brutaler Krieg. In den entlegenen Gefilden der Neuen Welt weiß man davon so gut wie nichts. Für Farmer Ellsworth Fiddler, soeben um all seine Ersparnisse betrogen, ist es eine böse Überraschung, als er auf der Suche nach seinem abhanden gekommenen nichtsnutzigen Filius Eddie erfährt, dass die amerikanische Regierung schon seit ein paar Monaten in der Weltpolitik militant mitzumischen beabsichtigt. Gut möglich, dass sein Siebzehnjähriger zur Armee durchgebrannt ist. Egal wie und woher, er muss ihn nach Hause holen.
Tatsächlich läuft die US-Kriegsmaschinerie auf Hochtouren. Die öffentliche Meinung (soweit interessiert) ist nationalistisch und anti-deutsch aufgeheizt. Im Armeelager Camp Pritchard werden freiwillig herbeiströmende Bauerntölpel zu Kanonenfutter ausgebildet. Ein herber Schlag für die hohen Erwartungen des humanistisch gebildeten Schönlings Lieutenant Vincent Bovard. Kein einziger der »ungebildeten Rohlinge« kennt Cicero, kein einziger bietet einen Körper von griechisch-klassischer Schönheit. Was bleibt ihm da, als sich opiumbefeuerten Fantasien mit Lustknaben im goldenen Sonnenlicht einer Ägäis-Insel hinzugeben und einen Heldentod mitten im Kampfgetümmel der Schlachtfelder Europas herbeizusehnen?
Die überbordende Phantasie des Autors und seine vor Details überquellende Beschreibungskunst überwältigen den Leser schier auf der Hauptleinwand der drei marodierenden ungleichen Brüder und in den zahlreichen Parallelsträngen, die abwechselnd beleuchtet werden und ebenso wie die Schicksale vieler Nebenfiguren leicht Stoffe eigenständiger Romane werden könnten. Vielfach kann Pollock die stürmischen Pferde seiner Fantasie kaum zügeln, und wir landen mitten im Morast siffiger Ställe, wo Huren Soldaten befriedigen, und ähnlichen abenteuerlichen Schauplätzen absonderlicher Geschehnisse um skurrile Figuren, die einem Gruselkabinett entsprungen sein könnten.
Jasper Cone leidet an seinem übergroßen Geschlechtsteil, wegen dem ihn seine bigotte Mutter als Kind schamhaft weggesperrt und ihm eine seelische Verformung hinzugefügt hatte. Nach deren Tod ergreift er seine Chance, die von allen verachtete, aber nützliche Arbeit des »Scheißeschauflers« zu verrichten. Wenn er im öffentlichen Auftrag, Hygienestandards zu überprüfen, kompetent in anderer Leute Plumpsklos herumstochert, findet er seine Erfüllung. Aus ihren Fäkalien liest er Dinge, »da würden Ihnen die Haare zu Berge stehen«. Der Besitzer der Spelunke »Blind Owl« wiederum sammelt Zähne in einem Glasbehältnis und erfreut sich am besänftigenden Rasselgeräusch, das ihn an Kindheitstage erinnert. Wie die natürlichen Besitzer der Zähne um ihr Eigentum kamen, das ist eine andere Geschichte ...
Donald Ray Pollock ist ein spätberufener Meister seines Genres, der nach einem Arbeiterleben erst 1999 mit 45 Jahren zu schreiben begann. »The Heavenly Table« ist sein dritter Roman (alle von dem genialen Peter Torberg mitreißend übersetzt). Obwohl so viele Szenen und Figuren karikaturenhaft überzeichnet erscheinen, verleiht der »Verteidiger der übersehenen und vergessenen Menschen Amerikas« (New York Times) jeder seiner Kreaturen, so eklig, verdorben oder geschunden sie sein mag. eine Seele. Manche überraschen mit unerwarteter Sensibilität oder gar Hunger nach einer Kultur, die sie in ihrem düsteren Habitat noch nie erreichen konnte. Cane kämpft sich durch Shakespeares »Richard III«, vielleicht doch nicht allein, weil das »eine Geschichte voller Gemeinheiten« ist. Lieutenant Bovard zieht Inspiration aus Thukydides' Invasionsbeschreibungen in der »Geschichte des Peloponnesischen Krieges«. Ein anderer Akteur verschlingt »Die Abenteuer des Huckleberry Finn« (mit der »Himmlischen Tafel« literarisch verwandt), erinnert sich aber noch gut an das verruchte Groschenheftchen von Bloody Bill Bucket, das er und sein Bruder in der Jugend heimlich lasen.
Literatur, so scheint uns Pollock schelmisch stecken zu wollen, bewirkt eben doch etwas. Wie die Lektüre von Ritterromanen einst Don Quijote zu seiner Mission ermunterte, so war »Das Leben von Bloody Bill Bucket« die Initialzündung, die die gottlosen Jewett-Brüder auf ihren fatalen Weg brachte. Auch dem Autor dieses Machwerks, Charles Foster Winthrop III, widmet Pollock eine Vita von ein paar Zeilen, in denen er die ganze Mühsal des Schriftstellerdaseins zuspitzt: »ein gescheiterter Dichter aus Brooklyn, der einst davon geträumt hatte, der nächste Robert Browning zu werden ... Winthrop hatte in das Buch jegliche Art von Vergewaltigung, Raub und Mord gepackt, die sein zorniges, syphilitisches Hirn sich ausdenken konnte. Für diesen zwanzigsten Reißer in weniger als drei Jahren hatte er die jämmerliche Summe von dreißig Dollar bekommen ... hatte er nicht mal mehr genug Geld, um sich einen Laib Brot zu kaufen. ›Tja‹, sagte er in jener Nacht zu dem Ungeziefer, das hinter dem rissigen Putz in seinem feuchten Zimmer hauste, ›ich habe mein Bestes gegeben, mehr kann ein Mann nicht tun.‹« Dann ersäuft er sich in Terpentin.
Pollock zeichnet kein schönes Bild von Amerika. Frauen, Nicht-Weiße, Ausländer, Andersdenkende und Minderheiten werden abgelehnt, entwürdigt, misshandelt, der sich abzeichnende technische Fortschritt steigert zunächst einmal die Leiden des Krieges und wird das Leben vieler Menschen auf lange Sicht nicht erleichtern. Neunundneunzig Jahre später warten die »übersehenen und vergessenen Menschen Amerikas«, viele immer noch mittellos, ungebildet und roh, nicht mehr auf eine »himmlische Tafel«. Laut den Analysen waren sie es, die heute, am 9.11.2016, einen Donald Trump zum 45. Präsidenten ihres Landes gewählt haben.