Das Böse fordert Vergeltung
Wer fünfhundert Seiten, vollgepackt mit Verbrechen und reichlich Mystery, arrangiert in etlichen parallelen Handlungssträngen, durchhält, um am Ende so gut wie keinen Schritt näher an die Lösung all der aufgeworfenen Rätsel gekommen zu sein, der muss schon so etwas wie Lesesportsgeist mitbringen. Denn aufgepasst: Geduldiges Warten ist angesagt. Fortsetzung folgt im Februar 2013, der dritte Teil dann im Februar 2014. Bis dahin werden uns Autor Carsten Stroud und sein Übersetzer Dirk van Gusteren an der langen Leine halten, peu à peu das Dunkel lichten, bis wir endlich nach zwei Jahren •!) den vollen Durchblick genießen werden.
Der Titel lässt schon Ironie vermuten – ist jedoch sogar blanker Sarkasmus. Das Kleinstädtchen "Niceville", wo der Dreiteiler spielt, ist ein netter Ort; bloß verschwanden da seit 1928 mehr als 200 Menschen spurlos. Bevor die Weißen sich hier niederließen und die Gründerfamilien – die Cottons, die Teagues, die Haggards und die Walkers – ihren Reichtum anhäuften, gehörte das Land den Cherokee-Indianern. Schon die wussten und spürten das Böse, die Bedrohung, die ihren Ursprung in "Tallulah's Wall", einem riesigen Felsmassiv in der Nähe, hat. Oben auf einem Plateau ruht der "Crater Sink", ein tiefer, undurchsichtiger See. Irgend etwas Undefinierbares an diesem Gewässer fordert Vergeltung, frisst alles Lebende auf, und mit jeder Generation pflanzt sich das Böse fort und fort ...
Rätselhafte Gefahr geht von einem alten Spiegel aus dem 17. Jahrhundert aus. Auf dem Nachhauseweg von der Schule verschwindet der Junge Rainey spurlos, nachdem er wie jeden Tag seine Nase am Schaufenster einer Pfandleihe plattgedrückt hatte, um fasziniert in diesen Spiegel zu starren. Jahre zuvor war bei einem Autounfall eine Frau verstorben, die mit ihren letzten Atemzügen immer wieder rief: "Sie benutzt die Spiegel."
Neben diesem eigenartigen, mystischen Geschehen, das Carsten Stroud breit anlegt, gibt es im beschaulichen Niceville auch ganz normale Verbrechen wie zum Beispiel einen Banküberfall. Vier Polizisten nehmen sofort die Verfolgung der beiden Räuber auf, doch ein Ex-Cop, der mit den Gangstern Kasse machen möchte, erschießt seine Kollegen skrupellos mit einem Präzisionsgewehr.
Ein Mann verliert einen Sorgerechtsstreit vor Gericht, will sich für dieses erlittene Unrecht an der Gesellschaft rächen und verbreitet im Internet anonym pornografische Bilder; damit treibt er einen anderen zu einer amokartigen Geiselnahme mehrerer Kinder. Und so geschieht noch dies und das. Die wenigen Guten kann man an einer Hand abzählen, denn so gut wie jeder im netten Niceville hat Dreck am Stecken. Moralisch ist es recht trübe da, die Aufklärung hat den Ort noch nicht ganz erreicht, und passend dazu ziehen schwarze Krähenschwärme ihre Bahnen und verdüstern den Himmel symbolisch wie konkret.
Im Laufe des Bandes lernen wir wohl alle Einwohner, mit denen Stroud sein Städtchen bevölkert, namentlich kennen. Jedem Kapitel spendiert er eine Überschrift, die zunächst als harmloser Aussagesatz daherkommt, aber alsbald ihren Zynismus erkennen lässt. Die Handlungsorte wechseln am laufenden Band. Angesichts dieser Vielfalt erstaunt es, dass der Leser nicht den Faden verliert. Aber vielleicht behält er den Überblick auch nur dann problemlos, wenn er das Buch an einem Wochenende in einem Rutsch durchlesen kann. Ansonsten empfiehlt es sich, einen Spickzettel anzulegen – auch als Erinnerungsstütze für den nächsten Band zwölf Monate später ...
Ein Krimi der anderen Art. Ich bin kein Fan des Fantasy-Genres und erhoffe mir deshalb, dass die in diesem ersten Teil angelegten mystischen Elemente in den Fortsetzungen nicht überhand nehmen und uns in zwei Jahren ein überzeugender, logischer Schluss erwartet.
Also dann bis zum nächsten Jahr in "Niceville – die Rückkehr".