Lorenzo wird enttarnt
»Du und ich« ist der deutsche Titel des neuesten Romans »Io e te« (2010) von Niccolò Ammaniti. Der italienische Kultautor führt uns wieder in die Innen- und Außenwelt eines empfindsamen, intelligenten, nachdenklichen Vierzehnjährigen, der sich in einer schwierigen Lage bewähren muss. Lorenzo wächst in einer wohlhabenden bürgerlichen Familie in Rom auf: Mama betreibt eine Galerie, Papa ist ein wichtiger Geschäftsmann, den Haushalt führt Faktotum Nihal, man wohnt in einem Palazzo, den man der Gräfin Nunziante abgekauft hat, man hat Urlaubsdomizile auf Capri und in Cortina, und der Sohn besucht eine Privatschule. In diesem Umfeld hat Lorenzo eine umfassende Allgemeinbildung und einen guten Geschmack gewonnen, und er kann seine Mitmenschen und sich selbst analysieren.
Aber er isoliert sich. Deswegen machen sich seine Eltern um ihn und mit ihm Sorgen. Als er jünger war, heuerten sie Au-Pair-Mädchen an, damit er Gesellschaft habe, und sie ließen ihn psychiatrisch untersuchen. In der Tat hapert es mit seinem Selbstbewusstsein und seiner Akzeptanz durch Gleichaltrige: »Verzieh dich, du Bazille.« (S. 41) So will er vor allem seine Ruhe haben und beobachtet seine Mitschüler aus sicherer Distanz.
Eine Zeitlang versucht er es mit Mimikry – »... eine Fliege, die Wespen imitiert. [...] Sie tut nichts, sie ist harmlos. Doch als Wespe verkleidet wird sie von den Vögeln, den Eidechsen, sogar den Menschen gefürchtet. Sie kann ganz ruhig in Wespennester eindringen, die zu den gefährlichsten und bestbewachten Orten der Welt gehören, und niemand erkennt sie. [...] Das war es, was ich tun musste. Die Gefährlichsten imitieren.« (S. 42) – aber bald sieht er ein, dass er damit nicht zu sich selbst findet. Er sucht die Nähe der attraktiven Alessia Roncato und drei weiterer Mitschüler, die er wegen ihrer engen Freundschaft untereinander und ihrer arroganten Selbstsicherheit und Abgehobenheit bewundert. Lorenzos Mutter weint heimliche Tränen des Glücks, als er ihr eines Tages berichtet, dass Alessia ihn eingeladen hat, die Winterferien mit ihrer Familie in Cortina zu verbringen ...
Damit haben wir das erste Drittel des Buches genossen, und es sind lediglich die Grundlagen geschaffen für das, was kommen muss. Denn Lorenzo muss erfahren, dass die Welt noch ganz andere Seiten zu bieten hat. Im römischen Innenstadtverkehr kollidiert Mamas feiner BMW mit dem Außenspiegel eines Smart, und dessen derber Besitzer steigert sich, angeheizt durch seine robuste Beifahrerin, in übelste Schimpftiraden, bis die feine Dame gedemütigt auf dem Pflaster liegt.
Lorenzos wichtigste Partnerin im Kammerspiel dieses kleinen Romans tritt aber erst jetzt in die Handlung ein: Es ist Olivia, Lorenzos Halbschwester aus der ersten Ehe seines Vaters mit einer Mailänder Zahnärztin. Sie ist nicht nur neun Jahre älter, sondern hat ein erheblich ungeschützteres Leben hinter sich als ihr Halbbruder. Die Tiefen, die sie durchschritten hat, waren Lorenzo bis jetzt gänzlich unbekannt. Den bitteren Wahrheiten – über sie, über seine Eltern, über die Welt, über sich selbst – kann Lorenzo nicht ausweichen, denn so, wie er selbst diese Episode seines Lebens eingefädelt hat, sind die beiden gezwungen, sich aufeinander einzulassen, einander zu akzeptieren – und sich selbst.
Niccolò Ammaniti beherrscht zwei Kunststücke besonders gut: Erstens: Aus einem unscheinbaren Anfangsereignis – ein mehr oder weniger durchschnittlicher Erwachsener trifft auf einen anderen oder hat eine Idee, einen Plan, eine Obsession – entwickelt er einen Handlungsstrang, der mehr und mehr aus den Fugen gerät, sich ins Absurde steigert und am Ende womöglich alle Beteiligten (und Unbeteiligte) verschlingt [Fort von hier (»Ti prendo e ti porto via«, 1999); »Che la festa cominci« (2009; lesen Sie hier meine Rezension der italienischen Originalausgabe)]. Zweitens: Er manövriert einen Heranwachsenden in eine Lage, in der er ganz unerwartet mit den wesentlichen Dingen des Lebens konfrontiert wird, damit fertig werden muss und daran wächst [Ich habe keine Angst (»Io non ho paura«, 2001); Wie es Gott gefällt (»Come Dio comanda«, 2006; lesen Sie hier meine Rezension der italienischen Originalausgabe)); Du und ich (»Io e te«, 2010)]. Beide Modelle gestaltet Ammaniti, obwohl ihre Plots auf der Realismus-Skala weit auseinander liegen, überzeugend und äußerst erfolgreich – Beweis für seine wahre Qualität. Seine Bücher – beide Modelle – sind außerdem unterhaltsam, packend, witzig und trocken-realistisch erzählt, was für ungetrübten Lesespaß sorgt. Die Dialoge sind knapp, die Episoden pointiert, Situationen und Sprache sind mitten aus dem italienischen Alltagsleben gegriffen. Tiefschürfende Reflexionen, bedeutungsschwangere Andeutungen, ausschweifende Schilderungen sucht man vergeblich. Und doch überrascht jedes einzelne Buch den Leser durch seinen eigenständigen Charakter.
Thematisch ist »Du und ich« in diesem Kontext eher besinnlich, am Ende anrührend, aber dennoch – falls das denn ein Gegensatz ist – eine unterhaltsame Lektüre.
Nachtrag vom 22.11.2013: Altmeister Bernardo Bertolucci (»Der letzte Tango in Paris«, »1900«, »Der letzte Kaiser«) hat den Roman verfilmt; bei den Filmfestspielen in Cannes 2012 wurde das Werk außer Konkurrenz vorgestellt. Jetzt kommt »Ich und du« [sic!] in unsere Kinos.