Ein letzter Sommer in Méjean
von Cay Rademacher
Fünf Freunde werden anonym nach Südfrankreich zitiert, wo drei Jahrzehnte zuvor der Sechste im Bunde auf nie geklärte Weise ums Leben gekommen war. Auch die Polizei ist interessiert, ob es neue Spuren gibt.
Ein slow-food-Krimi
An einem Tag im Sommer 2014 erhalten fünf Personen eine briefliche Aufforderung, umgehend nach Südfrankreich zu reisen. Die ohne Nennung des Absenders versandten, aber individuell ansprechenden Botschaften sind mit einer derart unwiderstehlichen Sogkraft formuliert, dass alle Empfänger, obgleich jede/r von ihnen mitten im Leben steht, alles liegen und stehen lassen und sich auf den Weg machen.
Das gemeinsame Ziel der fünf Frauen und Männer ist Méjean, ein malerisches Dörfchen an der zerklüfteten Felsenküste wenige Kilometer westlich von Marseille. Sie kennen den Ort gut, denn genau dreißig Jahre zuvor waren sie schon einmal zusammen hier. Ihr Mitschüler Michael Schiller hatte sie alle großzügig in das elterliche Ferienhaus eingeladen und dazu auch den BMW seiner Familie zur Verfügung gestellt, damit sie, ehe der Ernst des Lebens sie in Beschlag nehmen würde, zwei Wochen lang ihr bestandenes Abitur gehörig nachfeiern konnten. Doch die Tage im Paradies endeten in einem Albtraum, als Michael in der nahen Bucht tot aufgefunden wurde. Die Polizei stellte Kopfverletzungen fest, verhörte die jungen Deutschen, suchte Zeugen. Im Ergebnis der Ermittlungen konnte Fremdverschulden nicht ganz ausgeschlossen werden, aber ein Täter wurde nicht identifiziert. In den vielen folgenden Jahren musste jeder der fünf Menschen seinen eigenen Modus finden, um mit seinem Trauma fertigzuwerden. Man ging sich aus dem Weg und sprach niemals über das Geschehen, das jeder irgendwie anders erlebt hatte.
Wie ist es da möglich, dass nach drei Jahrzehnten jemand andeutet, es gebe eine neue Spur zum möglichen Mörder? Gleichzeitig mit den anonymen Einladungen an die fünf Schulfreunde ist ein Schreiben mit dieser Anspielung aus Deutschland im zuständigen Kommissariat von Marseille eingegangen. Luc, der Chef der Police judiciaire, weiß, wem er diesen uralten Cold Case zuschieben sollte: Commissaire Marc-Antoine Renard, ein »Bluthund« und Einzelkämpfer, der überdies einigermaßen deutsch spricht, kehrt gerade nach krankheitsbedingter viermonatiger Auszeit in den Dienst zurück und soll sich lieber noch etwas erholen. Eine verstaubte Akte und ein geruhsames Küstendorf sind für ihn allemal besser als der brutale Alltag im Hafenmoloch Marseille.
So reist Renard mit seinem alten, verbeulten Clio nach Méjean und bezieht ganz unauffällig eins der wenigen Zimmer, die Serge, der sechzigjährige Patron des Restaurants, das er schon damals führte, anbietet. Renard, von der Krankheit klapperdürr und immer etwas deprimiert dreinschauend, gibt sich nicht als Commissaire zu erkennen, aber dem cleveren Serge, Typ braungebrannter, kumpelhafter Surfer, genügt ein Seitenblick, um in der Brieftasche den Dienstausweis zu erspähen, und schon macht er sich seinen Reim auf die Ankunft eines Flic, just nachdem ein paar Stunden zuvor schon die gealterte deutsche Clique von 1984 im Ferienhaus der Familie Schiller eingezogen war. Schnell spricht sich im Dorf herum, wer da alles eingetrudelt ist, und um Ärger zu vermeiden, stellt man sich darauf ein, manche Beobachtung und vage Schlussfolgerung von damals lieber für sich zu behalten.
Zu Beginn seines Frankreich-Krimis stellt Cay Rademacher jede Person, die später für Renards Nachforschungen bedeutsam wird, unabhängig von den anderen in ihrer heutigen Situation vor. Der weitere Verlauf des Romans folgt einer naheliegenden Struktur. Kapitel, die Renards Ermittlungen in der Jetztzeit erzählen, wechseln mit denen, die (durch Kursivdruck abgesetzt) aus verschiedenen Perspektiven schildern, was sich dreißig Jahre zuvor, im »Orwell-Jahr« 1984, ereignet hat. Das erste von diesen beginnt damit, wie Michael für seine Freunde die Tür des Ferienhauses in Méjean aufschließt, »ironisch lächelnd und gleichzeitig ein wenig stolz«.
»Ein letzter Sommer in Méjean« folgt glaubwürdig und nachvollziehbar einem Kriminalplot, der bisweilen einem Irrgarten gleicht und mit einer gänzlich unerwarteten Lösung abschließt. Vor allem aber ist dies eine genüssliche, sprachlich wohltuend niveauvolle Sommerlektüre, die intensive Südfrankreich-Atmosphäre verbreitet und sogar als regionaler Reisebegleiter fungieren kann. Renard, der behutsame Protagonist, erobert das Terrain (im übertragenen wie im konkreten Sinne) auf leisen Sohlen. En détail beschreibt der Erzähler die Steilküste der Côte Bleue mit ihren Calanques (tief eingeschnittene Schluchten zum Meer hin). Auf steinigen Pfaden, die sich oberhalb versteckt liegender kleiner Buchten hinschlängeln, läuft dem Ermittler bei flirrender Hitze ganz zufällig die oder der eine oder andere Deutsche über den Weg, die ihm aus den Akten bekannt sind. Man kommt ins Plaudern, und indem sich zaghaft die Zungen lösen, kristallisiert sich heraus, dass es im Gebälk der scheinbar harmonischen Clique damals gehörig knisterte. Die markanten Unterschiede zwischen den jungen Leuten – familiärer Hintergrund, Aussehen, Talent, Abi-Schnitt, Genialität, Ausstrahlung –, dazu erhoffte, realisierte oder enttäuschte Liebesbeziehungen boten genug Gründe für Missgunst und Eifersucht und für Geheimnisse, die jede/r viele Jahre lang still bei sich verborgen hielt. Nun treibt jemand ein Spiel mit ihrem Gewissen, und alle sind gekommen und warten besorgt ab, was passiert.
Ein spannungsknisternder Knüllerkrimi ist dies nicht. Neben dem attraktiven setting und der gepflegten Sprache sind es die sorgfältig differenzierten Charakterstudien, die das Buch lesenswert machen. Die Recherchen laufen geruhsam nach klassischer Art ab: In Einzelgesprächen erfährt Renard dies und das, wägt das Gehörte sorgfältig ab, ob sich daraus ein Motiv für einen Totschlag zusammensetzen lässt, und muss doch immer wieder bei Null anfangen. Wenn er mit Serge, den Fischern und den Nachbarn plaudert, versucht er kleine Puzzlesteinchen herauszuhören, die die vielen Lücken in seinem Profilbild schließen könnten. Aber seine vielen Gesprächspartner sind aus den unterschiedlichsten Gründen auf Verschwiegenheit bedacht.