Rezension zu »Wo man im Meer nicht mehr stehen kann« von Fabio Genovesi

Wo man im Meer nicht mehr stehen kann

von


Fabio wächst unter seinen Onkeln auf – zehn schrullige alte Männer, die sich alle um ihn reißen und ihm familiäres Urvertrauen einflößen. Das wappnet ihn gegen die schlimmeren Seiten der Welt, die er kennenlernt, als er in die Schule kommt und als sein Vater später tragisch verunglückt. An dessen Krankenbett eröffnet sich ihm der Zauber des Geschichtenerzählens.
Belletristik · Bertelsmann · · 416 S. · ISBN 9783570103494
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Toskana, Umbrien, Marken

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Worte wirken Wunder

Rezension vom 20.08.2019 · 1 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Fabio ist ein glückliches Kind. Er wächst in der Versilia, dem Küsten­streifen der nord­west­lichen Toskana auf, umhegt von Mama Rita, Papa Giorgio und Oma Giuseppina. Opa Arolando ist verstorben, doch dessen zehn Brüder, alle unver­heira­tet und höchst vital, tragen auch alle diesen Ehrentitel und überer­füllen die Opa-Funktionen ums Zehnfache. Nie hat ihr einziger Enkel Zeit für sich allein, denn täglich streiten die Alten, zu welchem von ihnen er darf und wie lange. Ein jeder ist begierig darauf, etwas Einzig­artiges mit ihm zu unternehmen (nicht zuletzt, um die anderen Brüder auszu­stechen) und ihm das Erwach­senen­leben nach seiner ganz eigenen Façon beizu­bringen. Da sämtliche Opa-Onkel ausgeprägte Charakter­köpfe mit allerlei Schrullen und Launen sind, geht nicht alles, was sie mit dem Knaben einfädeln, als vorbild­liches Verhalten durch. Liebenswert sind die Herren auf ihre Weise allemal – und Fabios Abenteuer mit ihnen sind höchst amüsant zu lesen.

Originalausgabe:
»Il mare dove non si tocca«
(2017, Mondadori)
Fabio Genovesi: »Il mare dove non si tocca« auf Bücher Rezensionen
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Unter so vielen Herausforderungen und Fürsorge lebt Fabio wie in einer Zauberwelt hinter den sieben Bergen. Papa Giorgio, Installa­teur und handwerk­licher Alleskönner, hätte zwar gern mehr Zeit für seinen geliebten kleinen Sohn, müsste dazu aber seine »Mission« einschrän­ken: in fremden Haushalten Notfälle zu lösen und Katas­trophen vorzubeugen. Fabio hält ihn überdies für einen Schlager­star, seit er ihn in einer Oldie-Fernsehshow identifi­ziert hat. Die schöne Illusion wollte Mama ihrem Kind nicht zerstören, obwohl Giorgio keineswegs »Little Tony« ist, sondern dem attraktiven Schlager­sänger als junger Mann nur verblüffend ähnlich sah. Sie zerstreut sogar Fabios eigene Zweifel (denn Papa ist immer so wortkarg) mit der Mär, er bereite ein ganz großes Comeback vor und schone dafür seine Stimme.

Giorgio erzählt seinem Sohn gern von den armen Zeiten seiner eigenen Kindheit, als er den Großeltern bei der Feldarbeit half. Da gab es keinen Lohn und nicht einmal zum Geburtstag eine heiß ersehnte Kugel Vanilleeis, sondern nur ein rotes Geschenk­band mit einem Glückwunsch drauf. Stolz versetzt Giorgio sich und Fabio in seine Fantasie­welt und bindet sich das rote Band um die Stirn wie ein Indianer.

Einen Wendepunkt erlebt Fabio mit dem Eintritt in die Schule. Bis dahin verbrachte er seine Tage im Kokon seiner Familie. Nun muss er feststellen, dass es außerhalb dieses Schutzraums eine andere Welt, ja sogar andere Kinder seines Alters gibt, und er fühlt sich wie ein »Raumfahrer« auf »Weltraum­mission«, der zwischen lauter kleinen »Außer­irdischen« gelandet ist. Die haben keine Ahnung, wie man einen Karpfen fängt, noch von all dem anderen, das er von seinen Opas gelernt hat, spielen dafür aber komische Spiele, wuseln nach absurden Regeln herum, tuscheln geheimnis­volle Wörter (was mag wohl der »Lattenwald« sein, wo sie sich treffen?) und behaupten wider­sinnige Dinge, zum Beispiel, dass jedes Kind höchstens zwei Opas haben kann. Fabio muss sich damit abfinden, dass ihm seine Familie diesen und weitere Sachver­halte bisher verheim­licht hat, wie auch den beunruhi­genden Fluch, der seit Urzeiten auf allen unver­heira­teten Männern seiner Sippe lasten soll.

Mit seinen unkonventionellen Gepflogenheiten bleibt Fabio ein Außenseiter, ein ›Alien‹ unter den Gleich­altrigen, mit dem man nicht spielt und den man nicht zum Geburtstag einlädt. Zur Schule muss er trotzdem gehen, denn Mama hat ihm erklärt, die Carabinieri würden ihn sonst ins Gefängnis stecken, und das sei der Schule ziemlich ähnlich. Vernichtend ist die Kritik der Opas an der Schule und insbeson­dere an weltfremden Hausauf­gaben vom Typ ›Der Fuchs stiehlt einem Bauern fünf Hühner …‹. Sie formulieren nicht nur drastisch ihre Meinung (»So ein Scheiß«), sondern schreiten sogar zur Tat, um, Zigarette im Mundwinkel, den Schul­kindern das wahre Leben beizu­bringen – wie also ein Bauer, der kein Idiot wie der in der Mathe­aufgabe sein will, einen richtigen Hühnerstall baut.

Neben der Schule prägen zwei einschneidende Ereignisse Fabios Wesen. Mit acht lernt er, »wo man im Meer nicht mehr stehen kann«, not­gedrun­gen schwimmen. Sein Vater ist mit ihm zum Angeln weit hinaus gerudert. Fabio hat Angst vor der Kälte, »vor dem, was da unten alles ist«, als ihn plötzlich eine »fürchter­liche Kraft« an den Schultern packt, in die Luft wirbelt und ins Wasser schleudert, wo er unter Todesangst in bodenlose Abgründe versinkt. In der Gewissheit, dass sein Sohn kämpfen, auftauchen und mit gestärktem Selbstver­trauen an Bord kommen werde, schaut ihm Giorgio, in aller Ruhe seine Zigarette rauchend, vom Boot aus zu.

Eben solches Grundvertrauen in sich und die Welt beweist Fabio, als Giorgio nach einem schlimmen Unfall ins Koma sinkt. Während die Prognosen der Ärzte keine Hoffnung zulassen, kämpft sein kleiner Sohn Jahre lang auf ganz eigene Weise darum, dass sein Vater wieder zu Bewusstsein kommt. Täglich trägt ihm Fabio, der inzwischen zwölf Jahre alt wird, im Krankenhaus Geschichten vor, selbst erlebte und selbst erfundene, und tatsächlich befreien sie Giorgio auf wunderbare Weise schließlich aus seiner Erstarrung.

Dass dieser Roman autobiografische Züge hat, ahnt man nicht nur aus der Tatsache, dass Protagonist und Autor gleiche Vornamen haben. Fabio Genovesi wurde wie sein junger Held 1974 in der Versilia in einfachen Verhält­nissen geboren, hatte ein Dutzend Großonkel und wohl eine ermutigende, glückliche Kindheit. Bis er mit der Schrift­stellerei Erfolge feierte (siehe Buchliste unten), schlug er sich mit unter­schied­lichsten Jobs durch. Noch immer lebt er in Forte dei Marmi, wo er aufwuchs, seine Arbeitstage an einem Tisch am Strand verbringt und seine Texte händisch in einen Notizblock schreibt. Dabei schöpft er nach eigenem Bekunden spontan aus dem reichen Fundus seiner Erlebnisse, seiner Beobach­tungen und seiner Fantasie.

Genovesis literarisches Talent zeichnet sich durch Leichtig­keit und vollkommen unge­zwun­gene Erzähl­freude aus. Mit Fantasie und Humor umspielt seine Geschichte das im Kern tragische Schicksal von Fabios Vater. Der Autor schreibt unver­fälscht, wie absichtslos nieder, was seinem kindlich-naiven Protago­nisten widerfährt und durch den Kopf geht. Fabio ist immer auf­geschlos­sen für die Parallel­welten um ihn herum und reagiert auf die nicht selten wider­sprüch­lichen, zunächst oft rätsel­haften Eindrücke mit einer Bandbreite starker Gefühle, die Genovesi in einer intensiven Ich-Perspektive einfühlsam und poetisch in Worte fasst. Dieser frische Erzählstil bewirkt ein wunderbares Lese­erleb­nis mit wechselnden Stimmungen – mal sind wir amüsiert, mal traurig, mal verstört, mal gerührt, mal entsetzt, mal belustigt, mal erstaunt – ein Wechselbad, wie es Fabio selbst durchlebt. Im stürmischen Meer der Erwachsenen (ins­beson­dere seiner chaotischen Onkel-Opas) wie in der schwer zugäng­lichen, dunklen Welt seiner Klassen­kamera­den wird der Junge hin und her geworfen und ist doch gleich einer Boje fest vertäut, so dass er keinen Schaden nehmen kann. Mit der titel­geben­den drastischen Episode schafft der Autor eine kraftvolle Metapher für die Kernaussage seines Romans, dass Vertrauen in sich selbst und ein Grundver­trauen in das Leben Stärke verleihen. Fabio bekommt beides auf unkon­ventio­nelle Weise vermittelt, erwirbt dadurch aber auch das Bewusstsein, dass Indi­vidua­lität und Anders­artig­keit seine Stärken sind.

Fabio Genovesis Roman ist einfach nur schön – frei von Kitsch und Sentimen­talität. »Il mare dove non si tocca« wurde 2018 ver­dienter­maßen mit dem »Premio Viareggio« aus­gezeich­net. Einfühlsam übersetzt von Mirjam Bitter, ist »Wo man im Meer nicht mehr stehen kann« sicher einer der lesens­wertes­ten Romane dieses Sommers. Deswegen habe ich ihn in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2019 aufgenommen.


Die wichtigsten Bücher von Fabio Genovesi:

• »Versilia rock city« (2008) Fabio Genovesi: »Versilia rock city« bei Amazon
• »Esche vive« (2011) Fabio Genovesi: »Esche vive« bei Amazon – »Fische füttern« (2012) Fabio Genovesi: »Fische füttern« bei Amazon
• »Morte dei Marmi« (2012) Fabio Genovesi: »Morte dei Marmi« bei Amazon
• »Tutti primi sul traguardo del mio cuore« (2013) Fabio Genovesi: »Tutti primi sul traguardo del mio cuore« bei Amazon
• »Chi manda le onde« (2015) Fabio Genovesi: »Chi manda le onde« bei Amazon – »Der Sommer, in dem wir das Leben neu erfanden« (2016) Fabio Genovesi: »Der Sommer, in dem wir das Leben neu erfanden« bei Amazon
• »Il mare dove non si tocca« (2017) Fabio Genovesi: »Il mare dove non si tocca« bei Amazon – »Wo man im Meer nicht mehr stehen kann« (2019) Fabio Genovesi: »Wo man im Meer nicht mehr stehen kann« bei Amazon


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Kommentare

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Zu »Wo man im Meer nicht mehr stehen kann« von Fabio Genovesi wurden 1 Kommentare verfasst:

imelda schrieb am 27.09.2019:

Ein wunderbar "naives" Buch. Sehr spannend. Man muß Fabio einfach gern haben.

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