Rezension zu »Der Schieber« von Cay Rademacher

Der Schieber

von


Historischer Kriminalroman · Dumont · · Gebunden · 348 S. · ISBN 9783832196875
Sprache: de · Herkunft: de

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Haben Sie einen Glimmstengel?

Rezension vom 06.12.2012 · 6 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

1947 – der Krieg ist vorbei, aber Hamburg ist wahrlich keine freie Hansestadt. Zwar wird sie seit einem Jahr von dem deutschen Bürgermeister Max Brauer (SPD) regiert, aber die oberste Autorität in der Stadt ist der englische Generalgouverneur Vaughan Berry. Es gibt Sperrgebiete, wie große Teile des Hamburger Hafens, wo die Tommies alles, was nicht niet- und nagelfest ist, abbauen, um es nach Großbritannien zu schaffen. Sie sehen sich damit im Recht, denn noch brauchbare Maschinen und gigantische Mengen an Rohstoffen wie Stahl sind nur ein kleiner Teil der Reparationen, die die Kriegsaggressoren der Siegermacht schulden. Die aufgebrachten Hafenarbeiter bei Blohm & Voss, der größten Werft, sehen dahinter allerdings eine ganz andere Intention: Ein Top-Konkurrent soll ausgeschaltet werden.

Von Samstag bis Montag gilt ein Fahrverbot für Autos, und wer sich an den anderen Tagen weiter als 80 km von der Stadtgrenze entfernen möchte, braucht eine Genehmigung der Militärverwaltung. Englische Jeeps und deutsche Schupos zu Fuß oder per Rad patrouillieren durch die Ruinen der Stadt, um in diesem Chaos ein wenig Ordnung zu schaffen: Bei den Bombardierungen im Sommer 1943 wurde über die Hälfte des Wohnungsbestandes zerstört. Überleben geht hier einfacher, wenn man das Recht ganz individuell für sich auslegt …

Der Schwarzmarkt blüht; bevorzugtes Zahlungsmittel sind amerikanische Zigaretten. Zwischen vielen Amateuren und Profis versuchen auch Kinder, die ihre Familienangehörigen verloren haben und sich ganz selbst überlassen sind, ihr Glück. In lebensgefährlichen Aktionen klauen sie Kohlen von den Zügen, die kurz vor Morgengrauen in den Hamburger Bahnhof einrollen. Wer sich nicht in eine Gang einordnen und von einem kleinen Möchtegern-Boss kommandieren lassen möchte, hat es als Einzelkämpfer umso schwerer.

Der vierzehnjährige Adolf Winkelmann ist so einer – fest entschlossen, sein eigenes Ding durchzuziehen und fett Schotter zu machen. Er vertickert Tonbänder, aber dieses zukunftsträchtige Geschäft will sich ein ganz hohes Tier nicht nehmen lassen. In einer Blohm-&-Voss-Halle wird der Junge blutüberströmt auf einer Fliegerbombe liegend aufgefunden – tot.

Die Ermittlung wird an Kriminalkommissar Frank Stave übergeben. Bei seinen Recherchen erfährt er nicht viel; die Aufklärung erweist sich als mühselig. Der Junge lebte überwiegend als Rumtreiber, niemand wusste so recht, wo er gerade steckte. Bei den Kohle klauenden Jungen von den Bahngleisen war er eher selten. Manchmal kam er bei seiner Tante, einer Fuhrunternehmerin, und ihrem Lebensgefährten, einem Boxpromoter, unter. Jemand hat auf dem Schwarzmarkt beobachtet, wie Adolf Eintrittskarten zu Boxwettkämpfen verkaufte. Einzig ein Mädchen will sich für den Kommissar umhören. Sie ist als "Wolfskind" aus Ostpreußen geflohen und verdient sich ein paar Glimmstengel gegen Liebesdienste; unter den vielen Waisenkindern der Stadt ist sie der Abschaum schlechthin.

In Cay Rademachers Kriminalroman "Der Schieber" stehen das Verbrechen und die Aufklärung des Mordes an Adolf gar nicht so sehr im Mittelpunkt. Vielmehr beschreibt der Autor geradezu detailversessen seine kriegsversehrte Stadt, ihre Menschen, ihre besonderen Lebensbedingungen. Kaum ein Stein steht mehr auf dem anderen, die Menschen hausen mehr recht als schlecht in Löchern oder Wohnungsresten. Zu den Glücklichen kann sich zählen, wer Verbindungen hat oder auf dem Schwarzmarkt verhökern kann, was die Tommies als Deutschgut mitnehmen wollen.

Dass sich in Hamburg obendrein über tausend verwaiste Kinder herumtrieben, ist ein sehr trauriges Kapitel. Zu solchen DPs (displaced persons) gehörten auch die "Wolfskinder", die bei der Flucht aus den östlichen Reichsteilen von ihren Eltern getrennt wurden und dann über Monate, teils jahrelang durch Wälder, Felder und leergefegte Gegenden irrten, sich in alleinstehenden Gehöften versteckten und von dem ernährten, was sie fanden, bis sie schließlich im Westen ankamen. Doch auch dort mussten sie weiterhin ums nackte Überleben kämpfen, wenn sie nicht in einem Heim untergebracht wurden.

Der Hamburger Cay Rademacher ist Redakteur bei GEO Epoche; er beherrscht sein Geschäft und hat bestens recherchiert, um uns in ein noch nicht so fernes, aber schon fast vergessenes historisches Zeitkolorit eintauchen zu lassen. Wie in einem Schwarz-Weiß-Film lebt die ruinierte Stadt Hamburg vor unseren Augen auf. Der tägliche Überlebenskampf, das Sich-Arrangieren mit der Not, der Zugriff auf alles, was sich anbietet, auch wenn die Vorschriften dagegen sprechen – wir erleben eine beklemmende Atmosphäre. Schön ist sein reiches Vokabular, geprägt vom Dialekt ("Ketelklopper", "Brennhexe") und von Fachbegriffen rund um den Hafen, die Schiffe, Werften und Arbeitsabläufe. All das zusammen sorgt für dichte Authentizität.


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